Interview: Auch Gewerkschaften müssen global denken

Sophia Reisecker, geb. 1989 in Innsbruck, dort Matura und Soziologiestudium an der Uni Innsbruck, neben dem Studium in der ÖH-Politik aktiv und gewerkschaftliche Jugendfunktionärin. Seit 2016 in der inter- nationalen Abteilung der GPA-djp in Wien tätig, seit einem Jahr Leiterin der Abteilung.
(C) Michael Mazohl

Inhalt

  1. Seite 1 - Internationale Gewerkschaftsarbeit
  2. Seite 2 - Internationale Projekte
  3. Seite 3 - Auswirkungen der Globalisierung
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Sophia Reisecker leitet die internationale Abteilung der GPA-djp. Im Interview mit Arbeit&Wirtschaft schildert sie die aktuellen Herausforderungen und fordert einen europäischen Rahmen für internationale Sorgfaltspflicht.

Arbeit&Wirtschaft: Was kann internationale Gewerkschaftsarbeit ausrichten?

Möglichkeiten internationaler Gewerkschaftsarbeit:

  • grenzübergreifend in einem Projekt zusammenarbeiten
  • Gewerkschaften, die auf europäischer beziehungsweise globaler Ebene kooperieren
Sophia Reisecker: Da ist einmal die Frage, wie man internationale Gewerkschaftsarbeit definiert: International kann zum einen sein, dass man grenzübergreifend in einem Projekt zusammenarbeitet. Oder Gewerkschaften kooperieren auf europäischer beziehungsweise globaler Ebene.

Auf europäischer Ebene hatten wir zum Beispiel im vergangenen September in Wien eine Arbeitszeitkonferenz gemeinsam mit UNI Europa, das ist der europäische Dachverband für Dienstleistungsgewerkschaften. Die Konferenz hatte das Ziel, den Blick bewusst auf verschiedene tarifvertragliche Regelungen zu Arbeitszeit, aber auch Arbeitszeitverkürzung quer durch Europa zu werfen, sich Best-Practice-Modelle anzusehen und gemeinsame Strategien zu entwickeln.

Ein Ergebnis war, dass die europäischen Branchengewerkschaften, in diesem Fall im Dienstleistungsbereich, beschlossen, gemeinsam eine Forderung nach mehr Freizeit beziehungsweise qualitativ hochwertiger Freizeit für Beschäftigte zu verfolgen. Thema und Zeitpunkt der Konferenz waren insofern zufälligerweise sehr passend, als in Österreich kurz zuvor der 12-Stunden-Tag beschlossen worden war – bei der Planung wussten wir noch gar nicht, was die Regierung hier vorhat. Fast 100 GewerkschafterInnen aus anderen Ländern haben dann einen offenen Brief an Bundeskanzler Sebastian Kurz geschrieben, in dem sie die Rücknahme dieser beschäftigtenfeindlichen Maßnahmen forderten.

Man bündelt also die Kompetenzen der Gewerkschaften in den verschiedenen Ländern, um dann aber auch auf nationaler Ebene Ziele besser zu erreichen?

Genau. Das ist eine Möglichkeit und ein Teil der Arbeit. Wichtig ist aber auch das Zusammenwirken von Gewerkschaftsarbeit in der Europäischen Union. Die europäischen Branchenverbände und auch der Europäische Gewerkschaftsbund haben in ihrem Portfolio auch, Lobbying zu betreiben und EU-Politik in diese Richtung zu beeinflussen, dass am Ende des Tages etwas Positives für die Beschäftigten herauskommt – beziehungsweise in der Realität auch oft zu vermeiden, dass sich Industrieinteressen eins zu eins durchsetzen, wodurch dann ArbeitnehmerInnen letztlich benachteiligt werden.

Können Sie ein konkretes Beispiel nennen, bei dem durch Lobbyarbeit etwas erreicht wurde?

