Der Grund für die Sperre: Das EU-Parlament hatte wiederholt Amazon-Vertreter:innen eingeladen, um über die Arbeitsbedingungen beim E-Commerce-Konzern zu sprechen. Doch Amazon fand jedes Mal Ausreden, um niemanden zu schicken. Es war erst das zweite Mal, dass das EU-Parlament Lobbyist:innen eines Unternehmens so klar in die Schranken wies. Erstmals hatten 2017 Monsanto-Lobbyist:innen Hausverbot bekommen. Ebenso weil der Konzern eine Vorladung ignoriert hatte – in diesem Fall sollte es um das umstrittene Düngemittel Glyphosat gehen. Mit dem Ausschluss von Lobbyist:innen signalisiert das EU-Parlament an andere Lobby-Vertretungen: Damit wir ein offenes Ohr für euch haben, müsst ihr auch eines für uns haben. Es geht darum, dem Lobbyismus Schranken aufzuweisen.
Grenzen für den Lobbyismus
Lobbying hat eher keinen guten Ruf. So ist etwa im Standard-Forum zu lesen: „Was haben Lobbyisten, egal ob von ‚normalen‘ Firmen oder von NGO-Firmen/Vereinen dort überhaupt verloren?“ Der Verein LobbyControl setzt sich für „Transparenz, eine demokratische Kontrolle und klare Schranken der Einflussnahme auf Politik und Öffentlichkeit“ ein und berichtet über Missstände. Auf seiner Website steht: „Manche Formulierungen in Gesetzen gehen auf den Einfluss von Lobbyist:innen zurück, und hinter manch einer angeblich unabhängigen Initiative steckt in Wahrheit ein Industrieverband oder Konzern.“ Lobbyismus steht im Verdacht, dass die Mächtigen – wie Industrieverbände und Konzerne – bei Politiker:innen für ihre Interessen werben können. Während einfache Bürger:innen meist ungehört bleiben. Dass die Kritik nicht ganz von der Hand zu weisen ist, zeigt auch eine Zahl aus dem 2019 von der AK veröffentlichten Bericht „Lobbying in Brüssel – Die Übermacht der Unternehmen brechen“. Demnach kommen auf eine Arbeitnehmer:innenvertretung 50 Organisationen, die Wirtschaftsinteressen vertreten.
Aber wäre die politische Welt ohne Lobbyismus in Ordnung? Würden EU-Politiker:innen mit einem Lobbying-Bann bessere Gesetze machen? Evelyn Regner, Abgeordnete und Vizepräsidentin sowie stellvertretende Delegationsleiterin der SPÖ im Europäischen Parlament, sieht das kritisch. „In der EU und als EU-Parlamentarier:innen können und wollen wir keine Gesetzgebung im luftleeren Raum betreiben. Durch die Zusammenarbeit mit Interessenvertreter:innen stellen wir sicher, dass die Gesetze, die wir auf EU-Ebene demokratisch beschließen, auch sinnvoll für die Menschen und Sektoren in Europa sind, die von der Gesetzgebung betroffen sind.“ Dazu gehören laut Regner neben Arbeitnehmer:innenvertretungen und NGOs auch Industrievertreter:innen. Sie fügt hinzu: „Unsere Aufgabe als gesetzgebendes Organ ist, diese Interessen abzuwägen und auf dieser Basis eine informierte Entscheidung zu treffen.“
Ausschluss nur konsequent
Den Ausschluss der Amazon-Lobbyist:innen hält Regner für richtig. Denn Lobbyismus sei „keine Einbahnstraße“. Lobbyist:innen müssten ihre Ziele, Ausgaben und Themen im Lobby-Transparenzregister verpflichtend offenlegen und auch zur Verfügung stehen, wenn EU-Politiker:innen mit ihnen reden möchten. Diese Bedingungen seien von Amazon nicht eingehalten worden, da sie mehrfach den Austausch mit dem EU-Parlament verweigert hätten. „Das Zutrittsverbot ist somit nur konsequent“, sagt Regner. Dahinter verberge sich natürlich ein anderes Problem, nämlich dass Amazon arbeitnehmer:innenfeindliche Geschäftspraktiken betreibe „und das am liebsten hinter verschlossenen Türen. Daher kämpfen wir auch unermüdlich für bessere Arbeitsbedingungen für die Arbeiter:innen in den Lagerhäusern von Amazon und anderen Großkonzernen“.
