Interview: Jeder gegen jeden – wenn Vorurteile der Gesellschaft schaden

(C) Michael Mazohl
Laura Wiesböck ist Soziologin an der Universität Wien. Sie forscht zu Formen, Ursachen und Auswirkungen von sozialer Ungleichheit. Für ihre akademische Arbeit wurde sie mit dem Theodor-Körner-Preis und dem Bank-Austria- Forschungspreis ausgezeichnet. In ihrem Buch „In besserer Gesellschaft. Der selbstgerechte Blick auf die Anderen“ beschreibt sie, warum sich Bevölkerungsgruppen voneinander abgrenzen und spürt den Ursachen der menschlichen Sehnsucht nach Überlegenheit nach.

Inhalt

  1. Seite 1 - Wieso Abgrenzung und Abwertung?
  2. Seite 2 - Sorgen um den Sozial­staat
  3. Seite 3 - Familienfeindlichkeit und fehlende Gleichstellung
  4. Auf einer Seite lesen >
Soziologin Laura Wiesböck von der Universität Wien hat beobachtet, dass in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen mehr übereinander geschimpft, statt miteinander gesprochen wird. Viele nehmen politische Auffassungsunterschiede als feindselig wahr. Für die Gesellschaft hat das gravierende Folgen.

Arbeit&Wirtschaft: Linke vs. Rechte, Emanze vs. Macho: In Ihrem Buch „In besserer Gesellschaft“ schreiben Sie, dass es heute viele Gruppen gibt, die einander abwerten. Wie tief geht die gesellschaftliche Spaltung?

Laura Wiesböck: Es sind auf vielen Ebenen Entsolidarisierungsprozesse zu beobachten, etwa im Bereich Arbeitslosigkeit, wo es einseitige Schuldzuweisungen gibt: Man habe sich das ausgesucht, ruhe sich auf Kosten anderer aus. Abwertende Vorurteile im Bereich Migration und Flucht sind nicht neu, aber aktuell sehr deutlich zu beobachten. Migration, Arbeitslosigkeit und Armut – all das wird zur moralischen Werteprüfung, ob man Ansprüche auf soziale Absicherung auch verdient hat.

Migration, Arbeitslosigkeit und Armut – all das wird zur moralischen Werteprüfung, ob man Ansprüche auf soziale Absicherung auch verdient hat.

Wie gehen wir mit Menschen um, die eine andere Einstellung oder Lebensführung haben?

Politische Andersartigkeit wird zunehmend als feindliche Gesinnung wahrgenommen. Das Gegenüber wird nicht nur zu einem ideologischen Gegner, sondern zu einem Feind, dem man unterstellt, den eigenen Lebensstil zerstören zu wollen. Durch diesen Umgang tritt ein Grundelement der Demokratie in den Hintergrund: der Kompromiss.

Wieso braucht der Mensch Abgrenzung?

Weil er ein soziales Wesen ist und seine Identität stark über eine Gruppenzugehörigkeit bezieht. Soziale Gemeinschaften bauen auf Grenzziehungen auf. Dagegen ist auch nichts einzuwenden. Wenn man aber andere Gruppen nicht nur als andersartig, sondern als minderwertig wahrnimmt, kann das den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden.

Vor allem, wenn man nicht miteinander redet, sondern übereinander.

Ja, oder wenn man Menschen vorschnell kategorisiert. Oft wird keine Kritik an Aussagen geübt, sondern versucht, die Person zu denunzieren. Das kann man auch im progressiven Milieu beobachten, etwa wenn Social-Media-NutzerInnen sagen, ein Politiker sei dumm, statt auf seine Aussage einzugehen.
Ich sehe das sehr kritisch. Persönliche Abwertung reduziert Komplexität. Man erspart sich, immer wieder auf Inhalte einzugehen.

Wer profitiert davon?

