Wandel mit voller Wucht

Fotos (C) Markus Zahradnik
Pandemie, Demografie, Klimawandel und Krieg in Europa pushen den Strukturwandel. Wirtschaft und Arbeit verändern sich noch schneller als bisher. Doch mitten im Umbruch brummt der Arbeitsmarkt – der perfekte Zeitpunkt, den Wandel mitzugestalten.
Was zu befürchten wäre: Die Begriffe Wandel und ökonomische Transformation rufen bei vielen Menschen Schreckensbilder aus dem Geschichtsunterricht wach – Bilder von Lumpenproletariat, Maschinenstürmern oder den resignierten Arbeitslosen von Marienthal (die Marie Jahoda, Paul Felix Lazarsfeld und Hans Zeisel 1933 untersuchten). Manche mögen dabei auch etwas unterhaltsamere Assoziationen haben, wie Szenen aus der britischen Filmkomödie „Ganz oder gar nicht“, wo langzeitarbeitslose Stahlarbeiter aus Sheffield sich zusammentun, um ihr Arbeitslosengeld mit eigener Laien-Strippershow nach dem Vorbild der Chippendales aufzubessern. Auch Zukunftsvisionen werden da aufgerufen, von einer Arbeitswelt, in der ein einziger Mensch in einer Werkshalle via Tablet eine smarte Produktion dirigiert, in der die einzelnen Komponenten in der Cloud via Maschinengeflüster miteinander kommunizieren.

Nagelprobe für Jobs

Das Institut für empirische Sozialforschung (IFES), das den österreichischen Strukturwandelbarometer publiziert, analysierte zuletzt die Entwicklung in den österreichischen Unternehmen in Zeiten der Pandemie. Für den Strukturwandelbarometer 2021 wurden Betriebsrät:innen befragt. Es zeigte sich vor allem ein stark gestiegener Arbeitsdruck. In einigen Branchen wie etwa dem Gesundheitssektor war der Druck so groß, dass viele Beschäftigte den Job an den Nagel gehängt haben. Der Wandel manifestierte sich weiters in Personalabbau, Arbeitszeit, Homeoffice. Allerdings hat die Pandemie einen Digitalisierungsschub gebracht, der Berührungsängste bei Arbeitnehmer:innen wie auch Unternehmen wegfegte. „Rund 90 Prozent der Betriebe arbeiten heute anders als vor der Krise“, konstatiert Stefan Friesenbichler vom IFES.

Der Strukturwandel darf nicht auf dem
Rücken der Arbeitnehmer:innen stattfinden, und sie dürfen nicht zurückgelassen werden.

Silvia Hofbauer, AK Wien

So schnell kann’s gehen

Strukturwandel ist so vielschichtig, aber sicher nichts Neues. Die Arbeitswelt verändert sich ständig und das seit Menschengedenken. In der Vergangenheit wurden diese Veränderungen nicht so wahrgenommen, weil sie sich langsamer vollzogen. Der Paradigmenwechsel kam mit der industriellen Revolution, die eine nie dagewesene Dynamik und eine im Vergleich mit den Jahrhunderten davor rasend beschleunigte Entwicklung von Technik, Produktivität und Wissenschaft freisetzte. In zwei Jahrhunderten wandelte sich unsere Wahrnehmung der Welt von einer des Seins in eine des Werdens. Mit der Digitalisierung hat der Wandel noch einen Zahn zugelegt. „Früher passierten Veränderungen peu à peu, jetzt mit voller Wucht“, betont Friesenbichler.

Ist nur die Unsicherheit sicher?

Nun befinden wir uns erneut an einem Wendepunkt. „Historiker werden möglicherweise sagen, dass 2021/22 eine Zäsur stattgefunden hat“, sagt Hubert Eichmann, Experte für Wandel der Arbeitswelt beim FORBA-Institut. So sieht jedenfalls ein Zyklus mit enormen Herausforderungen aus: Klimakrise als Dauerbrenner, tiefgreifende Veränderungen durch die Pandemie und Krieg in der Ukraine. Wir erleben volatile Zeiten mit großer Unsicherheit, Aufgaben und Chancen. „Corona war möglicherweise die Ouvertüre für das, was kommt. Die stabilen Jahre sind vorbei“, sagt Eichmann.

