Die nächsten fünf Jahre sind für die EU-Integration von Bosnien und Herzegowina entscheidend“, sagt Christian Schmidt, CSU-Politiker und Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, bei einem Mediengespräch Anfang Oktober im Verband der Auslandspresse in Wien. Bosnien ist seit 2022 offiziell Beitrittskandidat der EU, konkrete Verhandlungen sollen aber erst aufgenommen werden, wenn der Balkanstaat bislang nicht erfüllte Reformauflagen, vor allem in Bezug auf Rechtsstaatlichkeit und Korruption, umgesetzt hat.
Schmidt skizziert die Erfordernisse, die das Land nun rasch erfüllen müsste, um seine „Europafähigkeit“ unter Beweis zu stellen: „Der Kampf gegen Korruption, ein Programm für junge Leute, um ihnen eine Perspektive zu geben, im Land zu bleiben, die Stärkung des Rechtssystems, eine Verfassungsdiskussion und eine Reform des Verfassungsgerichtshofes sowie die Aufhebung der Diskriminierung von Juden, Roma und anderen Minderheiten“.
Die bosnische Verfassung verletzt die Rechte dieser Gruppen, sich für ein öffentliches Amt zu bewerben. Das hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bereits im Jahr 2009 in einem richtungsweisenden Urteil festgestellt. An dieser Diskriminierung hat sich bis heute nichts geändert. Schätzungsweise können rund 400.000 Bosnier:innen, so die Angaben von Human Rights Watch, aufgrund ihrer Religion, ethnischen Zugehörigkeit oder ihres Wohnortes nicht für das Amt des Präsidenten oder für einen Sitz im Parlament kandidieren. Ob die nächste Parlamentswahl 2026 erneut unter diesem diskriminierenden Verfassungs- und Wahlrecht stattfinden, ist offen.
Soziale Agenda
Zu den Kriterien für die EU-Beitrittsfähigkeit eines Landes gehört auch die Einhaltung sozialer Kriterien und Mindeststandards sowie verbriefte Rechte von Arbeitnehmer:innen. Der Hohe Repräsentant zeigt sich zurückhaltend, was die bisherige Umsetzung der sozialen Agenda angeht, die „Tendenz dazu“ bezeichnet er aber als „nicht schlecht“. Vor allem die Gewerkschaften hätten „eine starke Stellung“, antwortet er auf eine diesbezügliche Frage von Arbeit&Wirtschaft.
Schmidt räumt ein, dass der „Brain Drain“, also die Abwanderung gut ausgebildeter Arbeitskräfte, ein großes Problem sei. Vor dem Bosnien-Krieg (1992-1995) machte die Einwohner:innenzahl Bosnien-Herzegowinas rund vier Millionen aus, aktuell liegt sie zwischen 2,6 bis 2,8 Millionen. Hinzu komme eine hohe Arbeitslosenrate, insbesondere unter der jüngeren Generation. Schmidt bezweifelt, dass der Mindestlohn, der zuletzt erhöht wurde und seit Anfang 2025 umgerechnet rund 500 Euro netto beträgt, für „jede Arbeitsstelle gilt und ausbezahlt wird“.
Es braucht den Kampf gegen Korruption, ein Programm für junge Leute,
um ihnen eine Perspektive zu geben, im Land zu bleiben, die Stärkung des Rechtssystems,
eine Verfassungsdiskussion und eine Reform des Verfassungsgerichtshofes.
Christian Schmidt, Hoher Repräsentant für Bosnien und Herzegowina
Was die Höhe des Mindestlohnes angehe, gebe es Differenzen zwischen den Entitäten bzw. den politischen Teilgebieten des Bundesstaates, der sich aus der Föderation Bosnien und Herzegowina, der Republika Srpska sowie dem Sonderverwaltungsgebiet Brčko-Distrikt zusammensetzt. In der Föderation beträgt der Mindestlohn rund 500 Euro netto monatlich. In der Republika Srpska ist er laut Gesetz nach Qualifikation und Ausbildung gestaffelt und liegt zwischen netto 450 und 550 Euro.
