Für Christiane Spiel sind Investitionen in Bildung der wichtigste Schlüssel zu einer zukunftsfähigen Wirtschaft und gerechten Arbeitswelt. Die emeritierte Professorin für Bildungspsychologie und Evaluation lehrt an der Universität Wien. Außerdem arbeitet sie als Beraterin für Bildungs- und Wissenschaftspolitik. Sie pocht vor allem auf die stärkere Beachtung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse im Bildungssystem und auf Bildungsziele, bei denen Humanismus vor Ökonomie steht.
Arbeit&Wirtschaft: Seit Jahrzehnten verknüpfen Sie in Ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit die Themen Bildung und Psychologie. Eine große Frage zu Beginn: Warum lernen wir Menschen eigentlich?
Christiane Spiel: Ich unterscheide: Bildung ist ein umfassenderer Begriff als Lernen. Sie schließt auch Persönlichkeitsausprägungen mit ein. So bilden wir uns auch, wenn wir ins Theater gehen oder ein Buch lesen. Ich habe mich besonders mit dem breiteren Bildungsbegriff im Sinne von Wissens- und Kompetenzerweiterung beschäftigt. Gemeinsam mit internationalen Kolleg:innen habe ich 2018 in einem großen Forschungsprojekt, dem International Panel on Social Progress, vier Hauptziele von Bildung definiert.
Wie lauten diese?
An erster Stelle steht ein humanistisches Ziel: die individuellen Begabungen und Talente eines jeden Menschen zu fordern. Das zweite Ziel ist ein sozial-bürgergesellschaftliches: aktiv Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen, auch für andere, die das nicht im gleichen Ausmaß können. Drittens hat Bildung ein ökonomisches Ziel: Menschen sollen auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden. Und das vierte Bildungsziel ist der Beitrag zu einer sozialen Gerechtigkeit, vor allem zu Bildungsgerechtigkeit.

Sind diese Ziele gleichwertig?
Wir haben die Reihenfolge bewusst gewählt: Aus unserer Sicht ist das humanistische Ziel am wichtigsten. Denn wenn ich dort gefordert werde, wo meine Begabungen und Interessen liegen, lerne ich mit hoher Wahrscheinlichkeit lieber, habe mehr Erfolg auf dem Arbeitsmarkt und engagiere mich eher bürgergesellschaftlich. Gleichzeitig tragt die Förderung individueller Talente zu mehr Bildungsgerechtigkeit bei, wobei wie gesagt Bildung mehr als der schulische Facherkanon ist.
Trotzdem müssen viele Schüler:innen noch immer viel Zeit und Energie in Fächer stecken, für die sie wenig Talent und Begeisterung haben.
In unserem Schulsystem sollen alle das Gleiche lernen. Das Wissen in der Gesellschaft wäre viel höher, wenn wir individuelle Potenziale fördern würden. Natürlich braucht es einen Grundstock an Wissen: Ein klassisches Beispiel ist das sinnverstehende Lesen. Aber Vertiefungen des Wissens sollte es dort geben, wo Begabungen und Talente liegen. Das lässt sich vielleicht nicht für jede:n Einzelne:n umsetzen, aber es wäre möglich, vor allem in den höheren Klassen ein Modulsystem anzubieten. Schüler:innen wurden so lieber und mehr lernen, und das Gesamtwissen in der Gesellschaft wurde stark zunehmen. Gerade in unserer komplexen Welt brauchen wir viel mehr Wissen als früher.
Digitalisierung, Automatisierung, künstliche Intelligenz: Die Arbeitswelt wandelt sich. Welche Kompetenzen sollten Kinder und Jugendliche erwerben, damit sie gut auf Unsicherheiten vorbereitet sind?
Schulen mussten vor allem dafür sorgen, dass junge Menschen Selbstvertrauen und Mut entwickeln, um zu agieren, statt zu reagieren. Immer wichtiger wird es daher, gerne zu lernen und zu arbeiten und Probleme gemeinsam angehen zu können. Erwiesenermaßen steigt die Lern- und Arbeitsmotivation, wenn Menschen Kompetenz und Autonomie erleben und in ein soziales Netz eingebunden sind. Als Folge steigt auch das Wohlbefinden. In Bildungseinrichtungen wie auch in der Arbeitswelt konnten diese Voraussetzungen leicht geschaffen werden, aber oft wird gar nicht daran gedacht. Stattdessen gibt es immer noch Lehrpersonen, die mehr auf Fehler schauen als Stärken zu betonen.
