Wem Österreich politische Beteiligung verwehrt

Schild eines Wahllokals in Österreich. Symbolbild für Österreich politische Beteiligung
Wer darf in Österreich bei politischen Entscheidungen teilnehmen? | © Adobe Stock/Spitzi-Foto
Müsste man Österreichs Demokratie auf eine Formel bringen, könnte diese lauten „Wer zahlt, schafft an!“. Untere Einkommensschichten dürfen nicht nur immer seltener wählen – sondern wollen das auch immer weniger.
Im Zeitraum 2020 bis 2025 ist die Zahl der Wiener:innen im Wahlalter um 100.000 gestiegen – die Zahl der Wahlberechtigten nahm um 23.000 ab. Mangels Staatsbürger:innenschaft sind mittlerweile 35 Prozent der über 16-Jährigen in Wien von Gemeinderatswahlen ausgeschlossen, Tendenz seit Jahren steigend. Geringverdiener:innen bleibt eine politische Beteiligung in Österreich immer mehr verwehrt. „Die Demokratie ist in Schieflage geraten; sie ist kein Abbild der Gesellschaft mehr, sondern ein stark verzerrtes Spiegelbild“, kritisieren Gerd Valchars, Politikwissenschafter an der Universität Wien, und Martina Zandonella, Sozialwissenschafterin am Wiener FORESIGHT-Institut, Anfang der Woche in einer Pressekonferenz von „Diskurs. Das Wissenschaftsnetz“, einer Initiative zum Transfer von wissenschaftlicher Evidenz engagierter Wissenschafter:innen in die Öffentlichkeit.

Doppelter Klassen-Charakter

Der Ausschluss vom Wahlrecht, so Valchars und Zandonella, betrifft verschiedene Gruppen unterschiedlich stark. Österreichs Demokratie besitze einen doppelten Klassen-Charakter: Einerseits sind es vor allem die unteren Einkommensschichten, die nicht an Wahlen teilnehmen dürfen. Österreichweit sind 66 Prozent der Reinigungskräfte, 60 Prozent der Beschäftigten in Gastronomie und Tourismus oder 41 Prozent der Beschäftigten in der Nahrungsmittelherstellung nicht wahlberechtigt.

Die Demokratie ist in Schieflage geraten;
sie ist kein Abbild der Gesellschaft mehr, sondern ein stark verzerrtes Spiegelbild.

Gerd Valchars, Politikwissenschafter an der Universität Wien

Andererseits sind es vor allem die unteren Einkommensschichten, die nicht an Wahlen teilnehmen wollen – weil sie sich nichts davon erwarten. Menschen mit geringem Einkommen haben seltener das Gefühl, ihre Interessen würden im Parlament vertreten oder sie könnten mit ihrer Stimme etwas bewirken. 70 Prozent des unteren Einkommensdrittels stimmen sogar der Aussage zu, die Politik behandele sie wie einen „Mensch zweiter Klasse“. Entsprechend selten gehen sie zur Urne. Nur 12 Prozent der Menschen im oberen Einkommensdrittel gingen bei den Nationalratswahlen 2024– im unteren Drittel war es fast jeder Dritte.

Wirtschaftliche Macht vs. politische Gleichheit

Der Ausschluss durch die fehlende Staatsbürger:innenschaft und der „Selbstausschluss“ führten dazu, dass sich „wirtschaftliche Machtverhältnisse in politische Machtverhältnisse übersetzen“, so FORESIGHT-Expertin Zandonella. „Das widerspricht der Idee der politischen Gleichheit“.

Mit Blick auf die Wiener Gemeinderatswahlen vom April ergibt sich ein bedenkliches Zerrbild. Zu den 35 Prozent der über 16-Jährigen, die nicht wählen durften, kommen 24 Prozent, die nicht wählen wollten. Jene, die nicht an den Gemeinderatswahlen teilnahmen, erreichten damit die „absolute Mehrheit“, gibt Politikwissenschafter Valchars zu Bedenken. Absolut betrachtet wurden die Koalitionsparteien SPÖ und NEOS von gerade einmal einem Fünftel der über 16-jährigen Wiener:innen gewählt.

Die Hälfte der #Jugendlichen glaubt nicht daran, dass mit politischer Beteiligung etwas erreicht werden kann, so #AK Wien Direktorin Silvia Hruška-Frank. Deshalb wollen wir #Demokratie als Haus bauen. Wir möchten, dass viele junge Menschen einen Platz haben, um #Mitsprache zu lernen und zu üben. 1/2

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— @Arbeiterkammer (@arbeiterkammer.at) 7. April 2025 um 10:21

Um zu verhindern, dass Österreichs Demokratie weiter an Legitimität verliert, brauche es einen vereinfachten Zugang zur Staatsbürger:innenschaft und die Einführung eines Wahlrechts für Nicht-Staatsbürger:innen, wie das in vielen anderen EU-Staaten längst der Fall ist, fordert Valchars. Zandonella ergänzt, dass so „der zunehmenden ökonomischen Ungleichheit und der damit einhergehenden Machtkonzentrationen“ entgegengewirkt werden könne.

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Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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