Was passiert, wenn Arbeitslosigkeit neu gedacht wird?

Eine Frau kniet in einem Gemüsebeet. Neben ihr ist ein roter Eimer zu sehen. Symbolbild für die Jobgarantie für Langzeitarbeitslose.
Arbeiten mit Permakultur: Denise Berger hat durch das Projekt MAGMA den Weg zurück ins Berufsleben gefunden. | © Markus Zahradnik
„Am Anfang stand die Erfahrung eines 50-jährigen Arbeitssuchenden, der trotz hunderter Bewerbungen keinen Job fand.“ Ein Interview mit Lukas Lehner von der Universität Oxford über Jobgarantien für Langzeitarbeitslose.

Schluss mit der Langzeitarbeitslosigkeit. Das ist keine Utopie, sondern Realität im niederösterreichischen Marienthal. Im „Modellprojekt Arbeitsplatzgarantie Marienthal“ (MAGMA) des AMS Niederösterreich erhalten Langzeitarbeitslose eine Jobgarantie und damit eine Perspektive für ihr weiteres Berufsleben. Der Ökonom Lukas Lehner (Universität Oxford) hat das Projekt wissenschaftlich begleitet und verrät im Rahmen des ksœ-Podcasts „361° Sozialkompass“, wie Langzeitarbeitslose bei der Suche nach sinnvoller Arbeit unterstützt werden.

Zur Person
Lukas Lehner forscht an der Universität Oxford zu Arbeitsmarktpolitik. Zuvor war er als Ökonom an der OECD und der ILO tätig.

ksœ: „Gute Arbeit“ bedeutet auch über Arbeitslosigkeit sprechen. Herr Lehner, wie sieht das Experiment Arbeitsplatzgarantie in Marienthal aus und woraus ist es entstanden?

Lukas Lehner: Zu Beginn des Projekts stand die Erfahrung eines Arbeitssuchenden, an den ich mich ganz genau erinnere: 50 Jahre alt, seit einigen Jahren arbeitslos, hat an einigen Schulungen teilgenommen und hunderte von Bewerbungen geschrieben. Dieser arbeitssuchende Mann hat uns gefragt, was wir ihm empfehlen würden: Soll er sich weiter mit Kursen über das Verfassen seines Lebenslaufs beschäftigen, wenn ihn eigentlich sowieso niemand einstellen will? Aus dieser schwierigen Frage ist der Anstoß gekommen, ein Projekt zu entwickeln, das Arbeitslosigkeit und Arbeit neu denkt, ganz im Sinn einer Jobgarantie. Dieser Ansatz hat historische Vorläufer wie den New Deal von Theodore Roosevelt, aber vor allem in reichen, industrialisierten Ländern gibt es wenig Evidenz, wie solche Programme wirken können. Daraus ist mit dem AMS Niederösterreich ein Projekt entstanden, dem das Prinzip „Wenn jemand keine Arbeit findet, dann bekommt er oder sie eine garantiert“ zugrunde liegt.

ksœ: Wie wird man eigentlich langzeitarbeitslos?

Lukas Lehner: Als langzeitarbeitslos gilt man in Österreich per Definition, wenn man ein Jahr oder länger ohne Arbeit ist. Und das kann relativ schnell passieren. Viele Personen, die in der Situation sind, konnten sich das früher nie vorstellen. Der Begriff Langzeitarbeitslose wirkt auch für viele stigmatisierend, wenn sie beispielsweise viele Jahrzehnte im selben Betrieb gearbeitet haben. Besonders, wenn dann plötzlich der Betrieb zusperrt und sie ihren Job verlieren. Viele denken, dass sie schnell wieder einen Job finden, aber mit über 50 Jahren ist das oft schwieriger als gedacht.

ksœ: Wie kann man sich das in der Praxis genau vorstellen? Angenommen, ich lebe dort in der Region und bin Maurer, aber seit langem arbeitslos und beziehe dementsprechend  Arbeitslosengeld. Was ändert sich für mich?

Die Arbeitsplatzgarantie beginnt damit, dass man beim AMS einen achtwöchigen Trainingskurs macht, der die Teilnehmer:innen dabei unterstützt, eine tägliche Arbeitsroutine zu bekommen. Das ist für manche, die viel Arbeitserfahrung haben, überhaupt kein Problem, aber für andere, die vielleicht nie den Einstieg in regelmäßige Arbeit geschafft haben, schwierig. In diesem achtwöchigen Kurs gibt es außerdem alle Elemente von konventioneller aktiver Arbeitsmarktpolitik: Unterstützung bei der Jobsuche, Trainingselemente, um Fähigkeiten und Skills zu erlernen, sowie Unterstützung durch Lohnsubventionen an bestehende Arbeitgeber, die eine Person aus dem Programm einstellen möchten. Zusätzlich erhalten die Teilnehmer:innen auch das Angebot einer direkten Beschäftigung in einem sozialen Betrieb. Die Teilnehmer:innen bekommen die Möglichkeit, sich einzubringen und vorzuschlagen, was sinnvolle Tätigkeiten für sie wären. Wir wollen nicht von oben herab sagen, was “sinnvolle Arbeit” ist, sondern das wertvolle Wissen, das bei den Teilnehmer:innen vor Ort vorhanden ist, nutzen.

ksœ: Und wie geht es dann weiter?