Chancenungleichheit politisch gegensteuern
Wenn bestimmte Gruppen abgewertet werden und weniger Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen haben, profitieren häufig Personen in privilegierten Positionen davon. Privilegien sind unverdiente Vorteile in der Gesellschaft, die bei der Geburt bestimmt werden und über gesellschaftliche Chancen entscheiden. Dazu zählen Geschlecht, Staatsbürgerschaft, Hautfarbe, sexuelle Orientierung oder auch die soziale Herkunft der Eltern. Armut wird in Österreich stark vererbt. Für mich als Soziologin ist es interessant zu sehen, welche Maßnahmen es hierzulande und in anderen Ländern gibt, um Chancenungleichheit politisch gegenzusteuern.

Die Debatte um 1,50 Euro Stundenlohn für AsylwerberInnen oder die Staffelung der Zuschüsse für Kinder bei der Mindestsicherung: Was halten Sie von diesen Maßnahmen?

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wissen wir, dass mit diesen Maßnahmen Armut erzeugt wird. Das ist für das gemeinschaftliche Zusammenleben hinderlich. Wir können unterschiedliche Effekte prognostizieren: So könnte die Abhängigkeit von migrantischen Frauen gegenüber deren Partnern zunehmen, wenn sie nicht ausreichende Deutschkenntnisse haben und die Mindestsicherung um 300 Euro gekürzt wird. Durch diesen ökonomischen Druck können sich etwa Frauen in einer Gewaltbeziehung noch schwerer aus dieser Spirale befreien.

Welche Strategie wird verfolgt?

Es ist ersichtlich, dass versucht wird, einzelne Gruppen gegeneinander auszuspielen, vor allem in weniger privilegierten sozialen Schichten.

Auf welchen Ebenen finden diese Abwertungen statt?

Wir sind stark geprägt von Sprache, Diskursen und Bildern. In meinem Buch beschreibe ich etwa, wie Armut in gescripteten Reality-TV-Formaten auf menschenverachtende Weise dargestellt wird. Gezeigt werden übergewichtige Menschen, die ihre Kinder vernachlässigen, ungesund leben oder gewalttätig sind. Diese Bilder schaffen eine gewisse Form von Wahrnehmung.

Armut wird in gescripteten Reality-TV-Formaten oft auf menschenverachtende Weise dargestellt: Gezeigt werden übergewichtige Menschen, die ihre Kinder vernachlässigen, ungesund leben oder gewalttätig sind.

Der abwertende Blick kann übernommen werden, selbst wenn man Teil dieser Gruppe ist. Dann wollen sich Betroffene innerhalb der abgewerteten Gruppe abgrenzen, etwa wenn ein Arbeitsloser auf Langzeitarbeitslose herabblickt, die er im Gegensatz zu sich als leistungsunwillig bezeichnet, oder wenn eine Migrantin die FPÖ wählt und sich gegen andere „Ausländer“ positioniert, weil die sich nicht integrieren wollen.

Apropos Wording: Es heißt nun Sozialhilfe statt Mindestsicherung.

Sprache und Diskurse vermitteln gewisse Werte. Es kommt darauf an, aus welcher Perspektive armutsbetroffene Menschen betrachtet werden: als Bittsteller, die für soziale Absicherung dankbar sein müssen – oder als Gesellschaftsmitglieder mit Anspruch auf ein würdevolles Leben.

Inhalt

  1. Seite 1 - Wieso Abgrenzung und Abwertung?
  2. Seite 2 - Sorgen um den Sozial­staat
  3. Seite 3 - Familienfeindlichkeit und fehlende Gleichstellung
  4. Auf einer Seite lesen >

Über den/die Autor:in

Sandra Knopp und Udo Seelhofer

Sandra Knopp ist freie Journalistin für verschiedene Radio und Printmedien, und hat die Themen Arbeitsmarkt, Soziales und Gesellschaftspolitik als Schwerpunkte. Udo Seelhofer war früher Lehrer und arbeitet seit 2012 als freier Journalist. Seine Schwerpunkte sind Gesellschaft, soziale Themen und Religion. Im Team wurden sie beim Journalismuspreis „Von unten“ 2017 für ihre Arbeit&Wirtschaft Reportage „Im Schatten der Armut“ ausgezeichnet.

Sie brauchen einen Perspektivenwechsel?

Dann melden Sie sich hier an und erhalten einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.

Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.