Sozialstaat: Der Rückbau hat begonnen

Illustration eines Stiefels, der auf Menschen steigt
Illustration (C) Natalia Nowakowska
Die schwarz-blaue Regierung hat mit dem Rückbau des Sozialstaats begonnen. Nach der Sozialversicherung geht es nun der sozialen Sicherung an den Kragen. Die Regierung will in Österreich ein Hartz-IV-System einführen.
Unter der Überschrift „Arbeitslosengeld NEU“ planen ÖVP und FPÖ einen massiven Angriff auf die soziale Absicherung von arbeitslosen Menschen in Österreich. Der Sozialstaat ist in Gefahr. Die Notstandhilfe soll abgeschafft werden, Jobsuchende sollen direkt vom Arbeitslosengeld in die Mindestsicherung fallen. Hinter dem nichtssagenden Titel „Arbeitslosengeld NEU“ verbirgt sich nichts anderes als die Einführung eines Hartz-IV-Systems in Österreich. In Deutschland hat Hartz IV dazu geführt, dass das Land heute die höchste Armutsgefährdungsquote unter Arbeitslosen in der gesamten EU hat.

Arbeitslose sollen enteignet werden

Dass die Regierung ein derartiges System in Österreich einführen will, steht nicht nur im Regierungsprogramm. Im Jänner bestätigte Bundeskanzler Sebastian Kurz: „Die Notstandshilfe wird es in der derzeitigen Form nicht mehr geben.“ Und sogar die konservative Tageszeitung „Die Presse“ schrieb: „Ähnlich wie beim Hartz IV-Modell in Deutschland ist davon auszugehen, dass Langzeitarbeitslose nach einer gewissen Zeit die bedarfsorientierte Mindestsicherung bekommen. […] Das neue System hätte für die Betroffenen gravierende Konsequenzen.

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Denn im Gegensatz zur Notstandshilfe wird bei der Mindestsicherung auf das Vermögen des Leistungsbeziehers zugegriffen.“ Die Regierung plant also, ein System einzuführen, bei dem es nach Ablauf des Arbeitslosengeldes zum Verlust von Sparbuch, Auto, Haus oder Wohnung von Jobsuchenden kommen kann. So wird, wer sich durch jahrzehntelange Arbeit etwas aufgebaut hat, im Alter enteignet.

Ihre Versprechen sind wertlos

Wer ein Auto hat, muss es verkaufen oder darf es in Zukunft nur behalten, wenn es für den Weg zur Arbeit dient. Wer sich etwas angespart hat, muss es aufbrauchen. BezieherInnen der Mindestsicherung müssen schon ab einem „Vermögen“ von rund 4.300 Euro jeden Bausparvertrag, jede Lebensversicherung und jede private Pensionsversicherung aufkündigen – die Regierung plant, dieses „Schonvermögen“ nur leicht auf 5.200 Euro zu erhöhen. Das Sozialamt kann sich nach sechs Monaten Mindestsicherung ins Grundbuch eintragen lassen – in Zukunft von der Regierung geplant nach drei Jahren. Unter dem Strich: Ein Auto für den Job, eine längere Frist für den Zugriff auf das Grundbuch und ein etwas höheres „Schonvermögen“ können die  Notstandshilfe nicht ersetzen.

Ein Auto für den Job, eine längere Frist für den Zugriff auf das Grundbuch und ein etwas höheres „Schonvermögen“ können die  Notstandshilfe nicht ersetzen.

Kann man die Mindestsicherung später nicht mehr zurückzahlen, gehört die Wohnung dem Staat statt den Kindern. Und wenn Vizekanzler Strache verspricht, es werde zu keinem Zugriff aufs Ersparte kommen, ist das so viel wert wie die Freiwilligkeit im neuen Arbeitszeitgesetz: nämlich nichts. Und auch, wie oft Sozialministerin Hartinger-Klein noch ihre Meinung ändert, ist unerheblich. Wer im Jänner sagt: „Die Notstandshilfe wird abgeschafft und geht in die Arbeitslose auf“, um dann zehn Monate später zu sagen: „Die Notstandshilfe bleibt“, ist nicht mehr ernst zu nehmen.

Ältere Menschen besonders betroffen

Von der Enteignung durch die Regierung sind vor allem ältere Menschen bedroht. Denn die 55- bis 64-Jährigen bilden unter den Langzeitarbeitslosen die größte Gruppe. Sie finden oft keinen Job, weil sie aus der Sicht vieler Unternehmen einfach zu alt sind. Bei vielen kommt dazu, dass sie nur einen Pflichtschulabschluss oder veraltete Qualifikationen haben, was ihre Jobchancen weiter mindert. Die Regierung hat bereits gezeigt, welchen Wert ältere Menschen und deren Lebensleistung für sie haben: Die Aktion 20.000, durch die Personen über 50 einen Job bekommen hätten können, hat die Bundesregierung gleich zu Beginn ihrer Amtszeit eingestampft. Den Beschäftigungsbonus als Anreiz für Unternehmen, neue Arbeitsplätze zu schaffen, ebenso.

