Zwischen Feilen und Zukunftsplänen: Was Lehrlinge brauchen

Christopher Srb vor der „Mollardburg“: So nennen Schüler:innen die Berufsschule in der Wiener Mollardgasse. Die Lehre an sich sollte zukunftsorientierter sein, meint Srb.
Christopher Srb vor der „Mollardburg“: So nennen Schüler:innen die Berufsschule in der Wiener Mollardgasse. Die Lehre an sich sollte zukunftsorientierter sein, meint Srb. | © Markus Zahradnik
Lehrjahre sind keine Herrenjahre: Mit dieser alten Redewendung wurden früher die harschen Bedingungen abgetan, mit denen Lehrlinge konfrontiert waren. In welchem System bewegen sie sich im heutigen Wien?
Zwischen der Berufsschule Mollardgasse im sechsten und der Berufsschule Embelgasse im 5. Wiener Gemeindebezirk liegen nur ein paar hundert Meter Luftlinie, und doch befinden sie sich an den Enden eines Spektrums. Bei der Embelgasse handelt es sich um eine moderne Berufsschule. Alle Arbeitsplätze sind technisch gut ausgerüstet. Wer nach Dienstbeginn ankommt, kann das Gebäude aufgrund eines automatischen Türsperrsystems nur nach Anmeldung über die Direktion betreten. Statt grüner Tafeln gibt es digitale Whiteboards, am Ausgang zur Terrasse stehen Sportutensilien – Spiele, Schläger, Bälle –, um in der Pause ein bisschen Bewegung zu ermöglichen.

Die Berufsschule Mollardgasse wird von ihren Schüler:innen auch als „Mollardburg“ bezeichnet. Es handelt sich um einen großen Komplex, der zahlreiche Lehrausbildungen beheimatet, entstanden kurz nach der Jahrhundertwende. In dem alten denkmalgeschützten Gemäuer wird es kalt im Winter. Die großen Schwingtüren der Gebäudefront, die auf den viel befahrenen Wiener Gürtel gerichtet sind, werden tagsüber nicht abgesperrt. Und unweit der Berufsschule ist das städtische Suchthilfezentrum angesiedelt. Weil es in der Vergangenheit immer wieder vorkam, dass Drogenkonsument:innen in die Schule eindrangen, gibt es im Kellergeschoss der Mollardgasse präventiv blaues Licht auf den Toiletten – das macht es schwieriger, die Venen zu finden.

Gesteigerte Wertschätzung

Die beiden Berufsschulen zeigen exemplarisch die Bandbreite der Infrastruktur, innerhalb deren sich Lehrlinge in Wien bewegen. Vor 15 Jahren gab es in ganz Österreich noch um die 130.000 Lehrlinge. Im Juli dieses Jahres waren es laut Statistik der Österreichischen Wirtschaftskammer (WKO) insgesamt nur noch rund 90.000, etwa 5.500 davon befanden sich in einer überbetrieblichen Lehre, 15.800 davon lernten in Wien. Hand in Hand mit dieser Entwicklung geht der Fachkräftemangel.

Für diese Entwicklung gibt es viele Gründe, ein wesentlicher: Immer weniger Betriebe entscheiden sich dazu, überhaupt Lehrlinge auszubilden. Und nicht nur eine veraltete Infrastruktur kann Jugendliche abschrecken, auch negative Erfahrungen in Betrieben spielen eine Rolle. „Das Image der Lehre hat sich im Vergleich zu früher verbessert“, sagt Matthias Hauer, Bundesjugendsekretär im ÖGB. „Die Wertschätzung für technische und handwerkliche Berufe ist gestiegen, in vielen Lehrstellen und Betrieben funktioniert die Ausbildung auch sehr gut. Aber es gibt ein paar schwarze Schafe, die das Image des gesamten Systems beschädigen.“ Diese würden einen Reformbedarf offenlegen. Ein zentraler Punkt lautet: Modernisierung.

Die Wertschätzung für technische und handwerkliche Berufe
ist gestiegen, in vielen Lehrstellen und Betrieben
funktioniert die Ausbildung auch sehr gut.