Vor Kurzem, noch unter der alten Kommission und dem vorherigen Europäischen Parlament, gab es ein großes Paket im Bereich Unternehmensrecht. Da konnten durch die Arbeit des Europäischen Gewerkschaftsbundes Punkte verbessert werden, was etwa Mitbestimmung am Arbeitsplatz betrifft. Belegschaftsvertretungen haben nun bis zu einem gewissen Grad Mitspracherecht bei Unternehmensumstrukturierungen und müssen informiert werden. Durchaus auch mit ein Erfolg der Gewerkschaftsbewegung ist die Euro­päische Säule sozialer Rechte. Es gibt aber noch viel zu tun, das Machtungleichgewicht der Interessenvertretungen in der EU ist enorm.

Es gibt aber noch viel zu tun, das Machtungleichgewicht der Interessenvertretungen in der EU ist enorm.

Wo sind andererseits die Grenzen der internationalen Gewerkschaftsarbeit?

Die Kollektivvertragspolitik ist sehr national geprägt, und da gibt es große Unterschiede. Woran wir wirklich schon seit Jahren arbeiten, ist eine Lohnangleichung innerhalb Europas. Insbesondere mit dem Beitritt der mittel- und osteuropäischen Staaten zur Europäischen Union hat sich ein großer Lohn-Gap aufgetan.

Können Sie das beziffern?

Vom Europäischen Gewerkschaftsinstitut gab es 2017 eine Studie, die Löhne verglichen hat. Demnach werden in den elf mittel- und osteuropäischen Staaten 944 Euro weniger bezahlt als in Deutschland, und da wurden die Lebenshaltungskosten bereits berücksichtigt. Andere Berechnungen kommen sogar auf 1.058 Euro Lohnunterschied, wenn man auch Alter und Bildung der Arbeitskräfte als Faktoren miteinbezieht. Es sind also etwa 1.000 Euro Unterschied, ob ich in einem osteuropäischen Land oder in Deutschland arbeite.

Das führt zu Lohn- und Sozialdumping innerhalb Europas. Gewerkschaften versuchen natürlich auf nationaler Ebene, auch mit Unterstützung auf europäischer Ebene, dieses Lohngefälle auszugleichen. Da gab es auch eine große Kampagne des Europäischen Gewerkschaftsbundes vor zwei Jahren, „Europe needs a pay rise“, da die Lohnentwicklung seit der Krise vor über zehn Jahren zurückgeblieben ist.

Leider sehen wir in der Realität dann aber genau den gegenteiligen Trend, nämlich dass Kollektivverträge aufgekündigt werden, dass Branchenkollektivverträge unter Angriff stehen und infrage gestellt werden, auch in Ländern wie Frankreich. Dass viele politische Parteien und Regierungen versuchen, von der Branchenebene auf die Unternehmensebene herunterzukommen, um so die Wettbewerbsfähigkeit und die Flexibilität zu erhöhen. Das führt letztlich dazu, dass Löhne tendenziell eher sinken und in den mittel- und osteuropäischen Staaten derzeit auch kollektivvertragsfreie Räume bestehen.

In welche internationale Projekte sind Sie aktuell eingebunden?

Ein großer Teil meiner Arbeit besteht aus der Betreuung von Europäischen Betriebsräten. Seit Mitte der 1990er-Jahre kann in multinationalen Konzernen ein Europäischer Betriebsrat gegründet werden, wodurch es zumindest Informationspflichten des Arbeitgebers gibt und der Europäische Betriebsrat zu gewissen Fragen angehört werden muss. Das ist zwar nicht vergleichbar mit Mitbestimmungsrechten, wie wir sie in Österreich haben. Durch den Europäischen Betriebsrat gibt es aber die Möglichkeit, früher zu Informationen zu kommen und globale Unternehmensstrategien besser zu verstehen und das dann auch in die eigene Strategie miteinzubetten. Es gibt in Europa an die 2.400 dieser Europäischen Betriebsräte in großen Konzernen, zum Beispiel in Banken, in der Autoproduktion oder der Metallindustrie. Wir begleiten und unterstützen sie, sowohl strategisch als auch in rechtlichen Fragen. Aktuell ist die Frage der Digitalisierung ein großes Thema.

„Französische Konzerne können in Frankreich zur Verantwortung gezogen werden, wenn sie im Ausland aktiv sind und dort
Rechte verletzen.“
– Sophia Reisecker

Ein wichtiges aktuelles Projekt ist zudem die gewerkschaftliche Vernetzung im Unternehmen Amazon. Amazon ist ein internationaler Konzern, der in verschiedenste Branchen hineinwirkt und die traditionellen Gewerkschaftsstrukturen herausfordert. Amazon ist im Finanzsektor mittlerweile genauso aktiv wie in der Logistik oder im Handel.

