Mit dem Rücken zur Wand
Österreich hat nach wie vor eine der höchsten Teuerungsraten Europas. Für den Jahresschnitt 2025 erwartet das Wirtschaftsforschungsinstitut (WIFO) 3,5 Prozent Inflation, für das kommende Jahr nur mehr 2,6 Prozent, was aber immer noch über dem von der Europäischen Zentralbank (EZB) angestrebten Zielwert von 2 Prozent liegt. Eine Befragung zu sozialen Krisenfolgen, die von der Statistik Austria unter dem Titel „So geht’s uns heute“ seit der COVID-Pandemie vierteljährlich durchgeführt wird, zeigt, dass es vielen Menschen wie Patrizia Seper geht: Etwa 12 Prozent der rund 3.800 befragten Personen erwarten in den kommenden drei Monaten Zahlungsschwierigkeiten bei den Wohnkosten.
Michael Ertl, Experte für Konjunktur und Verteilung in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der Arbeiterkammer Wien, erklärt dazu: „Wer sich einmal die Miete nicht mehr leisten kann, steht mit dem Rücken zur Wand. Bevor das passiert und man riskiert, die Wohnung zu verlieren, hat man wahrscheinlich schon in allen anderen Bereichen wie etwa bei Restaurantbesuchen und Lebensmitteln gespart und sogar die Heizung abgedreht.“

Armutsgefährdung in Österreich
Patrizia Seper heizt nur noch das Wohnzimmer. Ihren Beruf musste die Ordinationsassistentin krankheitsbedingt kurz vor ihrem 50. Geburtstag aufgeben. 2022 wurde bei ihr die neuroimmunologische Erkrankung ME/CFS diagnostiziert, kurz für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom. Die Krankheit kam schleichend und blieb lange unentdeckt. Die Symptome belasteten sie schon in jungen Jahren sehr, sie musste sich im Beruf besonders anstrengen. Sie konnte keinen Vollzeitjob ausüben und musste Abstriche im Privatleben machen.
Derzeit stehen Seper mit der Mindestsicherung plus Mietbeihilfe rund 1.250 Euro monatlich zur Verfügung, was gut 400 Euro unter der Armutsgefährdungsschwelle für Einpersonenhaushalte (1.661 Euro pro Monat) liegt. Ihr Erspartes ist aufgebraucht. Eine Schulterverletzung lässt sie nicht mehr behandeln. Um die Besuche beim ME/CFS-Spezialisten weiterhin bezahlen zu können, hat sie sich von ihrer Familie Geld geborgt. Seit vergangenem Jahr hat die alleinstehende Frau auch kein Auto mehr – ihren Garagenplatz behält sie: „Irgendwie hofft man, dass noch ein Wunder passiert.“
Existenzängste
Wer wie Seper mit ME/CFS lebt, leidet oft schon nach kleinsten körperlichen oder geistigen Anstrengungen unter einer gravierenden Verschlechterung des Gesundheitszustands. Manche Betroffene sind bettlägerig. Auch sie muss die meiste Zeit in Ruhe verbringen: „Ich schleppe mich von Tag zu Tag, treffe kaum noch jemanden persönlich.“ Schmerzen, Schlaflosigkeit und andere Symptome sind ständige Begleiter. Wenn sie sich zu sehr anstrengt, braucht sie Tage oder Wochen, um sich einigermaßen davon zu erholen. Einkäufe lässt sie sich häufig nach Hause liefern, fürs Kochen und Aufräumen reicht die Kraft nicht. Dazu kommt die Existenzangst: „Man wird nicht gesünder, wenn man ständig diesem Stress und den existenziellen Sorgen ausgesetzt ist, das muss man erst mal verkraften.“
Dennoch hat die Pensionsversicherungsanstalt (PVA) Sepers Antrag auf Berufsunfähigkeitspension abgelehnt, durch die sich ihre finanzielle Lage stabilisiert hätte. Um Pflegegeld und einen Behindertengrad habe sie noch nicht angesucht: „Ich bräuchte eigentlich Unterstützung im Haushalt, aber ich habe offen gesagt schon so ein Trauma von den Behörden, dass ich keine Anträge mehr stellen will.“ Per WhatsApp steht sie im Austausch mit rund 250 anderen ME/CFS-Betroffenen und erlebt, dass solche Anträge allzu oft abgelehnt werden (der ORF, die APA und „Dossier“ berichteten ausführlich).
