Europa sozialer machen

Quelle: http://www.oecd.org/els/benefits-and-wages-statistics.htm
Quelle: http://www.oecd.org/els/benefits-and-wages-statistics.htm

Inhalt

  1. Seite 1 - Verbindliche EU-Mindeststandards wären ein erstrebenswertes Ziel
  2. Seite 2 - Agenda für sozialen Fortschritt
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EU-Mindeststandards für die Arbeitslosenversicherung: ein konkreter Vorschlag für ein soziales Europa.
Die EU hat schon bessere Tage erlebt. Die vergangenen Jahre waren durch schmerzhafte Erfahrungen aufgrund der Wirtschafts- und Finanzkrise geprägt. Aktuell erholt sich die Wirtschaft, viele Menschen fühlen sich aber sozial „abgehängt“, was nicht zuletzt im Brexit-Referendum zum Ausdruck kam. Aktuell geht die Arbeitslosigkeit zurück, doch gibt es massive Unterschiede zwischen den Ländern: So lag die Arbeitslosenquote im Juni in Tschechien bei zwei Prozent, während sie in Griechenland 20 Prozent ausmachte.

Vor allem bei Jugendlichen ist die Arbeitslosigkeit in einigen Ländern nach wie vor alarmierend hoch. Beinahe ein Viertel der EU-Bevölkerung ist von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Im Hinblick auf diese soziale Schieflage sehen viele Menschen die EU eher als Teil des Problems und nicht als Teil der Lösung. Somit wäre nun der richtige Zeitpunkt für EU-Initiativen für ein soziales Europa.

20 Grundsätze

In der Tat tut sich etwas: Erstmals seit 20 Jahren fand im November 2017 ein EU-Sozialgipfel statt. Feierlich proklamierten die Staats- und Regierungschefs dort die „Europäische Säule sozialer Rechte“. Doch wie ist diese zu bewerten?

Es handelt sich dabei um einen Katalog von 20 Grundsätzen, die dazu beitragen sollen, dass soziale Rechte in der EU besser umgesetzt werden. Die Erklärung ist symbolisch von großer Bedeutung, auch wenn sie unmittelbar keine Veränderungen bewirkt. Die Grundsätze sind unverbindlich und dienen als „Kompass“ für beschäftigungspolitische und soziale Ergebnisse.

Verschlechterungen

In der EU hat sich der soziale Schutz in den letzten Jahren, vor allem in den Krisenländern, verschlechtert. Leistungen der sozialen Sicherheit sollten so gestaltet sein, dass bei Eintritt eines Risikofalls wie Krankheit, Alter, Berufsunfähigkeit oder Arbeitslosigkeit ein angemessener Lebensstandard und Schutz vor Armut gewährleistet ist. Dies ist heute oftmals nicht (mehr) der Fall. Verbindliche Mindeststandards, die für alle EU-Mitgliedstaaten gelten, wären daher ein erstrebenswertes Ziel.

In den letzten Jahren wurden soziale Anliegen auf EU-Ebene stark zurückgedrängt. Es braucht nun wieder neue Impulse. Bei den Arbeitslosenversicherungssystemen der EU-Mitgliedstaaten könnte angesetzt werden. In der Europäischen Säule sozialer Rechte ist festgeschrieben, dass Arbeitslose ein Recht auf „angemessene Leistungen von angemessener Dauer“ haben. In der Realität existieren beim Schutzniveau der Arbeitslosenversicherung aber große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten.

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Sinnvolle Funktion

Die Systeme der sozialen Sicherheit sind sehr unterschiedlich. Die Einführung von Mindeststandards würde die Zuständigkeit der Mitgliedstaaten für die Arbeitslosenversicherung nicht antasten. Jeder Mitgliedstaat bestimmt die Grundprinzipien und Einzelheiten der Arbeitslosenversicherung selbst und ist auch für deren Finanzierung zuständig. Mindeststandards würden aber dazu beitragen, dass Länder mit einem geringen sozialen Schutzniveau aufholen.

Über die Arbeitslosenversicherung wird in Österreich immer wieder heftig diskutiert. Oftmals unerwähnt bleibt die Tatsache, dass Verschärfungen für Arbeitslose auch weitreichende Konsequenzen für Beschäftigte haben können. Weniger großzügige Arbeitslosenleistungen mögen den Anreiz bzw. Druck erhöhen, eine Beschäftigung aufzunehmen. Gleichzeitig kann auf diese Weise aber die Herausbildung eines Niedriglohnsektors begünstigt werden und so der Druck auf die ArbeitnehmerInnen insgesamt steigen. Angemessene Arbeitslosenleistungen kommen somit den Beschäftigten insgesamt zugute. Darüber hinaus wirken Arbeitslosenleistungen in Krisenzeiten als automatische Stabilisatoren und federn einen Einbruch im Konsum ab.

