Eckpfeiler der Demokratie: Die Sozialstaat-Story

ÖGB-Block bei der EGB-Demo für ein soziales Europa in Brüssel 2006. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.
Er ist keine Staatscaritas. Der Sozialstaat ist ein Demokratieprojekt. Sein Ziel ist eine gerechtere Gesellschaft mit weniger Ungleichheit und die Chance auf Mitbestimmung nicht nur bei Wahlen. Das führt oft zu starkem Gegenwind, aber auch zu bedeutenden Fortschritten.
Sozial“ bedeutet „gesellschaftlich“, der Sozialstaat ist eine Organisationsform der Gesellschaft. Sein Ziel: Ein gutes Leben für alle und mehr Demokratie, in der die gleichberechtigte Mitbestimmung der Nicht-Privilegierten auch in der Wirtschaft möglich ist. Bis zu diesem Ziel liegt noch ein sehr langer Weg vor uns, wir sind gerade erst ein paar Meter gegangen und die Wahl von Betriebsräten gehört zu diesen Anfangsschritten. Vor allem gehört dazu, dass alle Menschen genug Lebensgrundlagen, Zeit und Durchblick haben, um sich „von unten auf“ zu organisieren, nicht von oben organisiert zu werden. So in etwa können die Kernaussagen der Rede über den Sozialstaat zusammengefasst werden, die Bundespräsident Karl Renner den Delegierten des ersten Kongresses des Österreichischen Gewerkschaftsbunds im Frühjahr 1948 mitgab. Renner, Gründungskanzler der Ersten und der Zweiten Republik und erster Bundespräsident der Zweiten, starb Ende 1950. Seine Rede zum Sozialstaat ist so etwas wie sein Vermächtnis zum Wiederaufbau der österreichischen Demokratie.

Karl Renner als Redner beim ersten ÖGB-Kongress. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.

Delegierte beim ersten ÖGB-Kongress. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.

Auf den Punkt gebracht, heißt die Renner-Formel: Der Sozialstaat ist Wohlfahrtsstaat plus Mitbestimmung „von unten auf“ in allen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft.

Auf den Punkt gebracht, heißt die Renner-Formel:
Der Sozialstaat ist Wohlfahrtsstaat plus Mitbestimmung „von unten auf“
in allen Bereichen von Gesellschaft und Wirtschaft.

Demokratie und Sozialstaat – von Anfang an untrennbar

Die Forderung nach Demokratie und die Forderung nach mehr sozialer Gerechtigkeit waren von Anfang an eng miteinander verbunden und schon in den ältesten Demokratieprojekten zu finden. Das gilt für die „Tiroler Landordnung“ der aufständischen Bauern und Bergleute im 16. Jahrhundert ebenso wie für die „Wiener Jakobiner“ zur Zeit der Französischen Revolution.

Der Jurist Michael Gaismair war Verwalter der Güter des Bischofs von Brixen. Er stellte sich an die Spitze der Bergleute und Bauern in Tirol und Salzburg, die 1525/26 für Religionsfreiheit und eine sozial gerechte Gesellschaft kämpften. Die „Landordnung“, die von ihm ausgearbeitete republikanische Verfassung, ist das älteste österreichische Demokratiedokument. Sie sah unter anderem vor: Bergarbeiter und Bauern in die Regierung, Landverteilung, Verstaatlichung von Bergwerken und Handel und Lohn in Bargeld. Das Wahlrecht sollte nicht vom Einkommen abhängen. Der Aufstand scheiterte, die „Landordnung“ trat nie in Kraft und war auch im 20. Jahrhundert noch lange vergessen. Tirols Herrscher Erzherzog Ferdinand, ließ den „Hochverräter“, der dann im Exil in Padua lebte, von bezahlten Killern ermorden.