Wo stehen wir bei den vier Bildungszielen aktuell?
Vermutlich lauft es in Österreich noch am besten in Bezug auf das ökonomische Ziel, auch wenn es in gewissen Branchen an Fachkräften mangelt. Die Lehrlingsausbildung in Form eines dualen Systems bietet zum Beispiel eine solide Basis, die es so nur noch in vier anderen europäischen Ländern gibt: in Deutschland, der Schweiz, den Niederlanden und Dänemark. Leider wird es seit einigen Jahren zu wenig wertgeschätzt, denn auf dem Arbeitsmarkt wäre der Bedarf dafür sehr hoch. Auch die berufsbildenden Schulen, bei denen die Möglichkeit besteht, anschließend zu studieren, sind Erfolgsmodelle. In diesen Bereichen bereitet unser Bildungssystem sehr gut auf den Arbeitsmarkt vor. Einen guten Beitrag leisten auch die Hochschulen.
Erwiesenermaßen steigt die Lern- und Arbeitsmotivation, wenn Menschen
Kompetenz und Autonomie erleben und in ein soziales Netz eingebunden sind.
Als Folge steigt auch das Wohlbefinden.
Christiane Spiel, Beraterin für Bildungs- und Wissenschaftspolitik
Und um welches der Ziele machen Sie sich am meisten Sorgen?
Am meisten bleibt die Bildungsgerechtigkeit auf der Strecke: Die Bildungsschere geht immer weiter auf. Studien zeigen: Wer nicht die Unterstufe des Gymnasiums besucht, hat sehr geringe Chancen, später in eine Oberstufe zu gehen. Das hat nicht mit Begabungen, Interessen und Kompetenzen zu tun. Viele begabte Kinder gehen beispielsweise nicht ins Gymnasium, weil ihre Eltern auch keine höhere Bildung haben und sie teilweise drangen, früh Geld zu verdienen. Ganz schwierig bezüglich Bildungsgerechtigkeit ist, dass sehr viele Kinder Eltern haben, deren Muttersprache nicht Deutsch ist. In Wien haben oft 80 bis 90 Prozent der Schüler:innen in einer Klasse eine andere Erstsprache als Deutsch. Das sowie die niedrige Bildung ihrer Eltern steigern ihr Risiko, die Standards in einer Klasse nicht zu erreichen. Gehen viele Kinder mit ähnlichen Voraussetzungen in die Klasse, steigt dieses Risiko noch mal massiv an.
Was stört Sie am österreichischen Bildungssystem am meisten?
Der Kindergartenbereich wurde nicht ausreichend ausgebaut, und der Beruf Elementarpädagog:in hat kein hohes Ansehen. Ein hoher Prozentsatz jener, die die Ausbildung abschließen, üben den Beruf nicht aus oder hören nach einem Jahr auf. Ein weiterer Punkt: Wir brauchen Ganztagsschulen: Dort würden Kinder mit Migrationshintergrund viel besser Deutsch lernen, als wenn sie nachmittags zu Hause sind.

Und es bräuchte einen Sozialindex: Statt an alle Schulen Geldbetrage pro Kind auszuzahlen, sollten jene mehr bekommen, in denen mehr Kinder sind, die schlecht Deutsch sprechen und deren Eltern einen schwachen Bildungshintergrund haben. Dann könnten etwa zwei Lehrpersonen zugleich in einer Klasse arbeiten, was eine individuellere Forderung ermöglichen wurde. Auch Schulpsycholog:innen könnten stärker eingesetzt werden. Ein weiteres Problem ist, dass die Übergänge im Bildungssystem – etwa vom Kindergarten zur Volksschule und weiter ins Gymnasium etc. – eher Schnittstellen als Nahtstellen sind.
Was meinen Sie damit?
Ein klassisches Beispiel: Ein Kind kommt in eine höhere Schule, beteiligt sich nicht am Unterricht und erbringt schlechte Leistungen. Die Lehrperson glaubt vermutlich, es sei faul oder interessiere sich nicht für den Unterricht. Es wäre aber auch möglich, dass es nicht sinnverstehend lesen kann, aber nichts sagt, weil es sich schämt. Wichtig wäre, dass die Lehrpersonen der Volksschule und des Gymnasiums einander wechselseitig besuchen und sich über die in der Volksschule erworbenen Kompetenzen und die fachlichen Anforderungen im Gymnasium austauschen.