Die Abschaffung der Notstandshilfe trifft nun wiederum ältere Arbeitslose besonders hart – ein Drittel der NotstandshilfebezieherInnen ist 50 Jahre alt oder älter.

Die Abschaffung der Notstandshilfe trifft nun wiederum ältere Arbeitslose besonders hart – ein Drittel der NotstandshilfebezieherInnen ist 50 Jahre alt oder älter. Obwohl sie über viele Jahre Beiträge gezahlt haben, sollen sie nur noch zwei Jahre lang versichert sein und danach in die Mindestsicherung fallen, statt wie bisher für unbegrenzte Zeit Notstandshilfe beziehen.

Sozialstaat: Viele kriegen gar nichts mehr

Dies gilt aber nur für jene, die sich im Laufe des Arbeitslebens kein „Vermögen“ von mehr als 4.300 Euro bzw. in Zukunft 5.200 Euro angespart haben. Wer mehr besitzt, muss zuerst alle darüber liegenden Vermögenswerte veräußern, um überhaupt eine Leistung zu erhalten. Dazu kommt, dass in der Mindestsicherung – im Gegensatz zur Notstandshilfe – keine Pensionsversicherungsbeiträge eingezahlt werden. Betroffene müssen also nicht nur jede private Pensionsversicherung von Wert aufkündigen, sie verlieren auch Beiträge in der allgemeinen Pensionsversicherung. Der Weg in die Altersarmut ist damit vorgezeichnet. Die Kurz‘sche Philosophie, der zufolge Eigentum die „beste Maßnahme gegen Altersarmut“ sei, wirkt in diesem Zusammenhang absurd.

Personen, die im neuen System
keine Leistungen mehr bekommen:
121.000

Davon
Menschen mit Behinderung:

37.000

Neben Älteren sind auch Menschen mit Behinderung besonders betroffen. Laut einer aktuellen WIFO-Studie sind von den 121.000 Arbeitslosen, die im neuen System keinerlei Leistungen mehr erhalten würden, 37.000 Menschen mit Behinderung. Umgekehrt heißt das: 48 Prozent der behinderten Arbeitslosen würden keine Leistung mehr erhalten, da sie überproportional lange für die Arbeitssuche brauchen. Aus der Versicherungsleistung herausfallen würden zudem auch 6.000 Jugendliche und 61.000 Menschen, die nur einen Pflichtschulabschluss haben. Übrigens: Fast 80 Prozent der NotstandshilfebezieherInnen sind österreichische StaatsbürgerInnen.

Neoliberales Weltbild statt Sozialstaat

Dass ein dermaßen unsozialer Ansatz der Idee des Sozialstaats widerspricht, liegt auf der Hand. Ein Sozialstaat hat die Aufgabe, Menschen in schwierigen Lebenslagen, unter anderem bei Arbeitslosigkeit, zu unterstützen. Geht es hingegen nach der neoliberalen Ideologie, sollte der Sozialstaat keinesfalls zu großzügig sein. Bloß nicht zu sehr helfen, um ja keine „Fehlanreize“ zu setzen. Das Credo der Neoliberalen lautet: Der Markt wird es schon richten. Arbeitslosigkeit könne ganz einfach beseitigt werden. Man müsse dazu nur die „Anreize“ zu arbeiten erhöhen. Was sie damit meinen, sind jedoch nicht höhere Löhne oder bessere Arbeitsbedingungen. Der Anreiz, den sie meinen, ist erhöhter Druck.

Im neoliberalen Weltbild gelten Arbeitslose grundsätzlich als faul und unwillig. Als Personen, denen es ganz einfach an Motivation fehlt.

Im neoliberalen Weltbild gelten Arbeitslose grundsätzlich als faul und unwillig. Als Personen, denen es ganz einfach an Motivation fehlt. Wenn man ihnen also das Arbeitslosgengeld kürzt, die Sanktionen verschärft und gewisse Zwänge einführt – in Deutschland sind Hartz-IV-EmpfängerInnen zur Annahme von Ein-Euro-Jobs verpflichtet –, werden sie die „soziale Hängematte“ schon verlassen. Nachvollziehbar könnte diese Logik, wenn überhaupt, allerhöchstens im Fall von Arbeitskräftemangel sein. Tatsächlich ist es aber so, dass es in Österreich einfach nicht genügend offene Stellen gibt. Auf eine offene Stelle beim AMS kommen 3,5 Arbeitslose. Daran ändern die neoliberalen „Anreize“ überhaupt nichts.

Beschäftigte sollen „diszipliniert“ werden

Vorteile bringt die neoliberale Umgestaltung der Arbeitslosenversicherung hingegen für jene, die bei der Regierung schon den 12-Stunden-Tag und die 60-Stunden-Woche bestellt haben. Wie man aus Deutschland weiß, führt die Einführung eines Hartz-IV-Systems nämlich dazu, dass der Niedriglohnsektor ausgebaut wird und immer mehr Menschen um schlecht bezahlte, prekäre Arbeit konkurrieren.