Poster zu den Dreharbeiten für die Filmdokumentation „Michael Gaismair. Vom Reformer zum Rebellen“.Die „Wiener Jakobiner“ waren eine Gruppe österreichischer Intellektueller, die Ideen der Französischen Revolution und der Aufklärung vertraten. Unter ihnen der Offizier Franz Hebenstreit von Streitenfeld und Baron Andreas Riedel, der Erzieher des späteren Kaisers Franz I. Sie propagierten eine demokratische Republik mit einem Wahlrecht unabhängig vom Einkommen. Hebenstreit hatte darüber hinaus schon so etwas wie einen voll ausgebauten Sozialstaat mit guten Lebensgrundlagen und gleichen Chancen für alle zum Ziel. Er endete am Galgen, nachdem die Verschwörung aufgeflogen war. Seinem ehemaligen Lehrer Andreas Riedel ersparte der Kaiser zwar dieses Schicksal, nicht aber eine einjährige Haft in der Festung Kufstein, dem damaligen Staatsgefängnis, das in erster Linie Gegnern des kaiserlichen Absolutismus vorbehalten war. Nach seiner Entlassung ging Andreas Riedel ins Exil und starb hochbetagt in Frankreich.

Flugblatt mit Zeichnung von der Hinrichtung Hebenstreits.

Foto der Festung Kufstein.

Ein langer Weg bis zum Sozialstaat

Während der Revolution von 1848 forderten die „Habenichtse“ und damit die große Masse der Bevölkerung erstmals auch in Österreich die Anerkennung ihrer politischen Gleichwertigkeit, bessere Lebens- und Arbeitsbedingungen und so etwas wie das Recht auf Arbeit. Im Schwur der Wiener Arbeiter:innen vor dem Riesentor des Stephansdoms hieß es: „Ihr nennt und Gesindel, wir nennen uns von jetzt an Bürger.“

Schwur der Wiener Arbeiter:innen vor dem Riesentor.In Großbritannien und Frankreich hatte die Organisation der Arbeiter:innen schon Jahrzehnte früher begonnen, aber überall setzten sich neben der alten Adelsherrschaft noch ausschließlich die Interessen der neuen gesellschaftlichen Elite, des besitzenden Bürgertums, durch. Das Wahlrecht war zumeist noch lange daran gebunden, ob man genug verdiente, um steuerpflichtig zu sein, und Arbeiter:innenorganisationen im Namen der Wirtschaftsfreiheit heftig bekämpft. Trotzdem ließen sich die Veränderungen in Richtung Wohlfahrtsstaat und mehr Demokratie nicht mehr ganz aufhalten. Der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Piketty, bekannt für seine vergleichenden Langzeituntersuchungen, fasste diese Entwicklung 2020 prägnant zusammen:

„Es gab massive Veränderungen in den Strukturen, was Armut und Ungleichheit angeht, vor allem nach 1945, besonders weil Gruppen und Bewegungen wie zum Beispiel die sozialdemokratischen Parteien, die sozialistischen Parteien, die Gewerkschaften und so weiter schon im 19., manche bereits im 18. Jahrhundert, begonnen hatten, diese Prozesse in Gang zu setzen. Ich nenne … eine ganze Reihe progressiver Steuerungssysteme, schon in der Französischen Revolution. Und diese progressiven Steuerungssysteme – wie Sozialversicherung und kostenlose Bildung für alle – waren Aktionsplattformen, die zum Beispiel von den Gewerkschaftsbewegungen massiv genutzt und weitergetragen wurden.“

Diese progressiven Steuerungssysteme – wie Sozialversicherung und kostenlose Bildung für alle – waren Aktionsplattformen, die zum Beispiel von den Gewerkschaftsbewegungen massiv genutzt und weitergetragen wurden. 

Thomas Piketty, 2020

Poster zur AK/ÖGB-Ausstellung „Hundert Jahre Aufstieg einer Klasse“. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.

1918: Recht freier Bürger:innen

Mit der Gründung der demokratischen Republik 1918, deren „Recht vom Volk ausgeht“, bestanden erstmals in der österreichischen Geschichte die Voraussetzungen, den Weg zum Sozialstaat einzuschlagen. Die Sozialoffensive der Republikgründungsjahre, die untrennbar mit dem Namen des Gewerkschafters Ferdinand Hanusch als Staatssekretär für Soziales verbunden ist, bezog nicht nur so viele Menschen wie möglich in das soziale Netz ein, sondern machte sie zu Leistungsberechtigten. Aus staatlicher Gnade wurde das Recht freier Bürger:innen.

