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Über blinde Flecken in der Geschichtsschreibung und deren Hintergründe - eine kurze Bestandsaufnahme.

Fehlende Analysen

Klaus-Dieter Mulley, Leiter des Instituts zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterkammern und Gewerkschaften, stößt für die Gewerkschaftsgeschichtsschreibung in eine ähnliche Richtung: „Leidvoll muss festgestellt werden, dass die Geschichte der österreichischen Gewerkschaften und Arbeiterkammern – sieht man von wenigen Ausnahmen ab – sich bislang auf eine organisationsgeschichtliche Beschreibung und auf eine Darstellung von Forderungen und Erfolgen beschränkte.“

Er ergänzt: „Es liegen weder über die maßgebenden RepräsentantInnen der Gewerkschaften, über ihr Verhältnis untereinander, zur Politik und den politischen Parteien, noch über das ‚Innenleben der Gewerkschaften‘ und schon gar nicht über die betriebliche Interessenvertretung empirisch gesättigte Studien vor. Gewerkschaftsgeschichte ist in Österreich (leider noch immer) weitgehend Jubiläums- und Erinnerungsgeschichte.“

Sowohl die Aktivitäten und Schwerpunkte der International Conference of Labour and Social History als auch viele vom Institut zur Erforschung der Geschichte der Arbeiterkammern und Gewerkschaften durchgeführte Projekte bzw. unterstützte Publikationen sind freilich um entsprechende Lückenschlüsse bemüht.

Auch Cornelia Kogoj, Generalsekretärin der Initiative Minderheiten und vielfache Kuratorin, verweist auf einige Positivbeispiele. „Als ich 2015 im Rahmen eines Forschungsprojekts zu Darstellungsformen von Minderheitengeschichte in US-Museen recherchiert habe, war ich beeindruckt, dass das Museum of the City of New York die Geschichte New Yorks über die politischen Kämpfe seiner Minderheiten darstellt.“

In der Dauerausstellung „Aktivist New York“ werde diese Geschichte anhand von Themen wie Immigration, Gender Equality, Religious Freedom oder Political and Civil Rights nähergebracht. „So wird beispielsweise die Frage ‚What has New York to do with Slavery?‘ aufgeworfen oder New Yorks Schlüsselrolle in der Schwarzen Bürgerrechtsbewegung erzählt“, so Kogoj.

Meilensteine

Für Österreich benennt Kogoj Ausstellungen des Wien Museums wie „Gastarbajteri“ und „Romane Thana“ als wichtige Meilensteine. Florian Wenninger erinnert allerdings daran, dass die „blinden Flecken in der Geschichte“ durchaus auch als Parole „von Rechts“ vereinnahmt werden können.

Aktuell geschieht das z. B. durch die Adelshistorikerin Gudula Walterskirchen. In ihrer Publikation „Die blinden Flecken der Geschichte: Österreich 1927–1938“ schreckt sie sogar nicht vor der (erfundenen) Behauptung zurück, dass der Februaraufstand 1934 eine nationalsozialistische Inszenierung gewesen wäre. Schwarz-braune Beziehungen bleiben hingegen – einmal mehr – ausgespart.

Marketing-Gag

Wenninger kommentiert diese aktuelle Verwendung des Begriffs „blinde Flecken“ folgendermaßen: „Wer für sich als HistorikerIn in Anspruch nimmt, ‚blinde Flecken‘ zu bearbeiten, insinuiert, sich einer verborgenen, von den Mächten totgeschwiegenen Wahrheit anzunehmen. Das ist üblicherweise ein Marketing-Gag“, so der Zeithistoriker. „Perfide wird es dort, wo nach tendenziöser Würdigung der Quellen als Ergebnis übrig bleibt, dass die Opfer selbst schuld sind am Unrecht, das ihnen angetan wurde.“

Internationale Tagung der HistorikerInnen der Arbeiter- und anderer sozialer Bewegungen:
www.ith.or.at/start/d_index.htm
Initiative Minderheiten:
minderheiten.at
Projekt „Opfer politischer Repression“:
www.repression-1933-1938.at
„Der blinde Fleck der Wirtschaftsgeschichte“:
tinyurl.com/y7z7mqad

Von
John Evers
Erwachsenenbildner und Historiker

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/17.

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