Stille Reserve: Warum die Arbeitslosigkeit viel höher ist

Logo des AMS im Sonnenuntergang. Aufgrund der Stillen Reserve wäre die Arbeitslosigkeit in Österreich viel höher.
Die Stille Reserve wird bei der Arbeitslosigkeit nicht mitgerechnet. Weswegen die Menschen hinter der Zahl und ihre Anliegen oft vergessen werden. | © Adobe Stock/Agata Kadar
Die Stille Reserve fließt nicht in die Statistik zur Arbeitslosigkeit in Österreich ein. Die wäre sonst deutlich höher als offiziell ausgewiesen. Das ist Problem und Chance gleichermaßen.
Unter der Stillen Reserve versteht die Arbeitsmarktpolitik Menschen, die arbeiten wollen, es aber nicht können. Gleichzeitig sind sie aus verschiedensten Gründen nicht arbeitslos gemeldet oder auf Jobsuche. In Österreich betrifft das etwa 100.000 bis 155.000 Menschen. Die Arbeitslosenquote würde um 3,2 Prozentpunkte steigen, würde die Stille Reserve mitberücksichtigt werden. Weil das nicht so ist, wird die Arbeitslosenquote oft unterschätzt. Die Zahl bietet aber auch die Möglichkeit, mit angepassten Arbeitsbedingungen personelle Engpässe zu beheben.

Was ist die Stille Reserve?

Zur sogenannten Stillen Reserve werden in der Arbeitsmarktpolitik Menschen gerechnet, die nicht arbeitslos gemeldet sind, allerdings auch keinen Job haben. Allerdings würden sie wieder arbeiten gehen, wenn die Rahmenbedingungen stimmen würden. Zur Stillen Reserve gehören beispielsweise Hausfrauen, die keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld haben oder Personen mit Betreuungs- und Pflegeaufgaben. Die größte Gruppe der Stillen Reserve sind Menschen der ersten Zuwanderungsgeneration.

Dem Thema der Stillen Reserve haben sich Dennis Tamesbergr und Thomas Pilgerstorfer im A&W-Blog gewidmet. Tamesberger ist Leiter des Teams Sozialpolitik der Arbeiterkammer (AK) Oberösterreich, Pilgerstorfer studiert Sozialwirtschaft an der JKU Linz und ist derzeit Praktikant in der Abteilung für Wirtschafts-, Sozial- und Gesellschaftspolitik in der AK Oberösterreich.

Sie führen aus, dass in der Stillen Reserve alle Bildungsniveaus enthalten wären. Die größte Gruppe seien Menschen mit maximal einem Pflichtschulabschluss. Auf Platz kommen Personen mit Lehre und Matura. Etwa ein Viertel der Menschen in der Stillen Reserve hat in Dienstleistungsberufen gearbeitet (vor allem im Verkauf), bevor sie sich vom Arbeitsmarkt zurückgezogen haben. Die zweitgrößte Gruppe bilden mit 16 Prozent Hilfsarbeiter:innen.

Welche Relevanz hat die Stille Reserve?

„Die große Relevanz der Stillen Reserve wird spätestens klar, wenn der Frage nachgegangen wird, ob es aktuell passende offene Stellen für sie gäbe“, führen Tamesberger und Pilgerstorfer aus. Das bedeutet, dass offene Stellen mit den Qualifikationen der Menschen in der Stillen Reserve verglichen werden. „Demnach könnten je nach Jahr 65 bis 84 Prozent der offenen Stellen durch die Stille Reserve besetzt werden“, glauben die Autoren.

Trotzdem sind die Zahl der Stillen Reserve in wirtschaftlich guten Zeit nicht in diesem Ausmaß. „Nur zwischen etwa einem Viertel bis zur Hälfte (26 bis 51 Prozent) der Personen aus der Stillen Reserve, kann durch das fiktive Matching eine offene Stelle zugeordnet werden.“

Wie kann den Menschen in der Stillen Reserve geholfen werden?

Daraus muss die Arbeitsmarktpolitik die richtigen Schlüsse ziehen. Um die Gruppe, wie bisher, einfach zu ignorieren, ist sie zu groß. Und hinter den Zahlen stecken nun mal echte Menschen, die oftmals Hilfe brauchen. Die Menschen der Stillen Reserve wollen theoretisch arbeiten, doch es fehlt an den richtigen Bedingungen. Beispielsweise an flächendeckenden und qualitativ hochwertigen Pflegemöglichkeiten oder Kinderbetreuung. Oder an Qualifizierungs- und Weiterbildungsmaßnahmen für Menschen, die länger aus dem Berufsleben raus sind oder sich umorientieren wollen.

Zeiten, in denen Unternehmen einen angeblichen Fachkräftemangel beklagen, könnte Wirtschaft und Politik zu einem Umdenken bewegen, um das Potenzial dieser Menschen zu nutzen. „Dazu müssen Politik und das AMS die Stille Reserve als Zielgruppe adressieren und aktiv auf Betroffene zugehen“, schließen Tamesberger und Pilgerstorfer. Sie fordern eine „aktive Arbeitsmarktpolitik, die nicht auf Druck und Sanktionen, sondern Ermutigung und Unterstützung setzt.“

Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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