Portrait Ferdinand Hanusch mit Zitat. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.Das im Gesellschafts- und Wirtschaftsmuseum (GWM) unter der Leitung des Wirtschaftswissenschaftlers und Volksbildners Otto Neurath um 1928 gestaltete Schaubild zeigt den Riesenschritt, den die republikanische Sozialoffensive bedeutete.

Schaubild über die Entwicklung der Sozialpolitik bis 1927.

Volk und Staat neu denken

Aber, diesen Gesichtspunkt betonte Karl Renner besonders, ein funktionierender Wohlfahrtsstaat allein ist eben noch kein Sozialstaat. Einen Wohlfahrtsstaat für das „eigene Volk“ anbieten, das könne auch eine Diktatur oder ein autoritäres Regime. Als der erste ÖGB-Kongress tagte, waren ja erst drei Jahre vergangen, seit Hitler in seinem nationalsozialistischen „Dritten Reich“ den Beweis dafür geliefert hatte. Der Sozialstaat sei dagegen, so der Bundespräsident, immer ein Rechtsstaat und ein Staat, der die Mitbestimmung auf allen Ebenen fördert.

Voraussetzung für das Gelingen eines solchen Projekts ist eine neue Rolle, die dem Staat in der Demokratie zukommt, und dass der Begriff „Volk“, wie er in demokratischen Verfassungen verwendet wird, alle in der Gesellschaft lebenden Menschen einschließt. In Deutschland und Österreich wird „Volk“ heute meistens rassistisch oder nationalistisch verstanden, im besten Fall als „Staatsvolk“, also Staatsbürger:innen. Ursprünglich verstand man unter „Volk“ aber alle, die allein nicht genug Macht und Einfluss haben, damit ihre Interessen berücksichtigt werden, die aber das Zusammenleben in der Gesellschaft und Macht und Reichtum der Wenigen erst ermöglichen, „die Vielen“, wie wir im 21. Jahrhundert sagen würden.

Ursprünglich verstand man unter „Volk“ alle,
die allein nicht genug Macht und Einfluss haben,
damit ihre Interessen berücksichtigt werden –
„die Vielen“, wie wir im 21. Jahrhundert sagen würden.

„Die Vielen“ im Sozialstaat

In anderen Sprachen hat „Volk“ noch immer die Bedeutung, dass „die Vielen“ dazugehören, etwa „el pueblo“ im Spanischen oder „the people“ im Englischen. In der frühen ArbeiterInnenbewegung wurde „Volk“ auch im Deutschen so verstanden. Im „Bundeslied“ aus den 1860er Jahren heißt es zum Beispiel:

Und du ackerst und du säst/ und du nietest und du nähst.

Und du hämmerst und du spinnst,/ sag, o Volk, was du gewinnst!

Wirkst am Webstuhl Tag und Nacht,/ schürfst im Erz- und Kohlenschacht,

füllst des Überflusses Horn,/ füllst es hoch mit Wein und Korn.

Alles ist dein Werk! O sprich,/ alles, aber nichts für dich!

Und von allem nur allein,/ die du schmiedst, die Kette, dein!

Kette, die den Leib umstrickt,/ die dem Geist die Flügel knickt,

die am Fuß des Kindes schon/ klirrt – o Volk, das ist dein Lohn!

Spätes Recht

Wenn die österreichische Verfassung festlegt, dass das Recht „vom Volk ausgeht“, ist damit gemeint, dass in der demokratischen Republik niemand mehr vom Recht auf Mitbestimmung ausgeschlossen werden soll. Karl Renner führte als Beispiel für Mitbestimmung in der Wirtschaft das Recht auf die Wahl von Betriebsräten an, die Errichtung von Arbeiterkammern als gleichberechtigte gesetzliche Interessenvertretung aller Arbeitnehmer:innen ist hier ebenfalls zu nennen. Weil der Sozialstaat aber keine nationale, sondern eine gesellschaftliche Organisationsform ist, wurde das Wahlrecht für Betriebsrats- und AK-Wahlen schon vor 100 Jahren nicht auf die österreichische Staatsbürgerschaft beschränkt.