Matthias Hauer, Bundesjugendsekretär im ÖGB

Mehr Zukunft

„Wir haben Maschinen aus den 1970er- und 1980er-Jahren“, sagt Christopher Srb, „sie waren schon da, als mein Vater hier die Lehre gemacht hat.“ Srb sitzt entspannt auf einer Parkbank im Wiener Bruno-Kreisky-Park. Er absolviert im dritten Jahr bei den ÖBB eine Lehre zum Maschinenbautechniker, der theoretische Teil seiner Ausbildung findet an der Berufsschule Mollardgasse auf der anderen Straßenseite statt. Srb ist Schulsprecher für den vierten Stock, dort sind Metall- und Glasbautechnik angesiedelt. „Wenn man Menschen, die ihre Lehre hier gemacht haben, fragt, was die Mollardgasse für sie bedeutet, dann sagen sie: ‚Uff!‘“, erzählt Srb. Die „Mollardburg“ sei zum Synonym für „Da läuft was schief“ geworden.

Mit dem Rückgang von Lehrbetrieben geht der Fachkräftemangel einher, weiß Bundesjugendsekretär Matthias Hauer. „Es müssen wieder mehr Betriebe Fachkräfte ausbilden.“ | © Markus Zahradnik
Mit dem Rückgang von Lehrbetrieben geht der Fachkräftemangel einher, weiß Bundesjugendsekretär Matthias Hauer. „Es müssen wieder mehr Betriebe Fachkräfte ausbilden.“ | © Markus Zahradnik

Über 5.000 Lehrlinge gehen in dem monumentalen Gebäude regelmäßig ein und aus. Sie werden in Applikationsentwicklung und Coding ausgebildet, in Elektrotechnik, IT-Systemtechnik, Installations- und Gebäudetechnik – oder einem der anderen Berufe, die hier ihren Anfang nehmen. Teilweise seien Labors und Gerätschaften allerdings veraltet. Die Lehrpläne würden nicht immer auf die Realität in der heutigen Industrie und Wirtschaft vorbereiten, sagt Srb. „Wir Maschinenbauer verbringen etwa sechs, sieben Monate der Lehrzeit damit, an einem Stück Stahl zu feilen“, sagt Srb. „Dabei meint jeder Ausbilder, das braucht man in der Praxis nicht mehr.“

Berufsschulen modernisieren

Begrüßenswert sei für den 21-Jährigen der Bau einer neuen Zentralberufsschule in Wien-Aspern, in der ab September 2028 rund 7.500 Schüler:innen unterkommen sollen. Einige Lehrberufe werden von der Mollardgasse dorthin umgesiedelt – die Metall- und Glasbautechnik allerdings nicht, das sei zu teuer. Sie bleibt in der „Mollardburg“. Wenn Srb eine Sache am System Lehre ändern könnte? „Sie sollte zukunftsorientierter sein“, sagt er.

„Unsere Forderung lautet, österreichweit mindestens 200 Millionen Euro zusätzlich zu investieren, um Berufsschulen zu modernisieren“, sagt Hauer von der Österreichischen Gewerkschaftsjugend (ÖGJ). Das Regierungsprogramm von SPÖ, ÖVP und NEOS sieht zwar eine „Modernisierung der Berufsschulen“ etwa durch Einführung eines E-Learning-Systems vor, „aber die Infrastrukturausstattung wird nicht genannt“, sagt Hauer. Auch die Abhaltung von Lehrabschlussprüfungen (LAPs) an den Berufsschulen selbst – also in einem für die Lehrlinge gewohnten Umfeld – anstatt an der WKO wäre wünschenswert gewesen. Positiv sei aber, dass die LAPs künftig als öffentlich zugängliche Veranstaltung abgehalten werden sollen.