Unterschiede in der EU

Ein Vergleich der Nettoersatzraten (Leistungshöhe im Vergleich zum Netto-Erwerbseinkommen) und der Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes zeigt, dass das Schutzniveau der Arbeitslosenversicherung zwischen den Mitgliedstaaten in beträchtlichem Ausmaß divergiert. In Österreich gilt seit dem Jahr 2001 eine Nettoersatzrate in Höhe von 55 Prozent des Erwerbseinkommens. Berücksichtigt man Zuschläge, ergibt sich je nach Familien- und Einkommenssituation eine Nettoersatzrate von durchschnittlich 64 Prozent. (EU-Vergleich: siehe Grafik 1) Die Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes beträgt in Österreich je nach Beschäftigungsdauer und Alter zwischen 20 und 52 Wochen (bzw. bei Weiterbildung auch länger).

Zum Vergleich: In Ungarn besteht nach einjähriger Beschäftigung Anspruch auf Arbeitslosengeld für nur wenige Wochen; in Belgien wird das Arbeitslosengeld zeitlich unbegrenzt gewährt. Auch bei der Abdeckung existieren große Unterschiede. Die Abdeckungsquote (Erfassungsrate) ist der Anteil der Arbeitslosen, die innerhalb eines bestimmten Zeitraumes (z. B. im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit) Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung beziehen. In einigen Mitgliedstaaten kann ein großer Teil der Arbeitslosen die Voraussetzungen (z. B. eine bestimmte Mindestbeschäftigungsdauer) für den Bezug von Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung nicht erfüllen. In Rumänien erhalten nur knapp 10 Prozent der Arbeitslosen im ersten Jahr der Arbeitslosigkeit Arbeitslosengeld; in Deutschland sind es etwa 2/3 der Arbeitslosen. Österreich weist eine sehr hohe Abdeckung auf, da nach Ausschöpfen des Arbeitslosengeldes die Notstandshilfe gewährt wird. Die von der Bundesregierung angedachten Vorhaben im Bereich der Arbeitslosenversicherung würden einen Rückgang der Abdeckung zur Folge haben.

Skepsis

Über die Arbeitslosenversicherung wird aktuell nicht nur in sozialpolitischer, sondern auch in fiskalpolitischer Hinsicht diskutiert. Nach der Finanzkrise wurde der Ruf nach einer Reform und Vertiefung der Eurozone laut. Eine Schwäche der Wirtschafts- und Währungsunion wird insbesondere darin gesehen, dass die Fiskalpolitik Sache der einzelnen Mitgliedstaaten ist.

Damit in Zukunft konjunkturelle Schocks besser abgefedert werden können, schlägt die EU-Kommission die Einrichtung einer fiskalischen Stabilisierungsfunktion vor. Dabei wird eine europäische Arbeitslosenversicherung, die bei einer plötzlichen Zunahme der Arbeitslosigkeit (als „Rückversicherungsfonds“ für die nationalen Arbeitslosenversicherungen) greifen würde, als eine mögliche Option genannt.

Diesem Vorschlag ist jedoch mit Skepsis zu begegnen. Insbesondere im Hinblick auf die Finanzierung gibt es viele offene Fragen. Demgegenüber sollten Mindeststandards für die Arbeitslosenversicherung als sozialpolitische Initiative eingeführt und verstanden werden. Diese beiden Debatten sollten nicht verwechselt werden.

Agenda für sozialen Fortschritt

Die EU muss nun Maßnahmen zur Verbesserung der Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen setzen. Bei der Arbeitslosenversicherung könnte angesetzt werden. Dabei müsste sichergestellt werden, dass Mitgliedstaaten, die bereits ein hohes Schutzniveau aufweisen, nicht auf ein geringeres Niveau zurückfallen dürfen (Nicht-Rückschrittsklausel). Nettoersatzrate, Anspruchsdauer des Arbeitslosengeldes sowie die Abdeckungsquote sollten die Schlüsselwerte für die Festlegung von Mindeststandards sein. Da Strukturwandel und fortschreitende Digitalisierung fortlaufende Weiterbildung erfordern, um auf dem Arbeitsmarkt bestehen zu können, sollte darüber hinaus auch ein Rechtsanspruch auf Weiterbildung und auf Maßnahmen der beruflichen Qualifizierung mit entsprechender Existenzsicherung als Mindeststandard definiert werden.

Von
Sarah Bruckner
Abteilung EU und Internationales der AK Wien

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 6/18.

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