Von den schlechten Arbeitsbedingungen können die europäischen Amazon-Betriebsratsmitglieder Gianpaolo Meloni und Agnieszka Mróz ein Lied singen. Sie sind Lagerarbeiter:innen – Meloni im oberitalienischen Piacenza, Mróz im polnischen Posen. Sie machen den Großteil der Gewerkschaftsarbeit in ihrer Freizeit. Eines der Hauptprobleme in den Lagern und Logistikzentren ist das ständig steigende Arbeitspensum. Gianpaolo Meloni, der seit 2012 bei Amazon arbeitet und seit 2018 Vorsitzender des Europäischen Amazon-Betriebsrats ist, sagt: „Wenn man heute weniger arbeitet als gestern und einen Manager sieht, fragt man sich, ob er vielleicht hier ist, weil man zu langsam arbeitet. Man wird dabei beinahe paranoid.“ Sprechen ihn Kolleg:innen während der Arbeitszeit an, zum Beispiel, weil sie Missstände melden wollen, müssen sie und er größte Vorsicht walten lassen.
Was Amazon verschleiern will
Auch Agnieszka Mróz hat in zehn Jahren bei Amazon schon viel Problematisches erlebt. Die Aktivistin der Basisgewerkschaft Inicjatywa Pracownicza – der mit 1.200 Mitgliedern größten Gewerkschaft von Amazon Polen – ist auch stellvertretende Vorsitzende des Europäischen Betriebsrats und Mitglied von Amazon Workers International. Sie berichtete im Jänner bei einer Anhörung des Ausschusses für Beschäftigung und soziale Angelegenheiten im EU-Parlament über die Arbeitsbedingungen in Amazon-Lager- und in den Verteilzentren. Auch dazu war Amazon eingeladen und schickte niemanden. Mróz berichtete, wie die Produktivität der Arbeiter:innen über Scanner elektronisch überwacht werde und auf dieser Basis neue, höhere Ziele gesetzt werden. „Je schneller die Mitarbeiter:innen in der Vergangenheit gearbeitet haben, desto höher ist ihr Ziel in der nächsten Periode.“
Arbeiter:innen, die in einer Woche die Produktivitätsziele erreichen, können eine Woche später für dieselbe Arbeit gekündigt werden, weil sie das neue Ziel nicht schaffen. Mróz’ Gewerkschaft unterstützte aufgrund dieser Überwachung einige Mitglieder bei Klagen wegen Verstoßes gegen die Datenschutz-Grundverordnung. „Obwohl wir einige dieser Fälle gewonnen und die Arbeitnehmer:innen eine Kompensation erhalten haben, behauptet Amazon, das seien individuelle Fälle und führt die Praxis fort.“ Gekündigt werden auch Mitarbeiter:innen, die aufgrund von Krankheit länger abwesend sind. Mit der Begründung, sie würden den Arbeitsprozess durcheinanderbringen. Mróz: „Wie können einzelne Mitarbeiter:innen den Arbeitsprozess in einem Lager mit 3.000 Mitarbeiter:innen durcheinanderbringen?“ Auch in solchen Fällen gewann die Gewerkschaft vor Gericht, aber auch diese Praxis gehe weiter.
Daher kämpfen wir für bessere Arbeitsbedingungen
für die Arbeiter:innen in den Lagerhäusern von Amazon
und anderen Großkonzernen.