Aus Angst, arbeitslos und daraufhin vielleicht schon bald enteignet zu werden, besteht die Gefahr, dass viele ArbeitnehmerInnen schlechtere Lohn- und Arbeitsbedingungen oder auch Verstöße gegen das Arbeitsrecht in Kauf nehmen.

Damit wächst nicht nur der Druck auf Arbeitslose, sondern auch auf die Beschäftigten. Aus Angst, arbeitslos und daraufhin vielleicht schon bald enteignet zu werden, werden viele ArbeitnehmerInnen schlechtere Lohn- und Arbeitsbedingungen oder auch Verstöße gegen das Arbeitsrecht in Kauf nehmen. Damit wird sich die Reform „disziplinierend“ auf alle ArbeitnehmerInnen auswirken und gewerkschaftliches Handeln im Betrieb erschweren. Profiteure dieser Entwicklungen sind diejenigen, die billige Arbeitskräfte einkaufen und „disziplinierte“ Beschäftigte einfacher ausbeuten können.

563 Euro im Monat zum Leben

Aber damit nicht genug: Die Regierung will nicht nur die Notstandshilfe abschaffen und Arbeitslose auf schnellstem Weg in die Mindestsicherung befördern. Sie will auch bei der Mindestsicherung sparen. Der gesamte Sozialstaat scheint zur Disposition zu stehen. Die geplante „Mindestsicherung NEU“ soll nicht nur eine Obergrenze beinhalten – für Alleinstehende soll es maximal 863 Euro im Monat geben –, sondern auch einen sogenannten „Arbeitsqualifizierungsbonus“. Wer keinen Pflichtschulabschluss bzw. keine ausreichenden Sprachkenntnisse nachweisen kann, der oder dem wird die monatliche Mindestsicherung um 300 Euro gekürzt. Falls der „Arbeitsqualifizierungsbonus“ nicht gewährt wird, müssen alleinstehende MindestsicherungsbezieherInnen demnach mit 563 Euro ihren monatlichen Lebensunterhalt und Wohnbedarf decken.

Mindestsicherung neu für
Alleinstehende:
€ 863

Mindestsicherung neu
ohne ausrechend Deutschkenntnisse
:
€ 563

Zu den VerliererInnen der Mindestsicherungsreform zählen Familien mit drei oder mehr Kindern. Denn ab dem zweiten Kind soll es in Zukunft weniger Geld geben. Abgesehen davon wird bei der Mindestsicherung, anders als bei der Notstandshilfe, auch das Partnereinkommen angerechnet. Bestimmten Gruppen, vor allem subsidiär Schutzberechtigten, soll der Zugang zur Mindestsicherung gänzlich verwehrt werden. EU-BürgerInnen und Menschen aus Drittstaaten sollen erst nach fünfjährigem Aufenthalt in Österreich Zugang zur neuen Mindestsicherung bekommen. So wird unter dem Vorwand, die Mindestsicherung „fairer und gerechter“ zu gestalten, das Leistungsniveau für sehr viele Menschen nachhaltig reduziert.

Schützen wir den Sozialstaat!

Arbeitslosigkeit kann jede und jeden treffen. 2017 haben in Österreich fast eine Million Menschen mindestens einen Tag lang Arbeitslosengeld bezogen. Doch anstatt den Konjunkturaufschwung zu nutzen, um Menschen in Beschäftigung zu bringen, zusätzliche Qualifizierungsangebote zu schaffen und das AMS personell und budgetär besser auszustatten, zielt die schwarz-blaue Regierung darauf ab, den Sozialstaat bis auf sein Gerippe aushungern. Über Jahrzehnte erkämpfte Errungenschaften der ArbeiterInnenbewegung sollen nach und nach abgebaut werden.

Zu den GewinnerInnen dieser Politik gehören Unternehmen und Reiche. Die VerliererInnen sind Arbeitslose und Beschäftigte.

Zu den GewinnerInnen dieser Politik gehören Unternehmen und Reiche. Die VerliererInnen sind Arbeitslose und Beschäftigte, deren Vermögen ist eben der Sozialstaat. Um ihre Vorhaben zu verdecken, setzen ÖVP und FPÖ auf Ablenkung und Spaltung. Sie schieben Flüchtlinge und AsylwerberInnen vor, um soziale Sicherungssysteme und damit zentrale Elemente des Sozialstaats zu zerstören. Dem muss die ArbeiterInnenbewegung mit Solidarität und entschlossenem Widerstand entgegentreten.

Über den/die Autor:in

Dietmar Meister

Dietmar Meister ist Chef vom Dienst in der Kommunikationsabteilung des Österreichischen Gewerkschaftsbundes. Der gebürtige Südtiroler lebt seit 15 Jahren in Wien, wo er Journalismus und Politikwissenschaft studiert und mehrere Jahre als freier Journalist und Redakteur gearbeitet hat.

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