Die Erhöhung des Mindestlohns sowie Verbesserungen beim Schutz der Arbeitnehmer:innen werden durchaus als Erfolg der Gewerkschaften betrachtet, auch wenn sie – abgesehen vom öffentlichen Sektor – nur begrenzten Einfluss auf die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialpolitik in Bosnien und Herzegowina haben. Ihre Rolle wird meist nur als beratend wahrgenommen. Der soziale Dialog oder das Prinzip der Sozialpartnerschaft, in Österreich bekannt und bewährt, ist in dem Balkanland noch nicht ausreichend etabliert, wie der Europäische Gewerkschaftsbund feststellt.
Hohes Armutsrisiko
Der durchschnittliche monatliche Nettolohn in Bosnien-Herzegowina lag Anfang des Jahres 2024 mit rund 680 Euro netto nur knapp über dem Mindestlohn. Nachholbedarf gibt es auch bei der Höhe der Pensionen. Seit Mitte 2024 beträgt die Mindestrente rund 290 Euro netto, die an 60 Prozent der Pensionist:innen ausbezahlt wird. Das bringt viele Empfänger:innen in eine Situation absoluter Armut, stellt die SPD-nahe Friedrich-Ebert-Stiftung in ihrem „Gewerkschaftsmonitor Bosnien und Herzegowina“ vom August 2024 fest. Die Armutsgefährdung ist hoch, bestätigt auch Schmidt.
Von Armut sind viele Familien betroffen. Die Beschäftigungsquote bei 15- bis 64-Jährigen (Männer und Frauen) liegt bei 40 Prozent, die Arbeitslosigkeit laut Internationaler Arbeitsorganisation (ILO) bei 14 Prozent (2023). Von Armut sind besonders auch Frauen betroffen. Die Frauenbeschäftigungsquote war mit 37 Prozent im Jahr 2022 eine der niedrigsten auf dem Balkan. Zum Vergleich: In Österreich lag sie nach Angaben der Statistik Austria zuletzt bei über 70 Prozent. Auch die Jugendarbeitslosigkeit in Bosnien-Herzegowina ist hoch, nach Angaben des Statistik-Portals Statista ist rund jeder vierte junge Mensch ohne Job.
Unterstützung von außen
Unter diesen Bedingungen ist es für viele Familien kaum möglich, ein Auskommen zu finden. Der von den Gewerkschaften monatlich ermittelte durchschnittliche Warenkorb für den notwendigen Lebensunterhalt einer vierköpfigen Familie belief sich auf Ausgaben in Höhe von rund 1.480 Euro. Finanzielle Unterstützung bekommen Familien durch Angehörige, die im Ausland leben, in erster Linie in Deutschland, Österreich, der Schweiz und in skandinavischen Ländern. Diese Zahlungen würden nach Angaben des Hohen Repräsentanten aber zurückgehen.
„Österreich zuerst?“ – ein Leitsatz, der nicht nur altbacken klingt, sondern historisch gefährlich ist.
👉 Wie wir Demokratie, faire Lieferketten und sozialen Ausgleich mitten in Europa verteidigen können, zeigt unsere neue Ausgabe:
https://bit.ly/4gnDv3L
— Arbeit&Wirtschaft Magazin (@aundwmagazin.bsky.social) 16. September 2025 um 09:30
Resümierend kann man festhalten, dass die niedrigen Beschäftigungszahlen in Kombination mit der starken Abwanderung und der alternden Bevölkerung sowie die zuletzt gestiegenen Preise für Energie und Nahrungsmittel eine beträchtliche Belastung für die sozialen Sicherungssysteme darstellen. Eines steht aber fest: „Die gemeinsame Zielsetzung eines EU-Beitrittes von Bosnien-Herzegowina ist gegeben“, erklärt Schmidt. „Eine Reformagenda wurde gerade verabschiedet und an die EU-Kommission geschickt.“ Die Antwort aus Brüssel stehe allerdings noch aus. Eines sagt die Kommission aber gegenüber Bosnien-Herzegowina – und auch anderen Kandidaten – seit Jahren: Die Beitrittsperspektive muss mit messbaren Verbesserungen der Wirtschaft, der Rechtssicherheit und der Beschäftigungssituation verknüpft sein.