Strukturwandel wird meistens mit technologischer Innovation assoziiert, doch er kommt auch aus anderen Bereichen daher: Demografie, Ökologie und Globalisierung sind starke Treiber. Galt vor ein paar Jahren künstliche Intelligenz als das nächste „große Ding”, das die Arbeitswelt umzukrempeln drohte, ist es jetzt der Klimawandel. „Das ist das ganz große Thema für die Unternehmen, das begleitet werden muss“, sagt Silvia Hofbauer, Arbeitsmarktexpertin der Arbeiterkammer (AK) Wien. Was nicht passieren soll: Dass Unternehmen vor dem Hintergrund der Dekarbonisierung den ursprünglichen Geschäftszweck aufgeben, die Belegschaft kündigen und für das neu gegründete Business neue Leute zu schlechteren Bedingungen aufnehmen.

Besonders stark von der Dekarbonisierung betroffen ist die verarbeitende Industrie in Niederösterreich, Oberösterreich und in der Steiermark. Nach Branchen sind es vor allem die Stahlindustrie, Zement- und Kalkindustrie, Raffinerien, Papier- und Zellstofferzeugung, die Chemische und die Keramische Industrie.

Die Dekarbonisierung ist das ganz große Thema für Unternehmen, das begleitet werden muss. Es darf nicht passieren, dass in neuen Unternehmensbereichen, neue Leute zu schlechteren Bedingungen aufgenommen werden, betont Silvia Hofbauer, AK Expertin

Weiterbildung macht Schule

„Arbeitsrechtlich muss man hier aufpassen, dass Prekarisierung nicht Tür und Tor geöffnet wird“, betont Hofbauer. Verändern sich im Zuge von Restrukturierungen oder einem neuen Geschäftsmodell die Jobs, und sind dafür neue Qualifikationen gefragt, ist es wichtig, dass die Antwort darauf Weiterbildung ist. Hofbauer: „Der Weiterbildungsbedarf steigt.“

Auch dort, wo etwa Teilschließungen notwendig werden, sind die Mitarbeiter:innen so umzuschulen, dass sie anderswo einen guten Arbeitsplatz finden. „Der Strukturwandel darf nicht auf dem Rücken der Arbeitnehmer:innen stattfinden, und sie dürfen nicht zurückgelassen werden“, fasst Hofbauer zusammen.

Gedämmte Hoffnungen für den Wandel

Zugleich ist zu erwarten, dass sich neue berufliche Chancen in Bereichen wie ökologisches Bauen (Wärmedämmung), erneuerbare Energielösungen (Solarpaneele, Wärmepumpen) und Gesundheits- und Sozialberufe auftun. Das wird auch Auswirkungen auf die Ausbildungswege junger Menschen haben. „Es ergeben sich Chancen für Arbeitnehmer:innen mit mittleren Qualifikationen, einen guten Beruf mit Zukunft zu ergreifen“, sagt Eichmann. Denn es werden wieder mehr Leute gebraucht werden, die wissen, wie man eine Fassade dämmt oder begrünt und umweltfreundliche Heizsysteme installiert. „Die Berufsstruktur in der Mitte wird stärker, akademische Bürojobs werden hingegen eher weniger werden“, so der Experte.

Im Wandel: Mitarbeiter verzweifelt gesucht!

Trotz aller Unsicherheiten läuft es am Arbeitsmarkt so gut wie schon seit langem nicht mehr. Die Pandemie hat den Wandel beschleunigt, und Österreich hat mit einer Arbeitslosenrate von zuletzt 5,7 Prozent die niedrigste Quote seit 14 Jahren. Betriebe in Branchen suchen händeringend nach Personal und Bewerber:innen können zwischen mehreren Jobangeboten wählen. „Wir haben jetzt einen klaren Arbeitnehmermarkt“, sagt AMS-Chef Johannes Kopf im Interview. Das bedeutet: Arbeitnehmer:innen sind jetzt klar im Vorteil. Das mag zwar der/dem Einzelnen, die/der trotzdem seit Monaten keinen Job findet wenig nützen, dennoch ist es von enormer Bedeutung. Die Stunde der Arbeitnehmer:innen ist gekommen, und sie haben es in der Hand, den Strukturwandel zu gestalten. „Es ist ein gutes Zeitfenster, um Forderungen zu stellen, gerade auch in Berufen, die vor der Pandemie wenig beachtet waren und die sich als systemerhaltend gezeigt haben. Die Supermarktkassiererin, der Pfleger, die Kindergärtnerin haben erkannt: ‚Wir sind wichtig‘“, sagt Eichmann.

