Historie: Es begann vor 150 Jahren

Demonstration nach dem Abbruch von KV-Verhandlungen 2015. Auch in der Zweiten Republik sind die Verhandlungen alles andere als eine leichte Routine.
© Archiv der Produktionsgewerkschaft PRO-GE
Kollektivverträge, wie sie in Österreich abgeschlossen werden, sind eine weltweite Besonderheit. Das Recht darauf musste von den Gewerkschaften über 150 Jahre Schritt für Schritt erkämpft werden. Es zu sichern ist immer wieder eine Herausforderung.
Kollektivvertragsverhandlungen werden oft als eigentlich nicht notwendiges Ritual mit einem vorhersehbaren Ergebnis angesehen, und die Medien verstärken diesen Eindruck häufig noch. In Wirklichkeit gehören KV-Verhandlungen zu den wichtigsten innenpolitischen Ereignissen, die unser aller Leben wesentlich mitprägen. Ihre Bedeutung lässt sich am besten durch einen Vergleich sichtbar machen: Das österreichische Bruttoinlandsprodukt lag in den letzten Jahren bei etwa 400 Milliarden Euro, je nach Wirtschaftslage darunter oder darüber, und bei den KV-Verhandlungen wurden jeweils etwa 100 Milliarden Euro an Lohnsumme bewegt. Welche Folgen ein Lahmlegen dieses „Ritus“ haben würde, muss da nicht näher erklärt werden.

Der Abschluss von Kollektivverträgen ist keineswegs selbstverständlich und wurde hart erkämpft. Bevor es sie gab, befanden sich Arbeitnehmer*innen in einer ähnlichen Situation, wie sie die meisten Verkäufer*innen in der Trödelshow „Bares für Rares“ im Händlerraum erleben: Allein auf sich gestellt, boten sie ihre Ware, die Arbeitskraft, an und waren darauf angewiesen, wie die Käufer*innen den Marktpreis und die Profitmöglichkeit gerade einschätzten. Dabei versuchte man, sie in dem falschen Glauben zu belassen, sie hätten als Einzelne die gleichen Chancen, das Beste für sich herauszuholen, wie die Unternehmer*innen, die ihre Arbeitskraft kaufen. Erst die Mini-Schritte zur Demokratie ab 1867 brachten die Möglichkeit, Fachvereine zu gründen und die Entkriminalisierung der Gewerkschaftstätigkeit durchzusetzen. Durch das Koalitionsgesetz von 1870 stand das Verhandeln über bessere Löhne und Arbeitsbedingungen nicht mehr unter Strafe, andere Gesetze beschnitten dieses Freiheitsrecht aber wieder stark. Noch immer konnte zum Beispiel ein Fachverein aufgelöst werden, wenn er eine „Lohnfindungssektion“ einrichtete, um die Verhandlungen gut vorzubereiten – wie es den Schneider*innen passiert ist. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts gelang es den Buchdruckern vorzupreschen und als erste Berufsgruppe einen modernen überbetrieblichen KV abzuschließen. Sie hatten mehr Freiheiten als andere Arbeitnehmer*innen, weil von ihrer Arbeit das Funktionieren der Kommunikation auch in Militär und Staatsverwaltung abhing. Die meisten Verträge, die Gewerkschaften dann bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts abschlossen, waren aber noch Firmenkollektivverträge oder galten bestenfalls regional für ein Gewerbe.

Der Kollektivvertrag der Wiener Bäckereiarbeiter*innen aus dem Jahr 1923. Vertragspartnerin war die gewerbliche Genossenschaft, die Handelskammer (Wirtschaftskammer) hatte noch nicht Kollektivvertragsfähigkeit.

Der Durchbruch

Auch das erste KV-Gesetz der demokratischen Republik von 1919 konnte den Widerstand der Unternehmer*innen, vor allem der Industrie, gegen überbetriebliche Verträge nicht überwinden, aber der KV-Abschluss von Gewerkschaften war jetzt vorgesehen und anerkannt, sie wurden „kollektivvertragsfähig“. Das Gesetz kann vor allem auch als Durchbruch angesehen werden, weil es die Rechtswirksamkeit der Verträge sicherstellte. Kein Unternehmen, das den Vertrag unterschrieb, konnte seitdem einfach aus dem KV aussteigen, wie das zuvor sehr oft vorgekommen war.

Die Grundlage für „echte“ Kollektivverträge, für die das Verhandlungsmandat mit ganz wenigen Ausnahmen nur an Gewerkschaften und gesetzliche Interessenvertretungen vergeben werden darf, brachte 1947 erst das KV-Gesetz der Zweiten Republik – einer der großen Gewerkschaftserfolge nach zwölf Jahren, in denen faschistische Regime die Gewerkschaften gleichgeschaltet und zerstört hatten. Seine Eckpunkte, seit 1974 im Arbeitsverfassungsgesetz verankert, gelten noch immer. Dazu kommt, dass eine Bestimmung aus dem Jahr 1930, die ursprünglich gegen die Gewerkschaften gerichtet war, das Gegenteil erreicht hat: In Österreich gelten Kollektivverträge auch für Arbeitnehmer*innen, die keine Gewerkschaftsmitglieder sind. Allein dadurch ist die gewerkschaftliche Verhandlungsposition stärker als in den meisten anderen Ländern.

Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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