Die emotionale Distanz zu deiner Familie wird von Turnus zu Turnus größer, ob du willst oder nicht“, sagt Blaženka Marić. „Du lebst in zwei Welten.“ Die 24-Stunden-Betreuerin verbringt abwechselnd 14 Tage bei ihrer Klientin im niederösterreichischen Mödling und fährt dann für zwei Wochen heim nach Bosnien-Herzegowina. Dort warten ihr Ehemann und zwei der drei Söhne, die noch zu Hause leben, auf sie. Die Männer würden sie immer erst einmal ausschlafen lassen, aber es gehe dann schnell wieder los mit dem Alltag. „Organisatorisch wartet alles auf dich: der Haushalt, die Kinder, Termine. Das ist emotional schon belastend auf Dauer.“
Die 51-Jährige ist seit sieben Jahren wie rund 57.000 weitere Personen in Österreich als selbstständige Personenbetreuerin tätig. Über 90 Prozent davon sind Frauen, mehr als 97 Prozent kommen laut Zahlen der WKÖ aus anderen Ländern, die meisten aus Rumänien, der Slowakei und Ungarn. Sie pendeln und verbringen immer nur einige Wochen in Österreich. Ohne diese Arbeitskräfte wäre es nicht möglich, die Betreuung von pflegebedürftigen Menschen in Österreich zu bewerkstelligen.
Herrinnen der Lage
Marić’ Klientin, Frau B., sitzt in ihrem Rollstuhl vor dem Esstisch in der Mitte der großräumigen Wohnküche. Vor zwei Jahren musste sich die 87-jährige Witwe einer Herzoperation unterziehen, während der sie einen Schlaganfall erlitt. Seither ist sie ein Pflegefall der Stufe fünf, insgesamt gibt es sieben. An der Wand hängt ein Schild: „Herrin der Lage“ ist darauf zu lesen. „Das Sagen haben hier mittlerweile die Betreuerinnen“, sagt Frau B. und lacht. Nach einigen anderen 24-Stunden-Betreuerinnen ist vor einigen Monaten Marić zu ihr gekommen. „Blaža, bringst du bitte die Teller und Gabeln?“, sagt Frau B. zu ihr.
Marić bringt Gugelhupf und Kaffee an den Tisch. Abgesehen vom Zubereiten des Essens ist sie als 24-Stunden-Betreuerin dafür verantwortlich, Frau B.s Blutdruck zu messen. Sie schachtelt Medikamente ein, hilft Frau B. aus dem Bett, wenn sie morgens aufsteht, wäscht sie, zieht sie an. Sie geht für Frau B. einkaufen und macht täglich mit ihr einen Spaziergang oder besucht ein Kulturevent, mal ein Konzert, mal ein Theaterstück, sofern es etwas Barrierefreies gibt. Marić ist wie der Großteil der Betreuer:innen selbstständig und erhält für ihre Arbeit 100 Euro pro Tag – brutto, denn davon muss sie rund ein Viertel an die Sozialversicherung abführen und gegebenenfalls auch Einkommensteuer zahlen.
„Als wir 2018 und 2019 begonnen haben, die Branche zu organisieren, hatten wir teilweise Betreuer:innen mit Tageshonorarsätzen von 30 Euro“, sagt Yvonne Heuber. „Mittlerweile sind die Honorare gestiegen, daran kann man auch gut den Pflegenotstand ablesen.“ Heuber ist Geschäftsführerin des Vereins vidahelp, der pflegende Angehörige unterstützt, sowie Generalsekretärin der 2017 gegründeten Gewerkschaftsinitiative vidaflex. Mit Letzterer und der Website betreuerinnen.at ist die Schwesterorganisation der Gewerkschaft vida in die Vermittlung und Interessenvertretung von selbstständigen Betreuer:innen eingestiegen. Sie streckt die Fühler in einen Arbeitsbereich in Österreich aus, der von Ausbeutung geprägt ist.

Erschreckende Beispiele
Es sind vor allem private Vermittlungsfirmen, die Personen aus dem Ausland mit pflegebedürftigen Klient:innen hierzulande zusammenbringen – mit Nachteilen für die Betreuer:innen: Die Vermittlungsfirmen kassieren hohe Gebühren und klären sie teilweise falsch über ihre Versicherungspflichten auf – was empfindliche Nachzahlungen nach sich ziehen kann –, oder sie enthalten ihnen Honorare vor. Sie haben meist kein Mitspracherecht, zu wem sie kommen. Vor allem sprachliche Barrieren erschweren es ihnen, sich adäquat über ihre Rechte und Pflichten zu informieren.