Und die Arbeitgeber:innen? Sie werden sich jedenfalls mehr anstrengen müssen, um Mitarbeiter:innen zu bekommen und zu halten. Insbesondere Problembranchen wie Gastronomie und Tourismus, wo die Arbeitsbedingungen schon vor der Pandemie schlecht waren, müssen radikal umdenken. Sich auf billige Arbeitskräfte aus Osteuropa zu verlassen, hat ausgedient. Viele von ihnen haben die Pandemie genutzt und sich Jobs in anderen Branchen gesucht. „16-Stunden-Tage, Saisonarbeit, geringe Entlohnung – die schauen nicht zurück“, sagt Friesenbichler.

Time is (better than) money

Für Arbeitnehmer:innen stehen neben dem Inflationsausgleich bessere Rahmenbedingungen im Fokus, allen voran Arbeitszeitverkürzung und Weiterbildungsangebote. „Eine aktuelle Befragung hat gezeigt, dass 25 Prozent der in Vollzeit arbeitenden Männer weniger arbeiten wollen. Vor der Pandemie war es nur jeder achte“, sagt Friesenbichler. Mit der Pandemie haben viele Arbeitnehmer:innen erkannt, wie wertvoll Zeit ist, und wollen nicht wieder zurück ins alte Hamsterrad. Geld wird indessen immer weniger wert. Eigentum durch Arbeit zu schaffen war schon vor der Pandemie kaum möglich. Nun nagt auch noch die Inflation kräftig am Einkommen. Da fehlt vielen zunehmend die Perspektive für ein Leben als Arbeitstier. „Die Konsequenz: Geld wird weniger wert, Zeit wird wichtiger“, sagt Friesenbichler.

Das von Experten favorisierte Modell der Arbeitszeitverkürzung ist die Vier-Tage-Woche. Sie ist nicht nur in Österreich zurzeit in aller Munde. In Großbritannien läuft aktuell ein großes Pilotprojekt mit 2.200 Arbeitnehmer:innen in mehr als 70 Unternehmen aus mehr als 30 Branchen.

Liebe Unternehmer, strengt euch mehr an!

Bei den Arbeitnehmer:innen ist die Message, dass Weiterbildung wichtig ist längst angekommen. Sie greifen dafür sogar immer öfter selbst in die Tasche. Eine aktuelle Studie des Instituts für Höhere Studien zeigt, dass der Ausgabenanteil der Arbeitnehmer:innen in den vergangenen Jahren hinaufschnellte, während der Anteil der Unternehmen absackte. Der Investitionsrückstau der Unternehmen bei der Weiterbildungsfinanzierung hat sich in der Coronakrise noch erhöht. Nur etwa ein Viertel der Betriebe bildet Lehrlinge aus. „Der chronische Fachkräftemangel, den manche Branchen beklagen, ist oft hausgemacht. Mit Personalplanung und Lehrlingsausbildung habe ich in drei, vier Jahren die Fachkräfte, die ich brauche“, betont auch Alexander Prischl, Leiter der Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik beim Österreichischen Gewerkschaftsbund.

Fazit: Mehr Einsatz der Unternehmen bei der Aus- und Weiterbildung ist gefordert. Das reicht von der Lehrlingsausbildung bis hin zur Weiterqualifizierung der Mitarbeiter:innen. Dafür müssen Mittel und auch Zeit bereitgestellt werden, denn Weiterbildung sei kein Privatvergnügen, das man in der Freizeit erledigt und aus der eigenen Tasche finanziert. „Fortbildung zu guten Bedingungen“, wie Hofbauer es formuliert.

