Warum brauchen wir eigentlich einen Sozialstaat?

Portrait Adi Buxbaum und Julia Hofmann von der arbeiterkammer. Interview: Warum brauchen wir eigentlich einen Sozialstaat?
Arbeitsmarktexpertin Julia Hofmann und Sozialpolitiker Adi Buxbaum im Doppelinterview mit Arbeit&Wirtschaft. | © Markus Zahradnik
Ungleichheit verringern, Stabilität für alle Krisenfälle, Fairness für alle Österreicher:innen: Die Soziologin Julia Hofmann und der Sozialpolitiker Adi Buxbaum liefern gute Argumente gegen einen Rückbau des Sozialstaates.
Provokante Frage, aber: Warum brauchen wir eigentlich einen Sozialstaat? Doch die Antwort ist naheliegend. Er stabilisiert die Gesellschaft, verleiht den Bürger:innen Sicherheit und soziale Gerechtigkeit. Arbeit&Wirtschaft sprach mit der Soziologin Julia Hofmann und dem Sozialpolitiker Adi Buxbaum über das Vermögen der Vielen, wie der Sozialstaat auch genannt wird. Sie erklären, warum der Rückbau keine gute Idee wäre.

Arbeit&Wirtschaft: Warum brauchen wir eigentlich einen Sozialstaat?

Adi Buxbaum: Er trägt zur sozialen und gesellschaftlichen Stabilität bei und unterstützt die Menschen. Gerade der ungewollte Stresstest Pandemie hat das eindrücklich gezeigt. Aktuelle Umfragen zeigen, die Menschen stehen zum Sozialstaat.“

Tatsächlich?

Julia Hofmann: Ja, das zeigen zahlreiche Befragungen. Noch vor Corona haben wir nach dem Wohlfahrtsstaatsmodell gefragt, in dem die Leute leben möchten. Der große Zuspruch für das skandinavische Modell hat uns selbst überrascht. Weit abgeschlagen hinter unserem konservativen Modell lag das liberale Modell – wie in den USA. Gerade in Krisenzeiten merken die Leute vermehrt, was der Sozialstaat für eine stabilisierende Kraft hat und dass Umverteilungsmaßnahmen notwendig sind.

Portrait Arbeitsexpertin Julia Hofmann von der arbeiterkammer. Interview: Warum brauchen wir eigentlich einen Sozialstaat?
„Wenn alle von einem sozial ausgleichenden Staat profitieren, dann müssen auch die Reichen ihren fairen Beitrag dazu leisten“, sagt AK Arbeitsexpertin Julia Hofmann.
Ein Leben ohne Sozialstaat? Was heißt das für die Gesellschaft und jede:n Einzelne:n?

Buxbaum: Das Vermögen oder der Kontostand würden im Wesentlichen darüber entscheiden, ob Kinder in die Schule gehen, eine dringliche Operation stattfinden kann oder ob ich bis 80 arbeiten muss. Für Österreich wäre das sehr bitter. Denn selbst jetzt hat die untere Hälfte der Haushalte eben keine Rücklagen, auf die sie zurückgreifen kann. Politisches Nichthandeln oder die Minimalversion eines Sozialstaats sind ein Ungleichheitsbeschleuniger.

Hofmann: Die Pandemie hat gezeigt, dass der Sozialstaat das Vermögen der Vielen ist. Er stabilisiert und sichert den Lebensstandard für die breite Mitte der Gesellschaft. Und er bringt auch den Reichen tatsächlich was. Untersuchungen zeigen, dass es in ungleichen Gesellschaften etwa höhere Kriminalitätsraten und mehr Selbstmorde gibt. Das trifft auch die Reichen und ihre Lebensweise.

Wie ist es um den Sozialstaat in Österreich bestellt?