Der Sozialstaat ist keine nationale,
sondern eine gesellschaftliche Organisationsform.

Das Recht, bei Betriebsrats- und AK-Wahlen auch gewählt zu werden, kam allerdings erst sehr spät dazu, – eine der wenigen demokratischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte, die über die Interessenvertretung auf Betriebsebene hinaus von Bedeutung sind.

AK-Wahlen 1969. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.

Wenn das Recht „vom Volk ausgeht“ heißt das auch, der Staat ist nicht mehr ein gefährlicher Unterdrücker, der den Menschen die Freiheit nimmt. Er ist vielmehr nichts anderes, als die Organisation des Zusammenlebens in der Gesellschaft. Der mit Karl Renner befreundete Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, der die österreichische Verfassung entscheidend prägte, sagte einmal über das Wesen der Demokratie: In der Demokratie erheben die Bürger:innen den Anspruch „Der Staat, das sind wir“.

Briefmarke zum 100jährigen Verfassungsjubiläum mit Portrait von Hans Kelsen.

In der Demokratie erheben die Bürger:innen den Anspruch
„Der Staat, das sind wir“. 

Hans Kelsen, Architekt der österreichischen Verfassung

Der Sozialstaat kann nur stabil bleiben und sich weiterentwickeln, wenn dieser Anspruch immer wieder gestellt wird. Deshalb ist es äußerst problematisch, wenn dem bösen oder unfähigen Staat die gute und fortschrittliche „Zivilgesellschaft“ gegenübergestellt wird, wie das heute auch bei Befürworter:innen des Sozialstaats oft üblich ist, – statt sich für einen gerechteren Staat einzusetzen.

Handlungsspielraum für die Gewerkschaft

Ob man auf dem Weg zum Sozialstaat ein gutes Stück vorangekommen ist, zeigt sich besonders am Ausmaß des Handlungsspielraums, der den Gewerkschaften als Interessenvertretung der Arbeitnehmer:innen zur Verfügung steht. In Österreich war dieser Spielraum nach 1945 durch das Herausbilden der Konfliktregelungsplattform Sozialpartnerschaft größer als in vielen anderen Ländern. Hier wurde die Gewerkschaft zur gleichberechtigten politischen Big Playerin gegenüber Unternehmer:innenvertretungen und staatlicher Verwaltung. Auch dieses Instrument des gesellschaftlichen Interessenausgleichs hat seine Wurzeln in der Gründungphase der demokratischen Republik nach dem Ersten Weltkrieg, konnte aber erst in den Anfangsjahren der Zweiten Republik voll aktiviert werden.

Im Rahmen der Sozialpartnerschaft
wurde die Gewerkschaft zur gleichberechtigten politischen Big Playerin
<gegenüber Unternehmer:innenvertretungen und staatlicher Verwaltung.

Sozialpartnerschaftliche Verhandlungen über den Einsatz von Saisonarbeitskräften im Tourismus 2008. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.

Recht auf Arbeit

Die Sozialpartnerschaft war ein freiwilliges Konfliktregelungsinstrument. Weil der Sozialstaat aber immer ein Rechtsstaat ist, agierten die Beteiligten eingebunden in das Rechtssystem – nicht nur Arbeiterkammer, Wirtschaftskammer und Landwirtschaftskammer, sondern auch der ÖGB mit seinen Gewerkschaften. Ihre Rechtsgrundlage ist (wie jene der Industriellenvereinigung, die indirekt immer Teil der Sozialpartnerschaft war) das Vereinsgesetz.  Für die Gewerkschaftsbewegung gilt außerdem die Anerkennung durch die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK), die ab 1958 österreichisches Verfassungsrecht und seit 2008 zusätzlich durch die EU-Grundrechtscharta abgesichert ist.