Lukas Lehner: Das kann unterschiedlich ablaufen. Natürlich ist es eine Möglichkeit, dass die Person wieder als Maurer einen Job findet, beispielsweise durch umfangreiche Lohnsubventionen des Projekts – in den ersten drei Monaten 100 % der Lohnkosten, in den folgenden neun Monaten 2/3 der Lohnkosten. Das ist eine umfangreichere Lohnsubventionen als in Österreich sonst üblich. Die Mehrheit der Teilnehmer:innen hat aber trotz dieser Lohnsubventionen keinen Job gefunden. Selbst wenn man die Lohnkosten fast zur Gänze eliminiert, findet die Mehrheit keinen Job. Das zeigt uns, dass die Höhe der Lohnkosten nicht das ausschlaggebende Kriterium ist, warum viele Personen keinen Job mehr finden.

Als langzeitarbeitslos gilt man in Österreich,
wenn man ein Jahr oder länger ohne Arbeit ist.
Und das kann relativ schnell passieren.

Lukas Lehner

Für Teilnehmer:innen wurden deshalb direkte Jobs geschaffen: Beispielsweise wurde eine Tischlerei eingerichtet, es haben Renovierungen alter Wohnungen in der Gemeinde stattgefunden etc. Einzelne Personen haben auch im Kindergarten und in der Volksschule mitgearbeitet, etwa in der Betreuung der Gebäude. Andere Personen haben wiederum bei einem lokalen Therapiezentrum für Kinder mit Behinderungen eine Stelle bekommen, wo sie sich um die Therapie-Pferde gekümmert haben. Das Therapieangebot konnte dadurch sogar erweitert werden.

ksœ: Heißt das aber, dass die öffentliche Hand die Jobs garantiert, indem Sozialbetriebe oder öffentliche Betriebe die Jobs anbieten?

Lukas Lehner: In letzter Instanz garantiert das AMS über neu gegründete sozialökonomische Unternehmen den Arbeitsplatz. Es gibt allerdings zwei Arme: Es gibt sowohl den sogenannten privatwirtschaftlichen Arm, wo bestehende Unternehmen mit den schon erwähnten Lohnsubventionen gefördert werden, wenn sie Langzeitbeschäftigungslose Personen wieder einstellen. Es gibt aber auch den vorher beschriebenen Arm, wo direkte Jobs in einem sozialökonomischen Betrieb geschaffen werden.

ksœ: Sind die Jobs, die angeboten wurden, Tätigkeiten, die sonst gar nicht erst geleistet worden wären? Also komplett neue Arbeitsplätze? Oder verdrängt man damit dann andere Firmen vom Markt, indem man sagt: “Wir haben hier jemanden, der macht das jetzt?”

Lukas Lehner: Da sind Ökonom:innen sehr spitzfindig – auch zu Recht. Es stellt sich eben die Frage: Wenn man diese neuen Jobs schafft, werden dadurch andere Jobs verdrängt? Und falls andere Jobs verdrängt werden, verdrängt man vielleicht bessere Jobs durch schlechtere? Interessant ist es auch andersherum: Kann man vielleicht schlechtere Jobs mit besseren ersetzen und dadurch Druck zur Verbesserung von Arbeitsbedingungen aufbauen? Für das Projekt haben wir das genau evaluiert, indem wir die Gemeinde Gramatneusiedl mit einer künstlich aggregierten Gemeinde verglichen haben, auf Basis aller anderen 500 Gemeinden in Niederösterreich. Das Ergebnis dieses Vergleichs war, dass die Jobs, die durch das Projekt geschaffen wurden, tatsächlich neue Jobs waren. Sie haben also nicht bestehende Beschäftigung verdrängt.

ksœ: Was unterscheidet sich die Jobgarantie konkret von anderen Programmen?

Erstens ist es allen Personen überlassen, ob sie teilnehmen und einen Job annehmen möchten. Wenn sie das ablehnen, können sie auch weiterhin Arbeitslosengeld oder soziale Unterstützung beziehen ohne negative Auswirkungen. Das unterscheidet eine Jobgarantie von Maßnahmen in Richtung Zwangsarbeit. Zweitens ist es ein angemessener Mindestlohn, der in Österreich kollektivvertraglich festgelegt ist. Das heißt, dass man für seinen Lohn Steuern und Sozialversicherungsbeiträge zahlt und damit auch Ansprüche, wie beispielsweise für die Pension, erwirbt. Das unterscheidet eine Jobgarantie von sogenannten Work-Fair-Programmen, wie sie beispielsweise in Ungarn, sehr großflächig umgesetzt werden. Dort leisten arbeitssuchende Personen für ihre soziale Unterstützung eine Tätigkeit, die aber keine bezahlte Arbeit im üblichen Sinn ist. Drittens geht es immer um sinnvolle Beschäftigung – sowohl für die Teilnehmer:innen selbst als auch in dem Sinn, dass ein Beitrag für die Gemeinschaft geleistet wird.