Bevor man riskiert, die Wohnung zu verlieren,
hat man wahrscheinlich schon in allen anderen Bereichen wie etwa bei Restaurantbesuchen
und Lebensmitteln gespart und sogar die Heizung abgedreht.
Michael Ertl, Experte für Konjunktur und Verteilung in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft
Halber Preis und einfrieren
Auch Harald Riedl, der im Februar 60 wird und seit vier Jahren arbeitslos ist, muss den Gürtel deutlich enger schnallen. „Früher war mir egal, was etwas kostet.“ Jetzt macht es für ihn einen Unterschied, dass das Kilo Kaffee, das er immer gekauft hat, nicht mehr wie vor zwei Jahren 5,99 Euro, sondern 12,99 kostet. Riedl, der fast sein ganzes Berufsleben als Fahrer arbeitete – und das meist 60 Stunden pro Woche –, hat gut verdient. Er fuhr Lkws durch halb Europa, Wiener-Linien-Passagier:innen durch die Stadt sowie Tourist:innen nach Paris und Co. Er kündigte, weil ihm die Arbeitsbelastung mit zunehmendem Alter zu hoch wurde – dass er praktisch keine Chance auf einen neuen Job haben würde, hatte er nicht erwartet. Dies hat ihn in die aktuelle Lage versetzt, sodass er heute weiß, welche Lebensmittel wo am billigsten sind: „Ich habe für jedes Produkt einen eigenen Supermarkt.“
Immerhin habe er die Zeit, um Preise zu vergleichen und sich von überall die besten Angebote zu holen. Zwei Tage pro Woche arbeitet Riedl in einem sozialökonomischen Betrieb der Caritas am Wiener Mittersteig, wo er Elektrogeräte auf ihre Funktionstüchtigkeit überprüft. Dafür bekommt er 200 Euro im Monat – zusammen mit der Notstandshilfe macht sein Einkommen 1.200 Euro aus. Zum Glück legt er weder Wert auf Markenartikel noch auf Gütesiegel oder Bioprodukte. Heute kauft er oft Waren, die bald ablaufen, aber nur mehr die Hälfte des Ursprungspreises kosten, und friert vieles ein.
Armutsgefährdung in Österreich: 1,3 Millionen gehörden dazu
Mit ihren Einkommen gehören Riedl und Seper zur Gruppe der armutsgefährdeten Personen. 2024 waren das laut der Statistik-Austria-Erhebung zu Einkommen und Lebensbedingungen (EU-SILC) insgesamt 14,3 Prozent der österreichischen Bevölkerung – knapp 1,3 Millionen Menschen. Sie verfügten über ein Haushaltseinkommen von weniger als 1.661 Euro pro Monat. Auch wenn der Anteil der armutsgefährdeten Menschen an der Gesamtbevölkerung minimal zurückgeht – 2023 waren es noch 14,9 Prozent –, ist die Lage für viele Menschen prekär. 3,7 Prozent der Österreicher:innen lebten 2024 sogar in einer absoluten Armutslage: Sie konnten sich die Ausgaben des täglichen Lebens, die in der EU als Mindestlebensstandard gelten, nicht leisten.
Im Durchschnitt gibt es in Österreich wieder leicht positive wirtschaftliche Signale – das WIFO betitelt die Konjunkturprognose für 2025 und 2026 mit „Österreich schleppt sich aus der Rezession“. Das Land steuere auf eine moderate wirtschaftliche Erholung zu: Für 2025 wird ein BIP-Wachstum von 0,3 Prozent prognostiziert, für 2026 von 1,1 Prozent. Doch die Situation auf dem Arbeitsmarkt spitzt sich weiter zu: So wird für 2025 mit knapp 400.000 Arbeitslosen und einer Arbeitslosenquote von 7,5 Prozent gerechnet. Die hohe Inflation bleibt eine Herausforderung – besonders für Haushalte mit geringem Einkommen.