Recht auf Weiterbildung

Alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sollen das Recht auf eine Woche Weiterbildung pro Jahr in der bezahlten Arbeitszeit bekommen, lautet eine Forderung der AK. Dass das funktioniert, macht etwa die Elektroindustrie vor, die den Anspruch auf Fortbildung bereits in ihrem Rahmenkollektivvertrag hat.
Ein Recht auf Bildung während der Arbeitszeit wurde heuer für Lehrlinge, die Lehre mit Matura machen, in zwei Branchen in den Kollektivvertag aufgenommen – Nachmachen erwünscht.

„Chronischer Fachkräftemangel ist oft hausgemacht. Mit Personalplanung und Lehrlingsausbildung bekomme ich die Fachkräfte, die ich brauche,“ meint ÖGB-Arbeitsmarktexperte Alexander Prischl.

Nicht allgemein bekannt: Das Arbeitsmarktservice ist Österreichs größter Weiterbildungsakteur. „Etwas eigenartig, dass Weiterbildungsangebote erst dann kommen, wenn man den Job verloren hat und schwer vermittelbar ist“, sagt Hofbauer (siehe Interview mit AMS-Chef Kopf). Es sei allerdings schwierig, eine Facharbeiter-Intensivausbildung mit geringem Arbeitslosengeld durchzuhalten. „Viele können sich das nicht leisten und brechen ab“, sagt Hofbauer. Die AK schlägt deshalb ein Qualifizierungsgeld von mindestens 1.220 Euro vor, das vor Armut während der Ausbildung schützt.

Eine weitere Schwachstelle in Österreichs Unternehmen ist die Personalplanung, die oftmals dazu führt, dass einfach keine Zeit für Weiterbildung bleibt. Ein Beispiel: Im Installationsbetrieb sind die Auftragsbücher voll bis Jahresende, alles arbeitet auf Hochdruck, doch im Betrieb fehlt das stark nachgefragte Know-how zur Installation von Photovoltaikanlagen. Für die Schulung der Mitarbeiter:innen fehlt aber die Zeit. Das liegt auch daran, dass viele österreichische Kleinbetriebe keine gute Personalplanung haben. „Da fehlt das Know-how. Und es wäre eine Kernaufgabe der Wirtschaftskammer, die Betriebe hier zu unterstützen“, sagt Hofbauer.

Selbstlernkompetenz für den Wandel stärken

Selbst bei der beruflichen Aus- und Weiterbildung zeigt sich bald: An der Schule kommt man nicht vorbei, denn um Fortbildungsangebote in Anspruch nehmen zu können, muss die Basis stimmen. Das Wichtigste, so die Bildungsexperten, ist die Selbstlernkompetenz – also Lernen lernen. Denn sie gilt als Voraussetzung für das lebensbegleitende Lernen. „Dabei geht es nicht um statisches Wissen, sondern die Kompetenz, sich Wissen und Fertigkeiten selbst anzueignen“, sagt Prischl. Und das ist deshalb so wichtig, weil sich die meisten Menschen in ihrem Leben mehrmals beruflich verändern werden.

Prischl spricht sich deshalb für eine Bildungspflicht statt Pflichtschule aus. Will heißen: Die Schulpflicht ist erfüllt, wenn ein Bildungsniveau erreicht wurde, auf dem aufgebaut werden kann. Das kann bei manchen früher sein als bei anderen.

Hofbauer von der AK appelliert an junge Menschen, vor der Pandemie begonnene Berufsausbildungen abzuschließen: „Besonders schwer haben es am Arbeitsmarkt jene, die nur die Pflichtschule absolviert haben. Und selbst wenn man später nicht im erlernten Beruf arbeitet, steht man besser mit abgeschlossener Berufsausbildung da.“

Angst vor dem lebensbegleitenden Lernen muss übrigens niemand haben. Das menschliche Gehirn ist laut Bildungsexperten die beste Lernmaschine der Welt, und lernen ist grundsätzlich in jedem Alter möglich. „Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr“ – das Sprichwort gehört längst zum alten Eisen.

Eine Übersicht über die Arbeitslosigkeit und den Fachkräftemangel in Österreich gibt es hier.

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