Coverstory: Weniger ist mehr

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Borealis Agrolinz Melamine: Der Betrieb stellte 2001 von einem 4- auf ein 5-Schicht-Modell um. Die Arbeitszeit reduzierte sich von 38 auf 34,4 Stunden. Es gibt weniger Nachtschichten und längere Freizeitblöcke.

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Flexibilisierung liegt im Trend. Einige Betriebe wollen der Belegschaft mehr Zeitsouveränität verschaffen. Einzelne setzen bereits auf Arbeitszeitverkürzung. Udo Seelhofer und Sandra Knopp haben sich angesehen, wie die funktionieren kann.
Bei Bike Citizens ist Donnerstag schon Freitag: Im Grazer Unternehmen, das Navigations-Apps für Fahrradfahrer sowie Smartphone-Halterungen entwickelt, arbeitet die Belegschaft von Montag bis Donnerstag, neun Stunden täglich. Bike Citizens hat 29 MitarbeiterInnen in Graz und sechs in Berlin. Am Anfang stand Überlastung. „Wie bei Start-ups anfangs oft üblich, uferten Arbeitstage aus und man saß freitags noch ewig im Büro“, sagt Unternehmenssprecherin Elisabeth Gressl. Ein Kollege erzählte von einem amerikanischen Start-up mit 4-Tage-Woche. Diese mache scheinbar produktiver und glücklicher. Im Team fiel die einstimmige Entscheidung, dieses Modell im Sommer 2014 zu versuchen. Die Wochenarbeitszeit sank von 38,5 auf 36 Stunden. Die Kernarbeitszeit liegt zwischen 9 und 15 Uhr. Der Rest kann frei eingeteilt werden, theoretisch auch freitags. „Davon raten wir aber ab, der Erholungseffekt von drei Tagen ist ein Wahnsinn. Oft bringt gerade diese Auszeit gute Ideen“, betont Gressl.

Heißes Eisen

Unternehmen, die ihre Normalarbeitszeit reduzieren, sind hierzulande eher rar gesät. Dabei könnte eine solche Reduktion Herausforderungen der modernen Wirtschaft zumindest abmildern, wie Arbeitsmarktökonom Michael Soder von der Wirtschaftsuniversität Wien erklärt. Das Wirtschaftswachstum sei mittelfristig moderat, die Arbeitslosigkeit nach wie vor hoch und psychische wie physische Belastungen der ArbeitnehmerInnen nehmen zu. Verkürzte Arbeitszeiten könnten neue Jobs und längere Erholungsphasen schaffen. Für viele Unternehmen sind solche Maßnahmen aber ein heißes Eisen. Arbeitszeitreduktion bedeute mehr Personal, das steigere die Kosten massiv, daraus resultiere eine niedrigere Wettbewerbsfähigkeit.

„Das ist aber nicht zwingend der Fall“, betont Michael Soder. Die Wirtschaftsuniversität analysierte Modelle zur Arbeitszeitreduktion in sieben heimischen Unternehmen, angefangen vom Elektronikkonzern über den Getränkehersteller bis zum Stahlproduzenten. Die untersuchten Betriebe wiesen weniger Krankenstände auf, die Work-Life-Balance war besser, die ArbeitnehmerInnen waren motivierter und dadurch leistungsfähiger. „Die Produktivitätseffekte können die gestiegenen Kosten übersteigen oder zumindest konstant halten“, sagt Soder.

Hierzulande beträgt die Normalarbeitszeit 40 Stunden pro Woche. In vielen Kollektivverträgen sind es 38,5 Stunden. Alles darunter gilt als Teilzeit, auch wenn es vom Unternehmen als Vollzeit gewertet wird. Zweimal Früh, zweimal Mittag, zweimal Nacht und zwei Tage frei: So sah das 4-Schicht-Modell bei der Borealis Agrolinz Melamine GmbH in Linz in den 1990er-Jahren aus. Eine Befragung zeigte, dass die Belegschaft sehr unzufrieden war. „Die Erholungszeit zwischen der letzten Nacht- und der nächsten Frühschicht war sehr kurz. Spätestens mit 45 hatten Kollegen massive gesundheitliche Probleme“, blickt Betriebsratsvorsitzender Christian Kempinger zurück. Auch jüngere KollegInnen, die Wert auf Freizeit legten, begeisterte das Schichtmodell nicht. Für das Unternehmen war es zentral, Fachkräfte zu halten beziehungsweise neue zu rekrutieren. Denn die Anlernzeiten im Betrieb sind lang, Fluktuation ist daher schädlich.