Lange galt die gewerkschaftliche Organisation des „arbeitenden Volks“, als Einschränkung der persönlichen und unternehmerischen Freiheit, und noch 1948 vertraten viele Delegierte bei den Verhandlungen über die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen diese Ansicht. Sie stellten sich deshalb gegen den Plan, wirtschaftliche und soziale Rechte in die UN-Erklärung aufzunehmen. Eleonore Roosevelt, die Vorsitzende des Verhandlungsteams, antwortete ihnen ähnlich wie Ferdinand Hanusch 1919: „Es gibt keine persönliche Freiheit ohne wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit, Menschen in Not sind keine freien Menschen.“ Sie konnte sich als Vertreterin der Großmacht USA so weit durchsetzen, dass erstmals das Recht auf gewerkschaftliche Organisation und das Recht auf Arbeit als Menschen- und Freiheitsrechte anerkannt wurden.

Es gibt keine persönliche Freiheit ohne wirtschaftliche Sicherheit und Unabhängigkeit, Menschen in Not sind keine freien Menschen. 

Eleonore Roosevelt, 1948

Eleonore Roosevelt mit einem Exemplar der spanischen Version der UN-Erklärung der Menschenrechte 1948.Die Menschenrechtserklärung der UNO hat auch für die Staaten, die sie wie Österreich ratifizierten, keine Rechtsverbindlichkeit, die von ihr ausgehende EMRK dagegen schon. Deshalb ist sie für die Entwicklung zum Sozialstaat besonders wichtig.

Gerechte Freiheit statt „freier Markt“

Der Sozialstaat umfasst als Demokratieprojekt alle Politikfelder und ganz besonders die Wirtschafts-, Währungs-, Finanz-, Steuer- und Budgetpolitik. Er scheut sich nicht, das betonte Karl Renner in seiner Rede ebenfalls sehr deutlich, in den „freien Markt“ des kapitalistischen Wirtschaftssystems einzugreifen, wenn das notwendig ist, um mehr gerechte Freiheit zu schaffen.

Preisregelung, um die Grundbedürfnisse der Menschen mit wenig und mittlerem Einkommen bei einer Inflation zu sichern, ist ein ganz einfaches, aber sehr aktuelles Beispiel für die Notwendigkeit, das Wirtschaftsgeschehen im Interesse der Vielen in den Griff zu bekommen. Ein weitaus umfassenderes Beispiel ist eine Steuerpolitik, die darauf abzielt, der extremen Ungleichheit bei der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums entgegenzusteuern. Thomas Piketty fasste die Situation in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts prägnant zusammen: „Es gab enorme Ungleichheit, nicht nur innerhalb der europäischen Gesellschaften vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg, sondern es gab auch zwischen den einzelnen Ländern enorme Unterschiede. Es war die internationale Dimension, die die Anhäufung von Besitz und Reichtum ins Zentrum der Debatte rückte.“

In der Politik Großbritanniens stand die Überwindung der extremen Ungleichheit schon vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs ganz oben auf der To-Do-Liste. Otto Neurath, der Erfinder der modernen Bildstatistik, war seit 1934 als Antifaschist im Exil und gründete 1942 in Oxford das „Isotype Institute“, wo die Arbeit des Wiener GWM fortgesetzt wurde. Die dort entwickelten Schaubilder hatten zum Ziel, möglichst viele Menschen über Fakten zu informieren und so zu erreichen, dass sie den Weg in den Sozialstaat mittrugen. Die Bildstatistik über die ungleiche Verteilung des Reichtums in den 1940er Jahren, an der der spätere Arbeiterkammer-Ökonom Theodor „Teddy“ Prager mitarbeitete, ist eines der eindrücklichsten Beispiele dafür.

Bildstatistik „Ownership of Wealth in Great Britain“ aus dem in der Serie des Isotype Instituts „New Democracy“ 1945 erschienen Band „There’s Work for All“. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.