Evelyn Regner, Vizepräsidentin
des Europäischen Parlaments
Abschrecken und einschüchtern
Hinzu kommen Fälle von Union Busting, also die Behinderung von Gewerkschaftsarbeit. Mróz: „Die Beziehung zwischen mir als Arbeitnehmer:innenvertreterin und Amazon ist seit Jahren schwierig. Amazon behindert und beschränkt Gewerkschaftsaktivitäten in Polen.“ So sei beispielsweise die Arbeitnehmer:innenvertreterin Maria Malinowska trotz Kündigungsschutzes gekündigt worden. Da sie für Gesundheit und Sicherheit der Arbeitnehmenden zuständig war, wollte sie sich nach dem Tod eines Arbeiters im Posener Lager dem Untersuchungsteam anschließen. Mróz: „Amazon behauptete fälschlicher- und absurderweise, und ohne das nachzuweisen, die Kollegin hätte den toten Körper des Arbeiters fotografiert. Das Arbeitsgericht bestätigte, dass die Kündigung unrechtmäßig war und Amazon negativ und voreingenommen gegenüber Gewerkschaften eingestellt ist.“
Ein weiteres Beispiel ist die Behinderung von Streikmaßnahmen. Da in Polen die Hälfte aller Mitarbeiter:innen eines Unternehmens im Land – im Fall von Amazon 10.000 von insgesamt 20.000 Personen – einem Streik zustimmen müssen, damit er stattfinden kann, sammelten Mróz und ihre Kolleg:innen in mehreren Werken Unterschriften. Nachdem sie 5.000 Unterschriften hatten, habe Amazon sie nicht mehr in weitere Werke gelassen. Mróz: „Hinter solchen Aktivitäten steckt meiner Meinung nach die Absicht, Gewerkschaftsmitglieder abzuschrecken und einzuschüchtern.“ Mróz klagt auch explizit das polnische Recht an, das Streiks praktisch unmöglich mache. Lobbyismus hilft, solche Praktiken unter den Teppich zu kehren.
Kein seriöser Austausch
Über dies und mehr würden die EU-Parlamentarier:innen gern mehr erfahren. So war etwa ein Besuch von Amazon-Lagern im Dezember in Leipzig und Posen geplant, doch auch diesen Termin sagte Amazon kurzfristig ab – mit der Begründung, in der Vorweihnachtszeit sei zu viel los. Genau das hätten sich die Politiker:innen gerne vor Ort angesehen. Stattdessen führen Amazon-Vertreter:innen lieber Einzelgespräche. Der EU-Abgeordnete Dennis Radtke erzählte bei der Anhörung im Jänner, dass Amazon direkt oder über Lobbyingagenturen mit ihm Kontakt aufnehmen wolle.„Ich bin dazu nicht mehr bereit.“
Er habe einen Besuch vor Ort gemacht, unter der Bedingung, dass Vertreter:innen des Betriebsrats teilnehmen. „Als ich dann dort angekommen bin, war plötzlich der Betriebsratsvorsitzende krank. Der Stellvertreter im Urlaub, alle anderen hatten sowieso keine Zeit. Tut mir leid, das ist aus meiner Sicht kein seriöser Austausch.“ Als einer von mehreren Parlamentarier:innen betonte er, dass sich das EU-Parlament das nicht gefallen lasse: „Man soll andere für dumm verkaufen.“
Trotz der schlechten News für Amazon müssen wir
mehr tun, um zu gewinnen. Wir müssen Amazon
dazu drängen, die Gesetze mehr zu respektieren.
Gianpaolo Meloni, Vorsitzender des
Europäischen Betriebsrats bei Amazon
Duckmäuser-Methoden
Agnieszka Mróz und Gianpaolo Meloni kennen die Duckmäuser-Methoden nur zu gut. Auch auf regionaler und nationaler Ebene. Meloni: „Es ist unmöglich, einen Dialog mit Amazon zu führen.“ Man werde immer wieder vertröstet und sei man kurz davor, etwas zu erreichen, ändere Amazon das Management, das dann sagt: „Wir sind neu und brauchen Zeit, um die Situation zu verstehen.“ Es sei „unmöglich, gegen Amazon zu gewinnen“. Auch für Agnieszka Mróz ist das nichts Neues. „Amazon zeigt eine Kontinuität darin, europäische Institutionen zu ignorieren. Für uns ist das nicht überraschend, denn Amazon ignoriert und bekämpft aktiv Gewerkschaften in Europa und nimmt Sozialpartner nicht ernst.“
Ob der „gute Anfang“, den das Europäische Parlament mit dem Rauswurf der Lobbyist:innen gesetzt hat, zu Verbesserungen der Arbeitsbedingungen bei Amazon führen wird, ist abzuwarten. Gianpaolo Meloni glaubt nicht, dass der Rauswurf im Ringen mit dem Lobbyismus reichen wird. „Trotz der schlechten News für Amazon müssen wir mehr tun, um zu gewinnen. Wir müssen Amazon dazu drängen, die Gesetze mehr zu respektieren und die Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften der Arbeiter:innen zu beachten.“ Um zu zeigen, dass sie „nicht so schlecht“ sind, sollten sie versuchen, „auf eine gute Art zu kooperieren“. Man könnte hinzufügen: mit oder ohne Lobbyist:innen.
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