Die Armutsfalle

Bei der Mindestsicherung kürzen ist wissenschaftlich falsch. Denn Armut führt zu Stress, der wiederum Armut verfestigt.
Die Regierung plant, großflächig soziale Absicherungsmaßnahmen zurückzubauen. Um dies zu begründen, bemühen ihre VertreterInnen oftmals den fragwürdigen Begriff der „sozialen Hängematte“: Wer Sozialleistungen bezieht, habe nicht genügend Anreize, arbeiten zu gehen. Damit schiebt sie die Verantwortung den Betroffenen zu, statt sinnvolle Lösungen anzubieten, damit diese Menschen aus ihrer schwierigen Lage herauskommen können. Denn die Gründe dafür, dass die Anzahl der armutsgefährdeten Haushalte, die nicht oder kaum erwerbstätig sind, in den letzten Jahren nicht zurückgegangen ist, sind vielfältig.

Ungeeignete Maßnahmen

Entsprechend der Regierungslogik soll das soziale Netz nun durchlöchert werden: Langzeitarbeitslose sollen durch Kürzung des Arbeitslosengeldes bzw. Abschaffung der Notstandshilfe weniger Geld erhalten oder direkt in die (gekürzte) Mindestsicherung fallen. Für dieses letzte soziale Netz sollen sehr strenge Anspruchsvoraussetzungen gelten, und man darf nur über ein sehr geringes eigenes Vermögen (bis etwa 4.300 Euro) verfügen. Wissenschaftliche Erkenntnisse geben Auskunft, warum diese Maßnahmen ungeeignet sind, die Erwerbstätigkeit von Armutsbetroffenen zu erhöhen, und welche Reformen stattdessen erfolgversprechend wären.

Um mit Situationen finanzieller Not und Unsicherheit umgehen zu können, braucht es intellektuelle Energie.

Von Armut betroffene oder gefährdete Haushalte sind in den allermeisten Fällen vielfach eingeschränkt: Sie müssen sich überlegen, wie sie den nächsten Einkauf bewältigen oder die Miete bezahlen. Um mit derartigen Situationen finanzieller Not und Unsicherheit umgehen zu können, braucht es intellektuelle Energie. Labor- und Feldstudien im angesehenen Wissenschaftsmagazin „Science“ bestätigen, dass sich finanzielle Notsituationen und Unsicherheit in standardisierten Wahrnehmungstests negativ auswirken.

Wer einer realistischen finanziellen Not- oder Unsicherheitssituation ausgesetzt wird, schneidet bei diesen Tests etwa genauso schlecht ab wie jemand bei einer vollen Nacht Schlafentzug. Australische ForscherInnen haben außerdem herausgefunden, dass finanzielle Notlagen tatsächlich jene Hirnregionen belasten, die auch durch Stress beansprucht werden.

In anderen Worten: Arm oder armutsgefährdet zu sein, verschafft im wahrsten Sinne des Wortes schlaflose Nächte – und kann so viel geistige Energie in Anspruch nehmen, dass letztlich weniger Gehirnschmalz für wichtige Entscheidungen bereitsteht, die dann falsch getroffen werden. Dadurch verfestigt sich Armut, und man spricht von einer Armutsfalle.

An der Lebensrealität vorbei

Die althergebrachte Ansicht, Kürzungen bei Sozialleistungen würden dazu führen, dass armutsgefährdete Personen sich ausschließlich damit beschäftigen, wie sie einen Job bekommen, geht also an der Lebensrealität von Menschen vorbei, die täglich darüber nachdenken müssen, wie sie ihre Nahrungsversorgung sicherstellen und ihre Miete bezahlen. Insbesondere der fehlende Anspruch in der Mindestsicherung für Menschen, die über ein mehr als bescheidenes Vermögen verfügen, dürfte sich hier negativ auswirken. Betroffene müssen möglicherweise ihre mühsam aufgebauten Vermögenswerte aufgeben, die auch einen erheblichen ideellen Wert haben können. Wer etwa die Wohnung verkaufen muss, in der die Kinder aufgewachsen sind, wird nicht nur finanziell, sondern auch anderweitig mental unter Stress gesetzt.

Zeitgemäßes Verständnis

Ein zeitgemäßes Verständnis der Vielschichtigkeit von Armut erfordert also einen Sozialstaat, der von Armut Betroffenen oder Gefährdeten gerade deshalb finanziell unter die Arme greift, damit sie ihre Energie für die Arbeitsuche aufwenden können – und eben nicht Gedanken darauf verwenden müssen, wie die nächste Monatsmiete oder die Reparaturkosten für die Therme aufgebracht werden können.