Progressive Steuer

Der Kampf gegen die extreme Ungleichheit war keineswegs nur ein Projekt von Sozialdemokrat:innen und Gewerkschafter.innen. Der liberale britische Wirtschaftswissenschaftler John Maynard Keynes kam im Verlauf seiner Forschung zu der Erkenntnis, dass die Besteuerung der Reichen kaum Nachteile für die Wirtschaftsentwicklung bringe, während eine Sparpolitik, die niedrige Einkommen etwa durch Kürzungen beim sozialen Netz oder Erhöhung der Mehrwertsteuer zusätzlich belastet, auf jeden Fall grundfalsch sei, weil das die Wirtschaft durch weniger Konsum weiter schädige. Die US-Regierung der 1930er- und 1940er Jahre, damals Vorreiterin bei sozialstaatlichen Lösungen, setzte die Theorie in die Praxis um und erreichte die Zustimmung des US-Kongresses zu einer sehr hohen progressiven Steuer auf Vermögen und Einkommen: Bei den Reichsten stieg der Steuersatz auf 90 Prozent.

John Maynard Keynes vertrat die britische Regierung 1944 auch bei der Konferenz im amerikanischen Bretton Woods, die eine stabiles internationales Währungsordnung plante und in diesem Zusammenhang die Errichtung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank beschloss. Keynes trat für eine von nationalen Interessen unabhängige Leitwährung und generell feste Wechselkurse ein, konnte sich aber gegen die Großmacht USA nicht durchsetzen. So wurde der Dollar Leitwährung samt einem Mix aus festen und flexiblen Wechselkursen.

Trotz aller Unvollkommenheit schütze des Bretton Woods-System aber über ein Viertel Jahrhundert Unternehmen und nationale Budgets vor Währungsspekulationen und ebnete so einem weiteren Ausbau des Sozialstaats den Weg.

Verlust des Vertrauens

„Meilenstein“ für die Bretton Woods-Konferenz in der Bahnhofstraße von Wörgl. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.Die Warnung vor dem Dollar als Leitwährung sollte sich 1971 als berechtigt herausstellen. In diesem Jahr kündigten die USA überfallsartig das Bretton Woods-Abkommen und damit das System der festen Wechselkurse auf, um die enormen Schulden aus dem Vietnamkrieg stemmen zu können. Das Ende der Bremse für Währungsspekulationen führte zur ersten großen internationalen Wirtschafts- und Beschäftigungskrise seit dem Zweiten Weltkrieg und zu einem weitreichenden Verlust des Vertrauens in den Wohlfahrts- und Sozialstaat in den betroffenen Ländern.

Parlamente und Regierungen, die Anfang der 1980er Jahre weiter auf sozialstaatliche Politik setzten, mussten auf den internationalen Finanzmärkten zu deren Bedingungen Geld aufnehmen, um die Budgetmittel für den Kampf gegen die steigende Arbeitslosigkeit aufzustocken. Das hatte seinen Preis, der unter anderem in der Zunahme von Budgetdefiziten bestand, und Österreich ist ein gutes Beispiel dafür: Die Spekulation gegen den Schilling zwang die Österreichische Nationalbank, die niedrigen Zinsen anzuheben, ein erheblicher Teil der Währungsreserven ging verloren, das Budgetdefizit erreichte erstmals ein Minus von 3,5 Prozent und der Schilling musste um 2,3 Prozent abgewertet werden.

Nach 1945: Sozialstaat auf der Überholspur

Bis in die 1970er Jahre hinein kam Österreich auf dem Weg zum Sozialstaat zunächst ein gutes Stück voran. Das Netz der sozialen Sicherheit wurde enger geknüpft, kürzere Arbeitszeit und bessere Arbeitsbedingungen schufen mehr Freiraum für die Beschäftigten, der Zugang zu Bildung öffnete sich langsam, aber sicher, dar Anteil der Arbeitnehmer:innen mit Kollektivvertragsschutz nahm ständig zu und Betriebsräte bekamen mehr Mitspracherecht. Ein ÖGB-Wandplakat aus dem Jahr 1952 zeigt den Fortschritt, der bereits in den ersten sieben Jahren seit Kriegsende erreicht werden könnte. Dass er nicht zuletzt dem Einfluss der Gewerkschaftsbewegung zu verdanken war, kann auf die erhebliche Bedeutung zurückzuführen, die die westlichen Besatzungsmächte dem ÖGB als Stabilisator der Demokratie beimaßen.

