Die Schatten der Leistung

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Der Begriff Leistung ist heute neu definiert: Von Bildung über Beruf bis hin zu Famlie und der ­Selbstvermessung der eigenen Fitness.

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Das Leistungsprinzip prägt das Selbstverständnis moderner Gesellschaften. Doch seine Glorifizierung verdeckt seine Leerstellen und Schattenseiten.
Der Ruf nach „Leistung“ ist heute Standard im politischen Diskurs. Er wurde und wird von unter-schiedlichen politischen Lagern gleichermaßen verwendet, um die eigenen Vorstellungen von Gerechtigkeit zu unterstreichen. Das hat nicht zuletzt damit zu tun, dass bei näherer Betrachtung ein klares Verständnis darüber, was als „Leistung“ zu verstehen ist, immer schon umstritten war und es zunehmend wird.

Buchtipp: Jörg Flecker, Franz Schultheis, Berthold Vogel (Hrsg.): Im Dienste öffentlicher Güter

Historische Ursprünge

Als Grundwert des sozialen Zusammenlebens ist „Leistungsgerechtigkeit“ – also der Anspruch, dass individuelle Anstrengungen und Tätigkeiten entsprechend honoriert werden sollten – ein Wert, der sich historisch schon früh nachweisen lässt: von Chinas Kaiserreich über die griechische Antike bis hin zur protestantischen Ethik der Neuzeit. Zu einem gesamtgesellschaftlichen Ordnungsprinzip wurde das Leistungsprinzip in Europa jedoch erst infolge politischer Kämpfe um gesellschaftliche Verteilung und Klassenhierarchien seit dem 18. Jahrhundert. Die soziale Stellung einer Person überhaupt, ihr Besitz, ihre Aufstiegs- und Karrieremöglichkeiten sollten nicht mehr vom ständischen Prinzip der familiären Herkunft, vom Geschlecht oder vom Alter bestimmt werden, sondern ausschließlich Ausdruck eigener Anstrengungen sein.

Auf diese Weise diente der Ruf nach Leistungsgerechtigkeit der Infragestellung der bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien. War es in Europa zunächst das Bürgertum, das unter dem Leistungsbanner gegen die Privilegien der Aristokratie auftrat, so richtete später die Arbeiterschaft ebendiese Forderung nach fairer Entlohnung an das Besitzbürgertum und die Frauenbewegung in Richtung der patriarchal dominierten Herrschaftseliten. Gestritten wurde nunmehr also vor allem darüber, was als legitime Leistung zu honorieren sei – das Leistungsprinzip selbst blieb jedoch weitgehend unbestritten.

Zwar setzte im 20. Jahrhundert eine kritischere Auseinandersetzung mit den zahlreichen Leerstellen des Leistungsprinzips ein. Seit geraumer Zeit erlebt es allerdings eine Renaissance. Heute begegnet es einem als die Erzählung vom persönlichen Erfolg für jede/n, die/der sich nur ordentlich anstrengt. Damit wird es illusionär und unverzichtbar zugleich. Denn keine Gesellschaft kann es sich dauerhaft leisten, Leistung unbelohnt zu lassen. Zugleich hat es destruktive Folgen, wenn keine transparenten und demokratischen Leistungskriterien für Tätigkeiten durchsetzbar sind und allein der Markterfolg den Wert einer Leistung diktiert.

Der Leistungsanspruch durchdringt heute mehr Lebensbereiche denn je: Bildungsbiografien, Berufsverläufe, Privataktivitäten im Familien- und Freundeskreis bis hin zur Selbstvermessung eigener Fitness, Ernährung etc. im Sinne der Leistungs- und Wettbewerbsfähigkeit. Das anschaulichste Feld für den Wandel von Leistungsverständnissen stellt jedoch sicher die Veränderung der Arbeitswelt dar, wo in den letzten Jahrzehnten Durchschnittsarbeit deutlich abgewertet wurde: Die tagtägliche Arbeit in Fabrik, Verwaltung oder Supermarkt, für die niedrige oder mittlere Qualifikationen eingesetzt wurden, erfährt immer weniger Anerkennung. Wertschätzung ist tendenziell nur noch für besondere Anstrengungen, für herausragende Leistungen zu bekommen. Worauf es ankommt, ist immer weniger der Einsatz der Arbeitenden und viel mehr das Ergebnis, der Erfolg am Markt. Wenn dort die Gewinner alle Belohnungen einstreifen, während die übrigen leer ausgehen, dann wird das Leistungsprinzip sukzessive untergraben. Ein „Hat sich sehr bemüht“ im Dienstzeugnis ist damit sogar ein vernichtendes Urteil.

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