Ein wichtiges aktuelles Projekt ist die gewerkschaftliche Vernetzung im Unternehmen Amazon.

Das bringt die heimische Wirtschaft unter Druck und stellt eine große Veränderung in der Gesamtbranchenlandschaft dar. Weil Amazon versucht, Gewerkschaften so gut wie möglich draußen zu halten, sind wir sehr bemüht, uns als Gewerkschaft zu vernetzen, Solidarität zu zeigen, wenn es an einem Standort zu Problemen kommt. Und das ist schon eine Erfolgsvariante.

Das wäre dann ein Beispiel, dass es angesichts der Globalisierung auch eine globale Gewerkschaftsbewegung braucht.

Genau. Die Probleme mit Amazon werden wir in Österreich nicht allein lösen, und selbst wenn Amazon sich dazu bereit erklären würde, sich an alle Vorschriften in Österreich zu halten und mit einem Betriebsrat zusammenzuarbeiten, ändert das nichts an der Gesamtkonzernstrategie, die destruktiv ist. Zu erwähnen wäre hier auch die Notwendigkeit einer besseren Steuerpolitik: Durch Schlupflöcher vermeidet Amazon weitgehend, in Österreich beziehungsweise Europa Steuern zu zahlen.

Österreich hat traditionell starke Gewerkschaften. In anderen Ländern werden GewerkschafterInnen verfolgt. Wo haben es ArbeitnehmervertreterInnen aktuell besonders schwer?

Seit dem Herbst ist Brasilien ein sehr schwieriges Land für die Beschäftigten. Abgesehen davon, dass der Präsident homophob und sexistisch ist, hat er auch ein klares Programm gegen Gewerkschaften. Tatsache ist, dass in vielen lateinamerikanischen, aber auch afrikanischen und asiatischen Staaten Gewerkschaftsmitglieder von Folter und Tod bedroht sind. Gewerkschaftliche Organisierung bedeutet dort nicht nur, psychischem Druck durch den Arbeitgeber ausgesetzt zu sein, sondern dass das eigene Leben bedroht ist oder die Familie mit hineingezogen wird.

Tatsache ist, dass in vielen lateinamerikanischen, aber auch afrikanischen und asiatischen Staaten Gewerkschaftsmitglieder von Folter und Tod bedroht sind.

Gewalt gegen Gewerkschaften ist aber auch anderswo auf der Tagesordnung. Das sieht man zum Beispiel in Frankreich, wo Gewerkschaftsdemonstrationen durch das Militär oder die Polizei mit harter Gewalt begegnet wird. Aber auch in Simbabwe gab es vor einigen Monaten größere Proteste, die vor allem von der Gewerkschaftsbewegung initiiert wurden, und auch hier wurde sehr hart von Staatsseite dagegen vorgegangen.

Wie sieht die Situation in China aus?

In China gibt es Gewerkschaften, die aber sehr eng mit dem Staat zusammenarbeiten und sicherlich nicht eins zu eins mit dem vergleichbar sind, was wir als Gewerkschaften verstehen. Aber einen einheitlichen Gewerkschaftsbegriff gibt es nicht einmal innerhalb von Europa. Die Gewerkschaften aus China sind allerdings nicht in die internationalen Gewerkschaftsverbände miteingebunden.

Wie kann eine internationale Unterstützung für verfolgte Gewerkschaften und GewerkschafterInnen aussehen?

ILO steht für „International Labour Organization“, also eine internationale Arbeitsorganisation.
Es hat kürzlich eine Konferenz der ILO stattgefunden, das ist eine internationale Arbeitsorganisation (Anm.: International Labour Organization), die zur UNO gehört. Es gibt eine Reihe von ILO-Kernarbeitsnormen, die auch das Recht, sich zu organisieren, festschreiben, und die ILO beobachtet Jahr für Jahr, ob gegen diese Kernarbeitsnormen verstoßen wird. Da gibt es sehr ausführliche Berichte mit einem Rating, wie gewerkschaftsfeindlich oder -freundlich einzelne Länder sind. Diese Veröffentlichungen kann man wiederum verwenden, um Druck aufzubauen.