ÖGB-Wandplakat aus dem Jahr 1952 mit Darstellung des sozialen Fortschritts seit 1945. Symbolbild für den Sozialstaat und seine Geschichte.Österreich war kein Sonderfall. In vielen Teilen Europas hatten verschiedene Modelle der Entwicklung zum Sozialstaat Konjunktur, zumal die USA sie als die bestimmende westliche Weltmacht zunächst massiv einforderten. „Die amerikanische Sichtweise jener Zeit war“, schilderte Thomas Piketty die Motive, „Teil des Demokratiepaketes, das die USA nach Europa und, vor allen Dingen, nach Deutschland bringen wollten. Die Idee war, einen Staat zu haben, der reich genug ist, und damit stark genug, die Demokratie zu wahren.“

Die Idee war, einen Staat zu haben, der reich genug ist,
und damit stark genug,
die Demokratie zu wahren. 

Thomas Piketty über die Sozialstaatsoffensive der USA nach dem Zweiten Weltkrieg

Die „Oberen Zehntausend“ spielten mit, solange die sogenannte „Systemkonkurrenz“ mit dem sowjetischen Block bestand, – man wollte im „kalten Krieg“ zwischen den Westmächten und dem sowjetischen Block beweisen, dass die Mehrheit der Menschen im Kapitalismus besser leben als in kommunistischen Systemen. Aber während in Europa der Ausbau des Sozialstaats seine Blütezeit erlebte, setzte in den USA unter dem Einfluss von Wirtschaftswissenschaftlern, die an die „Selbstregulierungskraft des Marktes“ glaubten und sich eine Zeit lang „Neoliberale“ nannten, bereits die Gegenbewegung ein.

Immer wieder gegen den Sozialstaat

Eduard März, der Chefökonom der Arbeiterkammer, der vor faschistischer Verfolgung geflohen war und im amerikanischen Exil studiert hatte, erkannte die Trendwende früher als viele andere. 1959 warnte er in „Arbeit&Wirtschaft“: „Hüten wir uns davor, die gewaltige Kraft der amerikanischen, englischen und deutschen Kapitalistenklasse zu unterschätzen, die keineswegs gesonnen ist, ihre sozialen Privilegien auf dem Alter der reinen Demokratie kampflos hinzugeben.“ Der Sozialstaat stellt die Macht der Eliten in Frage, deshalb wird der Weg zu ihm oft blockiert.

Hüten wir uns davor, die gewaltige Kraft der amerikanischen, englischen und deutschen Kapitalistenklasse zu unterschätzen, die keineswegs gesonnen ist, ihre sozialen Privilegien auf dem Alter der reinen Demokratie kampflos hinzugeben. 

Eduard März, Chefökonom der Wiener Arbeiterkammer, 1959 in Arbeit&Wirtschaft

Eduard März bei einer Propagandasendung des US-Militärs gegen Hitler-Deutschland.Eduard März stütze sich bei seiner Prognose sicher auch auf die Erfahrungen aus der Ersten Republik. Nach 1918 blies ja der Gegenwind rasch und rau und öffnete der Machtübernahme durch die faschistischen Regime Tür und Tor. Nach dem Ende der faschistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs hieß es deshalb „zurück zum Start“, aber die Entwicklung schien vielversprechend. Im ersten Nachkriegsjahrzehnt teilte kaum jemand in Europa die realistische Einschätzung von Eduard März.