Buxbaum: Die hohe Sozialquote hat viele der sozialen Verwerfungen in der Pandemie spürbar eingedämmt. Gleichzeitig wurden auch die Lücken in der sozialstaatlichen Absicherung stärker sichtbar und die neu eingeführten, notwendigen Ad-hoc-Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Folgen waren teils nur Einmalzahlungen und bedeuten keine langfristigen Weichenstellungen.

Also der Sozialstaat greift punktuell reparierend ein, aber macht keine großen, langfristigen Weichenstellungen?

Hofmann: Angesichts der großen Herausforderungen und des gesellschaftlichen Wandels, vor dem wir stehen, müssten wir bereits jetzt die sozialstaatlichen Instrumentarien nachschärfen. Aber da wird aktuell häufig wie bei der Feuerwehr agiert, aber keine Brandvermeidungsstrategie entworfen. Unser Sozialstaat muss unmittelbar armutsfest werden und den nötigen sozialökologischen Umbau verlässlich begleiten.

Buxbaum: Wir haben in der politischen Debatte zur Mittelverwendung teilweise eine gnadenlose Selektion. Nach dem neoliberalen Ansatz würden wir nur mehr das machen, was sich kurzfristig rechnet. Eine langfristige Bewertung und die damit verbundene Kostenwahrheit werden dabei oft ausgeblendet. Natürlich schränkt man sich dadurch vollkommen den politischen und gesellschaftlichen Handlungs- und Gestaltungsspielraum ein.

Wofür bräuchten wir denn einen Handlungs- und Gestaltungsspielraum?

Buxbaum: Es gibt mehrere notwendige Handlungsfelder: Fehlentscheidungen neokonservativer und neoliberaler Sozialpolitik sind zu revidieren, Ungleichheiten nachhaltig abzubauen, und eine neue, fortschrittliche Sozialpolitik ist zu etablieren – also Maßnahmen gegen Arbeitslosigkeit und Bildungsvererbung sowie zur Verbesserung des Wohnens und endlich zur tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter.

Hofmann: Unser Sozialstaatsmodell finanziert sich stark aus den Erwerbseinkommen. Das ist ja grundsätzlich nichts Schlechtes. Es bedeutet: Ich gebe einen Teil meines Gehalts ab und kann dafür die ganzen Leistungen in Anspruch nehmen. Alleine kann ich mir etwa keine gute Schule für meine Kinder leisten, aber wenn wir es alle gemeinsam zahlen, dann schon. Aber ist das gerecht? Denn auch die Vermögenden profitieren vom Sozialstaat und leisten, zumindest was ihr Vermögen betrifft, keinen bis kaum einen Beitrag. Und mit Blick auf die erwähnten Herausforderungen ist ihr Beitrag eine Frage der sozialen Gerechtigkeit, etwa über Vermögen- und Erbschaftsteuern. Aber diese Gruppe ist uns de facto entschwunden.

Warum ist das so?

Hofmann: Wir haben uns als Gesellschaft einfach lange nicht diese Frage gestellt, auch weil uns zum Teil die Daten über die Struktur des Reichtums und der Vermögen in Österreich nicht zur Verfügung gestanden sind. Jetzt sehen wir, wie ungleich verteilt und hochkonzentriert die Vermögen in Österreich sind. Denn wenn 1 Prozent der Österreicher:innen rund 40 Prozent des Vermögens besitzt, dann ist das hochkonzentriert. Die Vermögensungleichheit ist in Österreich im internationalen Maßstab sehr hoch.

Buxbaum: Der Druck in der öffentlichen Debatte liegt zu stark auf den Armen. Das hat eine vollkommene Entsolidarisierung der Mitte gebracht. Teils entstand eine Allianz zwischen der Mitte und den oberen Einkommens- und Vermögensbezieher:innen, indem sie unsolidarisch zu den Unteren waren. Eigentlich hätte die „Solidarität mit unten“ entstehen müssen, denn der Abstand nach unten ist viel kleiner als der Abstand zu oben. Gerade in der jetzigen Situation, wo bereits im Dezember 2021 ein Drittel der Haushalte weniger Einkommen zur Verfügung hatte als zu Beginn 2021 und die Teuerung noch nicht voll durchgeschlagen hat, ist es umso verwunderlicher, dass man die oben davonziehen lässt, während man nach unten die Leute abgehängt zurücklässt.