Bei der letzten ILO-Konferenz im Juni 2019 ist es den Gewerkschaften übrigens gelungen, eine neue Norm einzuführen. Diese schreibt den Schutz vor Gewalt am Arbeitsplatz vor. Nun sind die einzelnen Staaten und die Unternehmen gefordert, Maßnahmen zur Bekämpfung und Verhinderung von Gewalt und Belästigung zu setzen.

Ein Instrument, das insbesondere für die nächste EU-Kommissionsperiode diskutiert wird, sind Handelsabkommen der Europäischen Union mit anderen Staaten. Hier soll, wenn es nach den Gewerkschaften geht, Arbeitsrecht aufgenommen werden. Wird dieses in einem Staat verletzt, wäre das dann sanktionierbar. Das wäre ein großer Fortschritt.

Wirtschaftsmärkte sind heute grundsätzlich nicht abgeschlossen. Die Globalisierung hat auch Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. In Europa werden billig in Indien oder Pakistan produzierte Textilien verkauft. Müssen sich Gewerkschaften auch in anderen Ländern einbringen und welche Möglichkeiten gibt es da?

Natürlich sind national immer die Gewerkschaften zuständig, die auch dort sind. Da arbeiten wir sehr stark mit internationalen Gewerkschaftsdachverbänden zusammen. In der Textilbranche sind das zwei: zum einen die UNI Global Union, die unter anderem den Handelsbereich organisiert, und zum anderen die IndustriALL, die die Industrie organisiert. In diesen Verbänden gibt es auch Netzwerke. Diese versuchen GewerkschafterInnen aus den verschiedenen Ländern zusammenzubringen, den Austausch zu ermöglichen, damit man erfährt, wie die Arbeitsbedingungen in den anderen Ländern sind, wo Probleme liegen, aber auch um gemeinsam Strategien und Kampagnen zu entwickeln.

Gerade in der Textilbranche sind in den vergangenen Jahren auch einige Erfolge gelungen. So wurden Unternehmen angeklagt und mussten empfindliche Strafen zahlen und in weiterer Folge auch die Arbeitsbedingungen verbessern.

Etwas, was wir auch anstreben, ist ein europäischer Rahmen für internationale Sorgfaltspflicht.

Etwas, was wir auch anstreben, ist ein europäischer Rahmen für internationale Sorgfaltspflicht. Es gibt seit einigen Jahren in Frankreich ein Gesetz über die Sorgfaltspflicht von französischen Konzernen. Wenn ein französischer Konzern in anderen Ländern aktiv ist, ist er verpflichtet, eine Risikoabschätzung zu machen für das kommende Jahr, ob

(C) Michael Mazohl

entlang der Wertschöpfungskette, der Auftragskette Gefahren bestehen, wie zum Beispiel desolate Gebäude. Und wenn es zu einem Arbeitsunfall oder zu einem Verstoß gegen Rechte in einem Land kommt, dann kann ein französischer Konzern auch vor einem französischen Gericht zur Verantwortung gezogen werden.

Das bedeutet zum einen, dass die Strafen höher sind als beispielsweise in Pakistan, zum anderen aber bedeutet es, dass es eine andere Öffentlichkeit bekommt und dieser Konzern dann viel mehr im Kreuzfeuer der Medien steht, was auch KonsumentInnenkritik nach sich zieht. Ein solches Gesetz wäre auch auf europäischer Ebene wünschenswert.

Von
Alexia Weiss

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/19.

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Über den/die Autor:in

Alexia Weiss

Alexia Weiss, geboren 1971 in Wien, Journalistin und Autorin. Germanistikstudium und Journalismusausbildung an der Universität Wien. Seit 1993 journalistisch tätig, u.a. als Redakteurin der Austria Presse Agentur. Ab 2007 freie Journalistin. Aktuell schreibt sie für das jüdische Magazin WINA sowie für gewerkschaftliche Medien wie die KOMPETENZ der GPA-djp oder die Gesunde Arbeit. 2022 erschien ihr bisher letztes Buch "Zerschlagt das Schulsystem ... und baut es neu!" (Verlag Kremayr & Scheriau).

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