Im November 2024 stürzt in der Stadt Novi Sad im Norden Serbiens das Dach eines frisch renovierten Bahnhofs ein, 16 Menschen kommen ums Leben. Rasch rücken Fragen zur Vergabe der Bauaufträge, zur Rolle parteinaher Unternehmen und zur Transparenz der eingesetzten Mittel des Regimes in den Fokus der Öffentlichkeit. Novi Sad wird zum Auslöser landesweiter Proteste gegen das Regime in Serbien, die seit Monaten nicht abreißen.
Waren es anfangs nur Studierende, so gehen inzwischen Hunderttausende Sympathisant:innen mit auf die Straße, mehr als 60 Prozent der Bevölkerung unterstützen laut Umfragen ihre Anliegen. Protestmärsche quer durch Europa hoben die Forderungen nach mehr Rechtsstaatlichkeit und einem Ende der Korruption in Serbien auf eine internationale Ebene. Aber wo beginnt Korruption, und wie kann man ihr effektiv etwas entgegensetzen?

„Was in einem Land schon als Korruption gilt, kann anderswo noch als alltäglicher Akt der Dankbarkeit empfunden werden“, erklärt Vedran Džihić, Senior Researcher am Österreichischen Institut für Internationale Politik (oiip). Er forscht unter anderem zu Demokratietheorie, europäischer Integration und Protestbewegungen mit Schwerpunkt auf den Balkan und die USA.
Korruption ist ein globales Phänomen – und doch bleibt der Begriff schwer zu fassen. Es gibt keine allgemeingültige Definition. Wo Korruption anfängt und wo sie aufhört, bewegt sich oft in einer Grauzone, die von gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Prägungen beeinflusst wird. Vieles hängt von der Wahrnehmung ab – und die ist bekanntlich subjektiv.
Infrastruktur als Bruchstelle in Serbien
„Was jenseits der subjektiven Wahrnehmung liegt, ist Korruption im großen Stil – dort, wo Transparenz, Offenheit und fairer Wettbewerb ausgehebelt werden und sich bestimmte Gruppen gezielt Vorteile verschaffen“, so Džihić. Besonders deutlich zeige sich das in vielen Ländern in der Bauwirtschaft: Gerade bei großen Infrastrukturprojekten würden immer wieder Gelder von politischen Parteien oder Wirtschaftseliten abgezweigt. Solche Praktiken schaden nicht nur einzelnen Projekten, sondern untergraben das Vertrauen in den Staat und fügen der gesamten Gesellschaft erheblichen Schaden zu.
„Serbien liegt unweit der EU, ist Kandidatenland für die Mitgliedschaft und hat sich in den letzten zehn bis 15 Jahren stark autokratisiert“, erklärt Politikwissenschaftler Vedran Džihić. Unter Präsident Aleksandar Vučić habe sich das Land zu einem kompetitiv-autoritären Regime entwickelt, das gezielt Institutionen und Justiz kontrolliere, um wirtschaftliche Vorteile zu sichern und effektive Korruptionsbekämpfung zu verhindern. Die Serbische Fortschrittspartei (SNS) fungiere dabei als „große klientelistische Umverteilungsmaschinerie“, bei der einem die Mitgliedschaft Vorteile verschaffe und Korruption bei öffentlichen Aufträgen an der Tagesordnung sei.
Serbien liegt unweit der EU, ist Kandidatenland
für die Mitgliedschaft und
hat sich in den letzten zehn
bis 15 Jahren stark autokratisiert.
Vedran Džihić, Politikwissenschaftler
Korruption erkennen
Transparency International reiht Serbien auf Platz 105 von 180 Staaten, nur Bosnien-Herzegowina schneidet am Westbalkan schlechter ab. Die NGO misst mit dem Korruptionswahrnehmungsindex (CPI) vor allem, wie stark Korruption im öffentlichen Sektor wahrgenommen wird. In der serbischen Bevölkerung wächst indes das Bewusstsein für Korruption als zentrales Problem: „22 Prozent sehen Korruption als das größte Problem Serbiens – vor vier Jahren waren es nur 12 Prozent. 41 Prozent glauben, dass Korruption weit verbreitet ist, 2021 waren es noch 19 Prozent.“
Die Proteste nach dem Einsturz in Novi Sad richten sich vor allem gegen die fehlende Transparenz und das Ausbleiben von Konsequenzen: „Bis heute ist nicht klar, wie und wohin das Geld für die Bahnhofsrenovierung geflossen ist. Die Regierung verschleiert die Vorgänge, legt Dokumente nicht offen, Anklagen verlaufen im Sand“, so Džihić.
Wurde durch die Proteste das Vučić-Regime gestürzt? Das sei aktuell noch offen. „Wir befinden uns an einem Kipppunkt. Der Höhepunkt der Macht ist überschritten. Die Angst vor dem Regime ist kleiner geworden, aber autoritäre Regime sind zäh und setzen alles daran, an der Macht zu bleiben – durch Kontrolle der Institutionen, der Medien und der Justiz.“ Für einen Wandel müssten laut Džihić drei Faktoren zusammenkommen: „anhaltender Protestdruck von der Straße, eine klare politische Opposition und Druck von außen, etwa durch die EU.“
In #Serbien geht es höchst turbulent zu. Studentenproteste steuern auf eine Kulmination zu. Morgen, am Veitstag, finden in #Belgrad die nächsten grossen Proteste statt, vielleicht vergleichbar oder noch grösser als jene am 15.3., als mehr als 300.000 Menschen in Belgrad protestierten.
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— Vedran Dzihic (@vedrandzihic.bsky.social) 27. Juni 2025 um 18:06
Blick auf das Regime von außen
Eine UN-Konvention gegen Korruption sei eher zahnlos und zeige wenig Wirkung, „weil die Vereinten Nationen nur appellieren können“, sagt Džihić. Der Europarat hat mit seinem Gremium GRECO insgesamt 24 Empfehlungen an die serbische Regierung gerichtet, umgesetzt hat diese bisher bisher nur eine davon. „Die EU hätte Mittel, um den Druck zu erhöhen, etwa durch die Vergabe von Geldern im Erweiterungsprozess, doch auch das bleibt oft im Graubereich“, sagt der Experte. Hinzu komme, dass das Regime in Serbien rhetorisch geschickt agiere: Es betone nach außen immer wieder seine angebliche Reformbereitschaft und schmücke sich mit Aktionsplänen und Prinzipien, während tatsächliche Umsetzung und Kontrolle fehlen würden.
Am Ende, so Džihić, bleibe der öffentliche Druck entscheidend: „Die wirksamsten Mittel bleiben der investigative Journalismus und massive Proteste, die sagen: Bis hierher und nicht weiter! Die Menschen wollen einen Staat, in dem Rechtsstaatlichkeit funktioniert und es keine Korruption gibt.“