Hofmann: Die Mehrheit der Menschen ist ja für Umverteilung. In zentralen Bereichen wünschen sie sich ein Mehr an sozialstaatlichen Leistungen. Wie finanziert man das? Hier kommen wieder jene ins Spiel, die bislang im Verhältnis zu ihrem Vermögen zu wenig zum Sozialstaat beitragen. Es gibt eine Mehrheit für Vermögensteuermodelle, wenn sie nicht die „breite Mitte“ betreffen, sondern die erwähnten obersten 1 bis 10 Prozent. Wir haben in Österreich mittlerweile 40 bis 50 Milliardär:innen. Die haben so viel Vermögen, das ist eigentlich schon jenseits jeglicher Vorstellung.

Portrait Sozialpolitiker adi Buxbaum von der arbeiterkammer. Interview: Warum brauchen wir eigentlich einen Sozialstaat?
AK Sozialpolitiker Adi Buxbaum sieht im politischen Nichhandeln oder einer Minimalversion eines Sozialstaats einen Ungleichheitsbeschleuniger.
Dann müsste doch die Einführung einer Vermögensteuer sehr einfach sein. Woran scheitert es?

Hofmann: Es scheitert an den gesellschaftlichen Machtverhältnissen und den politischen und wirtschaftlichen Netzwerken, die es in Österreich gibt. Da kommen wir bislang noch nicht durch.

Buxbaum: In sozialpolitischen Fragen ist die Bereitschaft zur Kurskorrektur in Österreich einfach nicht groß genug. Eine der Lehren der zahlreichen Krisen müsste ja sein, dass Sozialpolitik immer Teil der Lösung ist und den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt.

Wie wirkt sich der mangelnde Beitrag der Vermögenden auf die Finanzierung der Leistungen aus?

Buxbaum: Es ist natürlich sehr verlockend für eine Bundesregierung zu sagen: „Wir wollen die Abgabenquote senken, damit den Menschen mehr übrig bleibt.“ Das ist jedoch nur auf den ersten Blick so. Denn es sollte klar sein, was das budgetär bedeutet, welche Summen da plötzlich wegfallen. Was auf der individuellen Ebene verlockend klingt, wird gesellschaftlich zu einem Problem. Und weil es dann zu Mittelkürzungen und schlechteren Leistungen kommt, kombiniert etwa mit der Aussage, dass es die Falschen bekämen, sind wir mitten in einer Entsolidarisierungsdebatte. Genau das ist nach einer jahrzehntelang aufgebauten sozialstaatsfeindlichen Erzählung ziemlich stark in den Köpfen der Menschen verankert.

Ist die Zuspitzung der sozialen Frage ein abrupter oder ein schleichender Prozess?

Hofmann: Es sind viele kleine Veränderungen, die über Jahre und Jahrzehnte ihre Wirkung entfalten. Da wirkt, was gestern noch undenkbar war, heute schon normal. Diese Veränderungen führen dazu, dass viele sich das Leben nicht mehr leisten können und Begriffe wie „Eigenverantwortung“ immer mehr über Solidarität gestellt werden. Viele notwendige Kurskorrekturen und Verbesserungen bleiben damit aus. Und da sind wir bei den Kosten des Nichthandelns.

Buxbaum: Nichthandeln ist nicht gratis. Die Probleme, die wir jetzt nicht adressieren, werden zukünftig nicht kleiner – im Gegenteil. Daher möchte ich den Gedanken wiederholen: Ein funktionierender, zeitgemäßer und gut ausgebauter Sozialstaat ist immer Teil der Lösung. Das sehen wir auch bei den erfolgreichen nordischen Ländern.

Danke für das Gespräch!

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