Besonders fatal wirkt, dass sich der psychische Stress von armutsbetroffenen Haushalten auch auf deren Kinder überträgt. Ist eine Frau schwanger, so kann dies problematische Folgen haben: Die durch Armut verursachte psychische Dauerbelastung setzt im Gehirn Cortisol frei, welches die Frau über die Plazenta an den Fötus weitergibt. Dies beeinflusst langfristig die Hirnregionen der Ungeborenen und beeinträchtigt deren spätere Lernfähigkeit. Manche US-Forscher vergleichen die Auswirkungen dieses Effekts mit Alkohol- und Drogenmissbrauch während der Schwangerschaft. Und hierbei sind negative Auswirkungen einer von Mangel geprägten Lernumgebung im Kindesalter noch nicht einmal mitgerechnet. Da Bildung einer der wichtigsten Faktoren ist, um Arbeitslosigkeit zu verhindern, ergibt sich so eine generationenübergreifende Verfestigung von Armut und schlechten Arbeitsmarktchancen.

Die geplanten Sozialkürzungen verstärken eine generationenübergreifende Armutsfalle.

Die geplanten Sozialkürzungen verstärken dadurch auch eine generationenübergreifende Armutsfalle, die bereits jetzt in Österreich stark ausgeprägt ist. Ganze fünf Generationen dauert es laut einer OECD-Studie hierzulande, bis Nachkommen armer Eltern in die Mittelschicht aufgestiegen sind.

Mehr Betreuung notwendig

Demgegenüber können nicht finanzielle Hilfestellungen – wie eine bessere Betreuung durch das Arbeitsmarkt­service (AMS) – stressentlastend wirken und so der Verfestigung von Armut entgegenwirken. Gerade weil armutsgefährdete oder -betroffene Haushalte mehr Energie für alltägliche Aus- und Aufgaben benötigen, brauchen sie zusätzliche Unterstützung bei der Arbeitsuche. Dadurch kann Arbeitslosigkeit effektiv verringert werden, wie unter anderem angesehene Studien für die USA nahelegen.

Auch die Hartz-Reformen in Deutschland sein ein aufschlussreiches Beispiel, wodurch man Arbeitslosigkeit von armutsgefährdeten Personen reduzieren kann und wodurch nicht. Verschiedene wirtschaftswissenschaftliche Studien zeigen, dass die Hartz-IV-Reform, die ebenfalls auf die Kürzung von Sozialleistungen setzte, zu keinem nennenswerten Rückgang der Arbeitslosigkeit führte.

Bei niedriger Qualifizierten ist der Anreizeffekt wegen des ohnehin niedrigeren Lohneinkommens geringer als bei Höherverdienenden. Hier hat Arbeitslosigkeit allerdings meist ganz andere, nämlich strukturelle Gründe. In diesem Fall führt Sozialabbau ausschließlich zu einem niedrigeren Einkommen bei den Betroffenen – aber zu keiner Reduktion der Arbeitslosigkeit.

Armutsgefährdeten Personen bei der Vermittlung und Qualifizierung zu unterstützen wird sich mit einem gekürzten Budget des Arbeitsmarktservice und weniger Personalressourcen kaum bewerkstelligen lassen.

Positive Beschäftigungswirkungen von armutsgefährdeten Personen können den erwähnten Studien zufolge dann erreicht werden, wenn Betroffene bei der Vermittlung und Qualifizierung unterstützt werden. Mit einem gekürzten Budget des Arbeitsmarktservice und weniger Personalressourcen wird sich das allerdings kaum bewerkstelligen lassen.

Wichtige Unterstützung durch AMS

Zusammengefasst lassen sich auf Grundlage verschiedener Forschungsergebnisse mehrere Gründe ausmachen, weshalb gekürzte Sozialleistungen die Arbeits­marktintegration von armen oder armutsgefährdeten Personen nicht erhöhen und sich sogar auf deren Kinder negativ auswirken. Erstens zeigen die Erfahrungen aus Deutschland, dass bessere Arbeitsmarktbetreuung ein wesentlich effektiveres Mittel ist, um Arbeitslosigkeit unter potenziellen MindestlohnbezieherInnen zu reduzieren.

Zweitens führen gekürzte Sozialleistungen zu erhöhtem psychologischem Stress, weshalb man weniger Energie für die Arbeitsuche hat. Gerade dieser Aspekt verdeutlicht auch, weshalb gute AMS-Unterstützung positive Arbeitsmarkteffekte haben kann. Drittens ist die Arbeitslosigkeit von Armutsbetroffenen oft struktureller Natur, also von Faktoren jenseits der/des einzelnen Arbeitsuchenden geprägt.

Dass sich derartige Arbeitsmarktschocks nicht für Einzelpersonen verfestigen, sollte nicht nur aus Gründen sozialer Mobilität Ziel der Politik sein. Auch volkswirtschaftlich ist es eine Verschwendung von Ressourcen, Menschen mit Existenzängsten zu drangsalieren, anstatt ihnen die Arbeitsuche so einfach wie möglich zu machen.

Blogtipp:
„Sozialhilfe neu: Mehr Härte und Druck“:
awblog.at/sozialhilfe-neu

Von
Konstantin Wacker
Ökonom an der Universität Groningen

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 4/19.

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