Arbeitsmediziner Rudolf Karazman hat die IBG Innovatives Betriebliches Gesundheitsmanagement gegründet und berät Unternehmen bei der Umsetzung von neuen Arbeitszeitmodellen. Erste Betriebe stellten mit Anfang der 2000er-Jahre vom 4- auf ein 5-Schicht-Modell um. Auch bei der Borealis Agrolinz Melamine arbeitete Karazman mit Management, Betriebsrat und SchichtarbeiterInnen zusammen am neuen Modell. Der Prozess dauerte von 1998 bis 2001. Beim 5-Schicht-Modell sinkt die Arbeitszeit von 38 auf 34,4 Stunden. Wer etwa mittwochs eine Mittagsschicht hat, arbeitet in dieser Woche noch je zweimal in der Nacht und in der Frühschicht. Die einzelnen MitarbeiterInnen haben weniger Nachtschichten und längere Freizeitblöcke. Doch die Reduktion der Arbeitszeit um zehn Prozent bedeutete auch weniger Lohn und eine Aliquotierung bei Schichtpauschale und Urlaubsanspruch. Um Einkommensverluste zu schmälern, gibt es fünf Zusatzschichten im Jahr, die etwa für Weiterbildung und Gesundheitstage genutzt werden können.

Lohnausgleich wichtig

Die Lohnanpassung bereitete manchen Sorge. Betriebsratsvorsitzender Kempinger erinnert sich an Ängste einzelner KollegInnen. „Das kann ich mir nicht leisten. Ich baue ein Haus, wie soll das gehen?“, meinten sie. Gerade bei einem neuen Arbeitszeitmodell ist aber die Zustimmung der Belegschaft zentral. „Anfangs will keiner etwas ändern, speziell wenn Abstriche beim Lohn im Spiel sind. Es ist aber wichtig, übers Älterwerden zu sprechen. Die gleiche Arbeit, vor allem nachts, ist im Alter verausgabender“, so Karazman. Der Stoffwechsel gerate aus dem Gleichgewicht, es komme zu Schlafproblemen. Der chronische Stress könne zu Magengeschwüren und Depressionen führen, erklärt der Arbeitsmediziner. Längere Erholungsphasen hingegen sorgen für höhere Lebensqualität.

Bei der Borealis Agrolinz Melamine gab es nach einer MitarbeiterInnenabstimmung zunächst einen einjährigen Test in der Düngemittelproduktion. Im Zuge der Arbeitszeitreduktion wurden neue MitarbeiterInnen aufgenommen. Das Modell überzeugte die KollegInnen rasch und wurde später auf andere Bereiche ausgedehnt. Für KollegInnen aus dem alten Modell gab es teilweisen Lohnausgleich, für NeueinsteigerInnen nicht.

Das 5-Schicht-Modell fand auch bei anderen oberösterreichischen Unternehmen Anklang. Dazu zählt auch die voestalpine. Im Konzern gibt es 132 Arbeitszeitmodelle. Im Schichtbetrieb hat die voest das 5-Schicht-Modell im Jahr 2005 mit 40 MitarbeiterInnen für ein Jahr getestet. Vorher gab es vier Schichten, die folgendermaßen gestaltet waren: Man arbeitete je drei Früh-, Mittags- und Nachtschichten, sprich neun Tage durch. Dann folgten drei freie Tage. Das Problem: Wer aus der Nachtschicht kam, schlief sich erst mal aus und verlor somit einen Teil des freien Tages. Wer wiederum nach den freien Tagen Frühdienst hatte, musste am Tag zuvor früh schlafen gehen. Im Endeffekt blieben somit 2,5 freie Tage.

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Bike Citizens: Im Grazer Unternehmen ist Donnerstag schon Freitag. Beim Start-up gilt eine 4-Tage-Woche mit 36 statt 38,5 Stunden. Die Kern­arbeitszeit liegt von Montag bis Donnerstag zwischen 9 und 15 Uhr. Der Rest der Stunden kann frei eingeteilt werden. Das Team entschied sich bewusst für mehr Freizeit.

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Über den/die Autor:in

Sandra Knopp und Udo Seelhofer

Sandra Knopp ist freie Journalistin für verschiedene Radio und Printmedien, und hat die Themen Arbeitsmarkt, Soziales und Gesellschaftspolitik als Schwerpunkte. Udo Seelhofer war früher Lehrer und arbeitet seit 2012 als freier Journalist. Seine Schwerpunkte sind Gesellschaft, soziale Themen und Religion. Im Team wurden sie beim Journalismuspreis „Von unten“ 2017 für ihre Arbeit&Wirtschaft Reportage „Im Schatten der Armut“ ausgezeichnet.

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