Interview: Regelrechter Kippeffekt

Inhalt

  1. Seite 1 - Die Wünsche der Beschäftigten
  2. Seite 2 - Das Thema Arbeitszeitverkürzung
  3. Seite 3 - Risiken des 12-Stunden-Tags
  4. Auf einer Seite lesen >
Experimente in Betrieben zeigen: Kürzere Arbeitszeitmodelle funktioneren deutlich besser als lange. Auch mehr freie Tage bringen viel. XIMES-Geschäftsführer Johannes Gärtner über intelligente Arbeitszeitmodelle, österreichische Pausenkultur und familiäre Schichtpläne.

Wann wird dieser Unfallrechner Realität sein?

Recht bald, es gibt schon sehr viel Forschung dazu, und er ist methodisch schon sehr weit entwickelt. Ich nehme an, im Sommer oder spätestens Herbst werden wir damit arbeiten können. Es lässt sich dann berechnen, um wie viel höher die Unfallgefahr etwa nach drei Nachtschichten ist – wobei das dann immer auch in Relation zur Tätigkeit gesehen werden muss: Bauarbeiter haben natürlich andere Risiken als etwa Büroangestellte, für die bei Übermüdung das Unfallrisiko aber auf dem Heimweg auch höher sein kann. Mit unserer Methode können wir dann Arbeitszeitmodelle direkt vergleichen und ganz genau sagen: Das Modell eins hat 30 Prozent Unfallrisiko und Modell zwei 85 Prozent.

Abgesehen von dieser Unfallgefahr und einer gesundheitlichen Komponente, gibt es auch die soziale Komponente. Nehmen wir das Beispiel einer Reinigungskraft, die in der Regel genau dann arbeiten muss, wenn alle anderen nicht arbeiten: zeitig in der Früh, abends oder am Samstag. Da sollte man sich bemühen, ihr trotzdem möglichst viel soziale Teilhabe zu ermöglichen.

Gehen Sie vor Ort zu den Unternehmen oder findet das meiste am Computer im Büro statt?

Das ist genau das, was ich an meiner Arbeit so mag. Ich bin sehr viel unterwegs und lerne viele verschiedene Arbeitssitua­tionen kennen und Abläufe verstehen. Da holt mich dann der Chirurg in den OP, oder ich stehe in der Werkhalle im Metallwerk oder im Chemielabor oder bin bei der Altenpflege dabei.

(C) Markus Zahradnik

Nach diesen vielfältigen Eindrücken: Was ist Ihrer Einschätzung nach die aktuell größte Herausforderung?

Es wird auch in Zukunft weiter darum gehen, die richtige Balance zu finden zwischen den Freiräumen für die Beschäftigten und den betrieblichen Erfordernissen. Und was auch jetzt schon spannend ist: Bei der Suche nach Fachkräften wird Arbeitszeit immer mehr zum Thema. Wenn ein Arbeitgeber auf die Wünsche und Bedürfnisse von geeigneten Jobsuchenden eingehen kann, dann haben beide gewonnen.

Bei der Suche nach Fachkräften wird Arbeitszeit immer mehr zum Thema.

Wir glauben allerdings nicht an magische Ideallösungen, sondern das muss jedes Mal individuell erarbeitet werden. Wir versuchen, Methoden und Kennzahlen zu identifizieren, wie Unternehmen klüger mit ihrer Zeit umgehen können; Time Intelligence lautet hier das Stichwort. Da braucht es neben Selbststeuerungsmechanismen letztendlich auch Vorgesetzte, die darauf achten, was tatsächlich passiert.

Gleitzeit von Montag bis Freitag ist an sich ja ein ideales Modell. Aber es gibt in fast jedem Unternehmen

Beschäftigte, die auch innerhalb idealer Modelle zu überlangen Arbeitszeiten tendieren. Wenn es sich dabei womöglich um langjährige MitarbeiterInnen handelt, dann können sie die Firmenkultur deutlich prägen. Das kann jüngere BewerberInnen, die weniger arbeiten möchten, abschrecken. Hier sollte man gezielt und rechtzeitig gegensteuern.

Und das Thema Arbeitszeitverkürzung?

Das ist spannend. Wir sind gemeinsam mit der Arbeiterkammer an der Evaluierung dieses Projekts beteiligt. Es gibt immer mehr Firmen, die mit ihrer Arbeitszeit werben. Bei enger werdenden Märkten ist das eine interessante Option für Unternehmen. Persönlich glaube ich, dass sehr viel davon abhängt, wie weit ein Unternehmen in der Lage ist, auf die Wünsche der Jobsuchenden und Beschäftigten zu reagieren.

Viele Arbeitgeber sind prinzipiell bereit, auf die Wünsche und Bedürfnisse der Beschäftigten einzugehen. Wichtig ist immer das Gespräch.

Wenn Jobsuchende zum Beispiel keine Kinderbetreuung finden können, dann sind sie auch nicht flexibel, können gar nicht flexibel sein. Viele Arbeitgeber sind prinzipiell bereit, auf die Wünsche und Bedürfnisse der Beschäftigten einzugehen. Wichtig ist immer das Gespräch. Der Ansatz: „Setzen wir uns zusammen und schauen wir, wie wir das alles unter einen Hut bringen können“, ist nicht immer einfach, aber es entstehen wesentlich bessere Lösungen als auf dem konfrontativen Weg.

Wäre es nicht Zeit für eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung?

Ich kenne Versuche, wo auf betrieblicher Ebene mit 30- bis 35-Stunden-Wochen experimentiert wird. Das ist total spannend, weil sehr schöne Modelle dabei herauskommen. Ein 33er-Modell ist nicht nur etwas besser als ein 38er-Modell, der Unterschied ist einfach gewaltig.

Es mag überraschen, dass dieser Unterschied so viel ausmacht, aber hier gibt es einen regelrechten Kippeffekt. Sobald die Menschen praktische Erfahrung mit kürzeren Arbeitszeiten gemacht haben, erscheint weniger Geld nicht mehr so abschreckend wie davor. Nicht zuletzt deshalb ist die Freizeitoption ja auch so erfolgreich.

Was ist besser: Wochenstunden zu reduzieren oder eine sechste Urlaubswoche?

Die allgemeine arbeitswissenschaftliche Empfehlung lautet, Belastungsspitzen zu reduzieren beziehungsweise zeitnah einen entsprechenden Ausgleich zu ermöglichen. Von daher spricht einiges für die allgemeine Arbeitszeitverkürzung. Andererseits gibt es Menschen, denen es leichter fällt, komplett von der Arbeit wegzubleiben als den Arbeitstag zu verkürzen.

Der Erholungseffekt eines Urlaubs klingt relativ schnell ab. Wenn also die sechste Urlaubswoche dazu verwendet wird, den Sommerurlaub zu verlängern, dann bringt das für den Rest des Jahres nur wenig. Kurz gesagt, das Beste wären mehr freie Tage, vor allem nach Belastungsspitzen, das Zweitbeste verlängerte Wochenenden. Im Schichtbetrieb wäre es gut, nach den Arbeitszeiten längere Freizeitblöcke zu haben.

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