Karl Renner war überzeugt, dass den ersten Schritten in Richtung Sozialstaat weitere folgen würden, bis schließlich das bestehende System mit seinen Ungerechtigkeiten zu einem menschenfreundlicheren umgeformt oder ganz abgelöst sein würde, – in einem Prozess „von unten auf“, in dem sich freie Menschen ohne Angst für eine gerechte Gesellschaft einsetzen und einbringen können. John Maynard Keynes, der 1946 starb, glaubte, der Kapitalismus werde sich bis zum Ende des 20. Jahrhunderts so verändern, dass alle Menschen in der Gesellschaft die Chance hätten, „weise, angenehm und gut zu leben.“

Neoliberale Wende deutlich spürbar

Der Realist sollte zumindest mittelfristig recht behalten. Als nach dem Wegfallen der Bremse gegen die Währungsspekulation während der 1980er Jahre auch noch die kommunistische Konkurrenz verschwand, schlug die Stunde des Finanzkapitals. Der Salto nach Rückwärts begann, – in Österreich weniger brutal als anderswo. Dass er bei uns im Vergleich zu anderen Ländern lange schaumgebremster verlief, ist in erster Linie dem noch immer großen politischen Gewicht der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer:innen und der Mobilisierungskraft der Gewerkschaften zu verdanken.

Anton Benya bei der „Demonstration für Demokratie am Ballhausplatz im Sommer 2000.Trotzdem war die neoliberale Wende seit den 1980er Jahren auch hierzulande deutlich spürbar, – vom Einschränken vieler Sozialleistungen über die weitgehende Privatisierung der Verstaatlichten Industrie oder das Stilllegen von Nebenstrecken der Bahn bis zum Ausschalten der Interessenvertretungen der Arbeitnehmer:innen aus dem politischen Entscheidungsprozess, wo immer dies möglich ist, und Rücknahme von Mitbestimmungsmöglichkeiten besonders in der Sozialversicherung. Die Aufzählung ließe sich lange fortsetzen. Allerdings bewiesen die Kampagnen des ÖGB am Beginn des 21. Jahrhunderts, dass Widerstand etwas bringt, sonst hätten wir jetzt auch schon in Österreich Hartz IV oder die Riesterrente wie in Deutschland. Manchmal ist der Erfolg sogar direkt sichtbar wie nach der Kampagne der Gewerkschaftsjugend gegen die von der Regierung 2018 geplante Abschaffung der Jugendvertrauensräte, von der dieses ÖGJ-Video erzählt.

Trotzdem: Eine andere Welt ist möglich

Maßnahmen und Versuche, zur Einschränkung der Mitbestimmung außerhalb von Parlamentswahlen sind Stolpersteine auf dem Weg zum Sozialstaat, können ihn aber nicht auf Dauer versperren. Wie Karl Renner und John Maynard Keynes glauben die Gewerkschafter:innen und alle anderen, die sich in vielen Teilen der Welt oft unter Einsatz ihres Lebens für eine gerechtere Gesellschaft stark machen, auch im 21. Jahrhundert daran, dass „eine andere Welt möglich“ sei.

Der Slogan „Eine andere Welt ist möglich“ wurde für das Weltsozialforum geprägt, das erstmals 2001 in Porto Alegre in Brasilien stattfand und bei dem sich Gegner:innen einer Globalisierung unter dem Vorzeichen des Turbokapitalismus treffen, darunter auch immer wieder Gewerkschafter:innen aus Österreich.  Es geht um eine andere Welt, nicht nur um ein anderes Europa oder ein anderes Österreich, denn wenn wir das Projekt Sozialstaat nur auf die Grenzen eines Landes oder eines Kontinents beziehen, wird es zum Scheitern verurteilt sein, wie das Beispiel des Verlusts der internationalen Währungskontrolle deutlich zeigt. Das steht nicht im Widerspruch zur Verteidigung und Weiterentwicklung des Weges in den Sozialstaat auf nationaler Ebene, vielmehr wird es überall Zeit für eine Gegenoffensive zur Politik des „freien Marktes“ im Interesse der Vielen.

Wenn wir das Projekt Sozialstaat nur auf die Grenzen eines Landes oder eines Kontinents beziehen, wird es zum Scheitern verurteilt sein.

Eröffnungsdemo des Weltsozialforums 2022 in Mexico. Mit dem Slogan „eine andere Welt ist möglich“.

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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