Wohnbau und Genügsamkeit
Harald Riedl kommt trotz geringen Einkommens gut über die Runden. Das liegt an mehreren Umständen: Seine 50-Quadratmeter-Sozialbauwohnung in Wien kostet nur 300 Euro im Monat – seine Fixkosten liegen insgesamt bei 600 Euro. Er hat keine Familienmitglieder zu versorgen, dafür einen Notgroschen, falls im Haushalt etwas kaputtgeht. Und er ist genügsam: Weder brauche er Restaurant- oder Kaffeehausbesuche, noch sehne er sich in die Ferne oder nach Luxus: „Ich habe gelernt, dass ich mit wenig glücklich sein kann“, sagt Riedl. So schaffe er es sogar, sich jeden Monat etwas Geld zur Seite zu legen.

Jede:r Zehnte spart Energie
Helene Schuberth, Bundesgeschäftsführerin des ÖGB für den Bereich Grundlagen und Interessenpolitik, warnt, dass die Politik die Dramatik der Lage noch immer unterschätze: „Die Inflation in Österreich zählt weiterhin zu den höchsten in Europa – und sie trifft jene am härtesten, die ohnehin am wenigsten haben.“ Sie selbst kenne Menschen, die ihre Heizungen nur noch auf 12 Grad einstellen. Zu den steigenden Energiepreisen der vergangenen Jahre gesellte sich zuletzt noch die Erhöhung der Netzkosten. Dem Energiepreisbarometer zufolge, den die Unternehmensberatung EY einmal jährlich durchführt, sparen derzeit neun von zehn Österreicher:innen aus Kostengründen Energie – jede zweite Person gab an, ihre Energiekosten seien 2025 gestiegen. 17 Prozent der Befragten konnten demnach gar ihre Energierechnungen nicht pünktlich bezahlen.
Neben den hohen Energiekosten sei die Situation auf dem Wohnungsmarkt besonders kritisch. Viele Mieter:innen würden „doppelt zahlen – über steigende Mieten und über die Energiekosten, die in den Mieten bereits enthalten sind“. Der ÖGB fordert unter anderem einen Mietpreisdeckel von 2 Prozent, und zwar auch auf dem ungeregelten Wohnungsmarkt, die Aufhebung oder starke Beschränkung von Mietbefristungen sowie die bundesweite Einführung von Leerstandsabgaben. Bei Energie und Lebensmitteln brauche es ein Preisüberwachungssystem, das „profitgetriebene Inflation“ in Zukunft verhindert. Für einige der sofort wirksamen preissenkenden Maßnahmen wären budgetäre Mittel notwendig, die aufgrund des Budgetdesasters, das die vorige Bundesregierung hinterlassen habe, nicht finanzierbar seien. Schließlich müsse die Steuerpolitik Vermögende stärker in die Pflicht nehmen, um unter anderem solche Maßnahmen finanzieren zu können.
Wider die Tristesse
„Ich sage immer: Besser reich und gesund als arm und krank – aber ich bin zufrieden“, sagt Harald Riedl. Bei genauerem Nachfragen lässt der selbsternannte „Einsiedler mit Strom und Internet“ doch den einen oder anderen Wunsch anklingen. Könnte er sich ein Auto leisten, würde er gerne in den Norden fahren: „Ich mag die skandinavischen Länder, die Mentalität der Menschen dort und das Meer – die Fjorde in Norwegen, eine Mörderlandschaft! Das würde mich schon interessieren – aber nicht um jeden Preis.“
Immer weniger junge Wiener:innen kommen mit ihrem Einkommen aus, zeigt Langzeitstudie der #AK Wien. Demnach ist neben der finanziellen Lage vor allem die Wohnsituation zunehmend schwierig, berichtet @wien.orf.at über #PK #AK @foresight-institut.bsky.social 🔽
— @Arbeiterkammer (@arbeiterkammer.at) 1. Dezember 2025 um 10:35
Im Moment seien das ohnehin nur Gedanken. Doch Riedls finanzielle Aussichten sind glücklicherweise positiv, denn bald wird sein Einkommen wohl etwas steigen: Er vermutet, in absehbarer Zeit in Pension geschickt zu werden, denn: „Ich bin für das AMS ein Horror“, scherzt er, „alt, keine Qualifikation, langzeitarbeitslos.“ Humor scheint generell ein Begleiter in Riedls Leben zu sein, auch wenn’s mal schwierig wird.