Es geht immer um sinnvolle Beschäftigung –
sowohl für die Teilnehmer:innen selbst als auch in dem Sinn,
dass ein Beitrag für die Gemeinschaft geleistet wird.

Lukas Lehner

ksœ: In öffentlichen Debatten über Arbeitslosigkeit spielen auch immer die Kosten für die Gesellschaft eine Rolle. Wie sehen die im Fall des Projekts Marienthal aus?

Lukas Lehner: Die fiskalischen Kosten einer arbeitslosen Person in Österreich liegen im Durchschnitt bei etwa 30.000 Euro pro Jahr; das beruht auf Berechnungen des Arbeitsministeriums. Dieser Betrag inkludiert natürlich auch entgangene Beiträge zur Sozialversicherung und entgangene Lohnsteuern. Im Vergleich dazu liegen die Kosten eines Arbeitsplatzes im Rahmen der Marienthal-Jobgarantie knapp darunter, bei 29.000 Euro. Selbst, wenn ein Arbeitsplatz in der Jobgarantie ein paar 1.000 Euro im Jahr mehr kosten würde, stellt sich trotzdem die Frage, ob diese paar 1.000 Euro nicht die großen sozialen und psychosozialen Auswirkungen des Programms wert sind. Zumal dass durch die geleistete Arbeit ja auch ein wirtschaftlicher Mehrwert generiert wird.

ksœ: Das klingt fast zu schön, um wahr zu sein. Gibt es aus Ihrer Sicht auch Argumente gegen dieses Modell der Jobgarantie?

Lukas Lehner: Ja, es gibt natürlich auch Einschränkungen. Das Projekt in Marienthal bietet einen garantierten Arbeitsplatz für all jene Personen, die ein Jahr oder länger arbeitslos waren. Andere, die beispielsweise kürzer arbeitslos sind, können nicht teilnehmen. Und auch unter den Personen, die ein Jahr oder länger arbeitslos sind, zeigt sich, dass die durch die Jobgarantie geschaffene Beschäftigung nicht für alle das Beste ist. Für manche ist Unterstützung, in reguläre Jobs zurückzufinden, die sinnvollere und bessere Alternative. Das heißt auch, dass die Jobgarantie kein Modell ist, um unser Wirtschaftssystem grundlegend zu transformieren. Aber das Projekt Marienthal ist nicht bloß eine Utopie, sondern eben realistisch möglich.

Eine Herausforderung bleibt es, die Jobs tatsächlich zu schaffen. In Gramatneusiedl hat das sehr gut funktioniert, das ist aber nicht notwendigerweise überall gleich. Es hängt mit Sicherheit stark davon ab, dass lokale Akteur:innen unterstützend mitwirken und dass es im Dorf oder in der Region eine gewisse Bereitschaft gibt, sinnvolle Jobs zu schaffen. Die verschiedenen Bedürfnisse zusammenzubringen, ist mit Sicherheit eine große Herausforderung der Politik und der Verwaltung – aber es ist möglich!

ksœ: Was sind Ihrer Meinung nach die Auswirkungen einer Jobgarantie auf die betroffenen Menschen?

Lukas Lehner: Die Ergebnisse der Jobgarantie Marienthal sind durch die Bank überraschend positiv, was sowohl die wirtschaftlichen als auch die sozialen Folgen betrifft. Interessanterweise gibt es aber keine Veränderung, was die Zukunftseinstellungen der Personen betrifft, was auch in etwa dem Stand der wissenschaftlichen Forschung entspricht. Außerdem haben wir auch keine unmittelbaren Auswirkungen auf die physische Gesundheit feststellen können, während sich die psychosoziale und mentale Gesundheit klar verbessert hat.

ksœ: Und was empfehlen Sie der Politik?

Eine Empfehlung aus wissenschaftlicher Sicht wäre, ähnliche Projekte in größerem Maßstab und in anderen Kontexten auszurollen und dort zu pilotieren. Während nämlich unsere Evaluierung – in sich geschlossen – eine sehr hohe Gültigkeit hat, stellt sich die Frage, wie sehr die Ergebnisse übertragbar sind. Unsere Studie hat gezeigt, dass die experimentelle Evaluierung kein Hindernis ist, ein Projekt so umzusetzen, dass es Menschen helfen kann – wenn Wissenschaft, Verwaltung und Politik zusammenarbeiten und sich abstimmen. Die Jobgarantie ist kein Patentrezept zur Lösung aller sozialen Probleme. Aber sie ist ein realistisches Programm das umsetzbar ist und das den Sozialstaat sinnvoll ergänzen und damit die Sozialpolitik insgesamt verbessern kann.

 & Podcast:

Das Gespräch wurde im Rahmen des ksœ-Podcasts “361° Sozialkompass” geführt und kann hier zur Gänze nachgehört werden.

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