Auch was die Lehrinhalte angeht, braucht es laut Hauer mehr Transparenz. So gibt etwa ein Viertel der österreichischen Lehrlinge bei Befragungen an, nicht genau zu wissen, wie ihr Berufsbild aussieht, welche Ausbildungsvorschriften es gibt und wie der mehrjährige Ausbildungsplan gestaltet ist. „Der sollte am Anfang der Lehre vorgelegt werden, und man muss die Lehrlinge an der Gestaltung ihrer Ausbildung teilhaben lassen“, sagt Hauer. Außerdem würden 16 Prozent der Lehrlinge in Befragungen angeben, dass ausbildungsfremde Tätigkeiten ein regelmäßiger Bestandteil ihrer Ausbildung seien. „Das ist ein Punkt, der die Zufriedenheit mit der Ausbildung auf jeden Fall drosselt.“

Besonders beunruhigend sind die Ergebnisse des Lehrlingsmonitors, einer breit angelegten und regelmäßigen Lehrlingsbefragung des ÖGB. Diese zeigte zuletzt 2024, wie dringend es eine Professionalisierung in vielen Lehrbetrieben bräuchte. 22 Prozent der über 4.700 Teilnehmer:innen gaben an, zumindest einmal im Betrieb beleidigt, belästigt, bedroht oder bloßgestellt worden zu sein. 12 Prozent hatten das mehrmals erlebt. Ein Drittel dieser negativen Erfahrungen oder gar Übergriffe geht laut Erhebung auf Ausbilder:innen in Betrieben und nicht etwa Kolleg:innen zurück. Jedem zehnten Betroffenen wurde bereits Gewalt angedroht.

Mehr Feingefühl

„Ich habe das Gefühl, dass manche Lehrausbilder:innen und Führungspersonen gar nicht wissen, wie sie mit einem Lehrling umgehen sollen“, sagt Jaqueline Caia. „Man lernt gerade erst, da kann nicht alles auf Knopfdruck funktionieren.“ Caia absolviert eine Lehre als Verwaltungsassistentin in einer Magistratsabteilung der Stadt Wien und besucht die Berufsschule in der Embelgasse, die im Wiener Berufsschulspektrum als besonders modern und fortschrittlich hervorsticht. Caia hat sich im vierten Stock des insgesamt 5.000 Quadratmeter umfassenden Gebäudes auf einer Sitzgruppe niedergelassen.

Die 21-Jährige ist zielstrebig. Sie will in die soziale Arbeit, die Zeit, bis sie ein Selbsterhalter:innenstipendium beantragen kann, überbrückt sie mit einer Lehre. An dieser finde sie gut, „dass Leute, die aus der Schule kommen, das gewohnte Schulsystem nicht ganz verlieren, sondern langsam in die Arbeitswelt einsteigen können.“ Caia führt durch die hellen Räume der Schule, zeigt den Tischfußballtisch, die technisch ausgestatteten Klassenräume mit Computern und Andockstationen, an die Schüler:innen auch eigene Laptops anschließen können. „Die Lehrer:innen haben von ihrem Monitor aus aber immer Zugriff auf unsere Bildschirme“, sagt Caia.

Jaqueline Caia macht eine Lehre zur Verwaltungsassistentin und findet, „dass manche Lehrausbilder:innen und Führungspersonen nicht wissen, wie sie mit Lehrlingen umgehen sollen.“
Jaqueline Caia macht eine Lehre zur Verwaltungsassistentin und findet, „dass manche Lehrausbilder:innen und Führungspersonen nicht wissen, wie sie mit Lehrlingen umgehen sollen.“ | © Markus Zahradnik

Mit der Stadt Wien als Ausbilder und ihrer Berufsschule ist Caia zufrieden. Kürzlich wurde sie zur Schulsprecherin gewählt. Durch ihr Engagement bei der YOUNG younion, der Jugendabteilung der Daseinsgewerkschaft, habe sie einen guten Draht zu ihren Kolleg:innen. „Ich kenne Lehrlinge, die fast nichts zu tun haben, die ein, zwei Aufgaben erledigen und den restlichen Tag herumsitzen. Dann gibt es wiederum Lehrlinge, die mit ihrer Arbeit gar nicht fertig werden“, sagt Caia. Auch sie habe schon einmal einen raueren Umgangston in der Arbeit erlebt. „Es gibt viele Lehrlinge, die sich so etwas gefallen lassen und dann gar nichts sagen, weil sie Angst haben, gekündigt zu werden, eine Sperre zu bekommen oder nicht übernommen zu werden.“