Heuber kann erschreckende Beispiele aufzählen: „Wir hatten eine Betreuerin, die mit dem Klienten im Doppelbett schlafen musste, und eine, die in einer Art Abstellkammer wohnen musste, ohne Fenster“, erzählt sie. Bei betreuerinnen.at werden über ein Matching-System Betreuer:innen mit Klient:innen zusammengebracht, Bedürfnisse wie der gewünschte Arbeitsort werden berücksichtigt. Angehörige auf der Suche nach Betreuung zahlen jährlich eine Nutzungsgebühr, Betreuer:innen zahlen zwischen 200 und 500 Euro im Jahr, je nachdem, ob sie vidaflex-Mitglieder sind oder nicht. Dafür haben sie jederzeit ein Beratungsangebot in mehreren Sprachen zur Verfügung. In Vorgesprächen mit den Angehörigen wird geklärt, welche Tätigkeiten der:die Betreuer:in übernimmt bzw. welche nicht und welche Bedingungen in den Wohnungen vorherrschen.
Marić wurde in Deutschland geboren, über ihre Ehe ist sie nach Bosnien gekommen. Deutschkenntnisse seien ein essenzieller Vorteil, um sich in dem Beruf durchsetzen zu können. Auch sie hat in ihrer Zeit in Österreich viel erlebt. Einmal wurde sie von einem Klienten fremdenfeindlich beschimpft. „Ich lasse meine Familie in Bosnien im Stich, damit es anderen Menschen gut geht, und dann trifft man noch auf Undankbarkeit. Das tut schon weh“, sagt sie, aber das seien nur die Schattenseiten ihrer Arbeit. „Die kommen vor.“ Wichtig seien bei dem Beruf Empathie für ältere Menschen und Geduld. „Bei Frau B. haben wir gesagt, ich komme zu dieser Arbeitsstelle ohne Vorbelastung. Und zum Glück ist Frau B. so eine fröhliche Person.“
Ich lasse meine Familie in Bosnien im Stich,
damit es anderen Menschen gut geht,
und dann trifft man noch auf Undankbarkeit.
Das tut schon weh.
Blaženka Marić, 24-Stunden-Betreuerin
Zu Besuch am Bau
Auch die Baubranche zeichnet sich strukturell durch einen hohen Migrationsanteil aus, die überwiegende Mehrheit ist außerdem männlich. Hier ist vor allem die Entsendung von Arbeitskräften ein großes Thema. Davon spricht man, wenn eine Firma in einem EU-Mitgliedstaat eine Arbeitskraft zur Erbringung von Dienstleistungen in ein anderes EU-Land schickt. Laut europäischer Entsenderichtlinie gilt dabei der Grundsatz: Gleiches Entgelt für gleiche Arbeit am gleichen Ort. Das heißt im Zusammenhang mit Österreich, dass entsendete Arbeitnehmer:innen aus Slowenien, Rumänien, Bulgarien oder anderen Ländern für ihre Arbeit hierzulande nach Kollektivvertrag entlohnt werden müssen. Auf europäischer Ebene bewirkt das unter anderem eine Arbeitsmigration in den Norden, wo die Gehälter höher sind als im Süden. Die Entsenderichtlinie wird aber nicht immer eingehalten, wie man bei der Gewerkschaft Bau-Holz (GBH) weiß.

„Die Idee, eine Anlaufstelle für slowenische Arbeitnehmer:innen einzurichten, die in Österreich arbeiten, ist schon 2015 entstanden, nachdem wir im südsteirischen Raum Missstände mitbekommen hatten“, erklärt Andreas Linke, Landesgeschäftsführer der GBH Steiermark. In Spielfeld nahe der Grenze zu Slowenien hat die Gewerkschaft ein Projekt verwirklicht, das 2024 von der European Labour Authority (ELA) als „Good Practice“ gelistet wurde. Im Rahmen der Initiativen „Faire Arbeit“ und „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ hat sich die Baugewerkschaft den Beschäftigungsverhältnissen von entsendeten Arbeitskräften gewidmet und bietet Arbeiter:innen Informationen in mehreren Sprachen an. Sie stammen aus den verschiedensten Ländern und werden über die slowenischen und kroatischen Firmen nur vermittelt.