Gibt es Best-Practice-Beispiele, die auf alle Schulen übertragen werden sollten?
Ich habe vor längerer Zeit die Lern-Initiative der Autorin und Pädagogin Margret Rasfeld in der Evangelischen Schule Berlin Zentrum besucht. Dort haben Schüler:innen in einem eigenen Fach ein ganzes Jahr lang jede Woche eine Aufgabe außerhalb der Schule übernommen, wie zum Beispiel Sportübungen mit Kindern zu machen oder Flüchtlingen beim Deutschlernen zu helfen. Das stärkt das Selbstvertrauen. Schüler:innen lernen die Welt kennen und erfahren, dass sie durch ihr Handeln etwas bewirken können. Genau diese Kompetenzen und Haltungen brauchen wir als Gesellschaft.
Sie beschäftigen sich viel mit der Frage des Transfers wissenschaftlicher Erkenntnisse ins Bildungssystem. Woran liegt es, dass diese Implementierung so selten gelingt?
Viele gute und sinnvolle Maßnahmen erreichen nicht alle Schulen flächendeckend. Es gibt einzelne mit tollen Schulleiter:innen, die Pilotprojekte machen. Doch bei den meisten Schulen kommen Reformen in Gestalt von Gesetzen und Verordnungen nicht wirklich an, weil die Lehrpersonen und Schulleitungen nicht einbezogen werden. Nachdem Gesetzestexte durch alle Instanzen gegangen sind, werden die Schulen zumeist in Form von Leitfaden informiert, und auf ihre Websites werden Texte gestellt, die kaum jemand liest. Niemand stellt Fragen wie: Wie können die Schulen die Maßnahmen konkret im Alltag umsetzen? Wo fehlen ihnen Ressourcen und Wissen? Welche Unterstützung brauchen sie? Man muss vom Bedarf der Schulen ausgehen, nicht vom Ministerium.
Wie kann Bildung Frauen stärken?
Auch hier ist es wichtig, ihre individuellen Stärken zu fördern, anstatt sich unbewusst von Geschlechtsstereotypen leiten zu lassen. Studierende von mir haben für ihre Masterarbeit Lehrpersonen an Schulen gefragt, welchen Beruf sie ihren besten Schüler:innen empfehlen wurden. Der Großteil hatte den Schülerinnen empfohlen, Lehrerinnen zu werden, und den Schülern, technische Berufe zu wählen. Diese geschlechtstypischen Zuschreibungen passieren unbewusst – die Lehrpersonen waren überzeugt, dass sie Buben und Mädchen gleichbehandelten. Die Empfehlung lautet, den Menschen als Ganzes zu sehen und offen zu fragen: Welche Interessen hat diese Person? Um das zu erreichen, haben wir ein Präventionsprojekt zur Förderung geschlechtssensibler Pädagogik durchgeführt.
#OECD Studie bestätigt: Bildungskarriere in Österreich stärker vom Bildungshintergrund der Eltern abhängig als anderswo. #AK Präsidentin @renateanderl.bsky.social fordert: Jede Schule so ausstatten, dass jedes Kind Chance auf Lernerfolge bekommt! Nötig ist: Schulfinanzierung nach #AKChancenindex!
— @Arbeiterkammer (@arbeiterkammer.at) 9. September 2025 um 10:24
Reichen die finanziellen Mittel für ein gutes Bildungssystem nicht aus?
Österreich investiert sehr viel, doch wir müssen herausfinden, wo Geld versickert und welche Investitionen sich wie auswirken. Es gibt zu wenige Bildungsökonom:innen, die ausrechnen, wie viel Geld dem Staat entgehen würde, wenn zum Beispiel der Elementarbereich nicht ausgebaut wird. Oft müssen Zahlen auf den Tisch kommen, damit Politiker:innen hellhörig werden. Grundsätzlich ist Bildung das wichtigste Politikfeld von allen, denn jeder hier investierte Euro kommt vielfach zurück. Wenn ich in Bildung investiere, investiere ich gleichzeitig in alle anderen Politikfelder: Menschen mit höherer Bildung sind gesünder, verdienen mehr Geld, zahlen mehr Steuern, verhalten sich demokratischer und solidarischer und so weiter. Deshalb betone ich immer: Kluge Politiker:innen würden das meiste Geld in den Bildungsbereich stecken, weil davon auch alle anderen Bereiche profitieren.