Mehr Wertschätzung

Das Stereotyp des Lehrlings, mit dem man alles machen kann: Es ist in manchen Lehrbetrieben noch immer Realität. „Bei mir kam es vor, dass ich Toiletten putzen musste“, sagt der Jugendliche Omar*, „oder dass ich Tätigkeiten gemacht habe, mit denen ich gar nicht vertraut war oder die mir schlecht erklärt wurden.“ Der 17-Jährige macht mit seinen Kolleg:innen in einem Hof nahe seiner Berufsschule in der Wiener Längenfeldgasse Mittagspause. Es gibt Pommes, Kebap und Softdrinks.

Die jungen Männer machen eine überbetriebliche Lehre im Bereich E-Commerce. Ihrem Berufsschulgebäude im 12. Wiener Gemeindebezirk würden sie „10 von 10“ Punkten geben. Sie erleben damit eine Lehre, die zwar auf moderne Infrastruktur zurückgreift, aber strukturelle Herausforderungen hat. Bei der klassischen Lehre werden die Lehrlinge nach einem Bewerbungsverfahren direkt von den Betrieben angestellt. Für jene, die so keine Lehrstelle finden, gibt es die Möglichkeit der „Überbetrieblichen“. Dabei werden sie auch an Berufsschulen ausgebildet und müssen mehrere Praktika in Unternehmen absolvieren. Das Lehrlingsgehalt im ersten und zweiten Lehrjahr für die überbetriebliche Lehre beträgt nicht einmal 500 Euro.

Vom Gedanken her ist es ja sehr gut, Leuten, die keinen Lehrberuf finden, noch eine Chance zu geben,
aber die Umsetzung könnte besser sein.

Simon, Lehrling

„Vom Gedanken her ist es ja sehr gut, Leuten, die keinen Lehrberuf finden, noch eine Chance zu geben“, erzählt Simon*, „aber die Umsetzung könnte besser sein.“ Simon ist 18 und findet: „E-Commerce ist cool.“ Aber: „Wenn man Jugendliche, die – aus welchem Grund auch immer – keine Lehrstelle finden, mit jenen in eine Klasse steckt, die keine finden wollen, dann kann das für das Klima in der Klasse sehr schwierig sein.“

Mehr Chancen schaffen

Auf dem Arbeitsmarkt haben es Jugendliche aus überbetrieblichen Lehren nicht leicht. Als Praktikant:innen sind sie oft nur wenige Wochen in den Unternehmen und laufen Gefahr, für Hilfstätigkeiten eingesetzt zu werden. „Als Praktikant:in wird man nicht ernst genommen“, sagt Simon. „Niemand würde dir eine Aufgabe anvertrauen, bei der grob etwas schiefgehen könnte.“ Was diese Jugendlichen am System ändern würden? „Mehr Wertschätzung“, sagt Omar.

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„Wurstsemmeln holen, das Auto vom Chef putzen: Das sind Aufgaben, die die Motivation von jungen Leuten, die etwas lernen wollen, zerstören“, sagt Hauer von der ÖGJ. Was überbetriebliche Ausbildungen angeht, kommt der Bundesjugendsekretär zurück auf eine grundlegende Forderung: „Es müssen wieder mehr Betriebe Fachkräfte ausbilden“, um Jugendlichen generell wieder mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Für die ÖGJ ist klar, dass an vielen Ecken und Enden angesetzt werden muss. Denn was beim Gespräch mit Simon und anderen Lehrlingen deutlich wird, ist, dass es nicht nur um die Quantität, sondern auch um die Qualität von Ausbildungsplätzen geht.

*Namen geändert

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Über den/die Autor:in

Sarah Kleiner

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