„Eine andere Welt“
„Ein negatives Highlight war ein 62-jähriger Fliesenleger, der über Jahre als Lehrling im ersten Lehrjahr eingestuft war“, erzählt Manuela Rozin. Sie ist Fachexpertin bei der GBH Steiermark, spricht Slowenisch und BKS (Bosnisch/Kroatisch/Serbisch) und führte seit Beginn der Initiative 2017 Tausende Beratungen von Bauarbeiter:innen durch. Sie ist selbst oft auf Baustellen unterwegs, schüttelt Hände, verteilt Flyer, erklärt, was die Arbeitnehmer:innen von der Gewerkschaft haben können. „Wir sehen dort oft Unterentlohnung, aber auch Fälle, bei denen Arbeitnehmer:innen gar keinen Lohn bekommen, drei Monate durcharbeiten und zurück in ihre Heimat geschickt werden.“ Um die Preise für Bauangebote zu drücken, setzt die Branche auf verzweigte Subunternehmensstrukturen, Arbeitgeber:innen sparen bei Sonderzahlungen und Reisekostenerstattungen, oder sie wenden eine falsche – günstigere – KV-Einstufung an.
Manche Firmen melden die Arbeiter:innen zuerst bei der Sozialversicherung an, danach aber während der Arbeit wieder ab. Das heißt, diese arbeiten in Österreich, sind dabei aber nicht krankenversichert. „Jeder Fall ist eine Katastrophe“, sagt Rozin. Arbeitnehmer:innen zu finden, die über ihre Erlebnisse am Bau berichten wollen, ist selbst unter Zusicherung von Anonymität schwierig. Die Angst vor negativen Konsequenzen oder davor, die Arbeit zu verlieren, ist groß. Und sie ist berechtigt: „Wir hatten Firmen, die den Arbeitnehmer:innen drohten, wenn sie auf ihren Rechten bestanden. Das ist eine andere Welt“, sagt Rozin.
„Wir bewegen uns auf dünnem Eis“, fügt Linke hinzu. „Da geht es wirklich um Familien.“ Erschwerend hinzu komme, dass selbst die Unterentlohnung für viele Arbeitnehmer:innen mehr Entgelt bedeutet, als sie in ihren Herkunftsländern erhalten würden. Viele sind deshalb gehemmt, das einzufordern, was ihnen eigentlich zusteht.
👍 Schwerarbeiterpension für Pflegekräfte!! Denn #Pflege ist Schwerstarbeit, betont #AK Präsidentin @renateanderl.bsky.social. Die AK fordert, dass auch die Ausbildungszeiten auf der FH als Versicherungszeiten anerkannt werden. 💪
— @Arbeiterkammer (@arbeiterkammer.at) 22. April 2025 um 14:32
Der schönste Lohn
Mittlerweile ist die Beratungsstelle „Faire Arbeit“ von einem landesgeförderten Projekt zu einer fixen Anlaufstelle innerhalb der GBH geworden und versucht weiterhin, Arbeitnehmer:innen die Angst zu nehmen. Seit 2017 konnte man rund eine Million Euro für betroffene Arbeitnehmer:innen erkämpfen. „Daraus ergeben sich auch wahnsinnig schöne Momente der Dankbarkeit, bis hin zu Tränen und Besuchen von ganzen Familien“, sagt Rozin. „Es ist der schönste Lohn, wenn man sieht, dass man jemandem so geholfen hat. Das treibt einen an, weiterzumachen.“
Und der jahrelange Einsatz zeigt Wirkung: „Mittlerweile sind wir mit unserem Büro in Spielfeld schon bis Montenegro und Albanien bekannt“, sagt GBH-Landesgeschäftsführer Linke. „Die Leute dort wissen, dass es hier in Österreich jemanden gibt, der ständig nachbohrt.“ Außerdem formuliert er einen Appell: „Meine Botschaft ist, Entsendearbeitnehmer:innen nicht als ,Ausländer:innen‘ zu betiteln. Wir leben in Europa, das sind europäische Arbeitnehmer:innen. Man muss hinschauen, und sie müssen gleich behandelt werden.“