„Wir brauchen eine antifaschistische Wirtschaftspolitik“

Julia Ehs ist Politologin und steht mit einem blauen Shirt vor einer Wand. Symbolbild für das Demokratieempfinden der Gesellschaft und wie sich dieses verändert.
Tamara Ehs ist Politikwissenschafterin und Demokratieberaterin in Wien und Brüssel, außerdem Fellow an der Academy of International Affairs Bonn. Ihre Forschung konzentriert sich auf demokratische Innovationen mit Fokus auf soziale Ungleichheit und Gefahren der Autokratisierung. | © Markus Zahradnik
Die Politologin Tamara Ehs argumentiert im Interview, dass die Menschen in Demokratie Freiheit und Gleichheit sehen – und diese Versprechen eingelöst haben wollen.

Tamara Ehs erlebt regelmäßig, wie erschüttert der Glaube an die Demokratie in Österreich heutzutage zum Teil ist. Bei ihren Vorträgen in Schulen oder der Erwachsenenbildung begegnet sie Menschen, die mit der Idee eines „freundlichen Diktators“ liebäugeln oder die das Gefühl haben, mit ihrer Stimme nichts bewirken zu können. Im Gespräch erklärt die Politikwissenschafterin, was hinter diesen Tendenzen steckt und wie man die Österreichische Demokratie vor autoritärer Übernahme schützen kann.

Arbeit&Wirtschaft: Frau Ehs, eine zentrale Aussage in Ihrem neuen Buch „Verteidigung der Demokratie“ ist, dass Menschen das Modell Demokratie annehmen müssen. Was meinen Sie damit?

Tamara Ehs: Demokratie muss einen erkennbaren Vorteil gegenüber anderen Herrschaftsformen darstellen. Es gibt viele Möglichkeiten, gesellschaftliches Leben zu organisieren: Sollen die Reichsten herrschen oder die Klügsten? Oder aber sollen alle, die von Entscheidungen betroffen sind, diese auch mitgestalten können? Das wäre dann die Demokratie.

Genau diese Idee hat sich doch durchgesetzt.

In den vergangenen 200, 300 Jahren hat sich die Demokratie als das Modell etabliert, das von den meisten Menschen als erstrebenswert erachtet wird. Das war mit großen Kämpfen verbunden – denken wir nur an die Arbeiter:innengeschichte. Es wurde dafür gekämpft, dass jede Stimme gleich viel zahlt. Dieses Versprechen muss die Demokratie aber auch einlösen. Dabei geht es einerseits darum, frei zu sein. Im feudalen System konnte eine einfache Bäuerin oder ein Arbeiter nicht heiraten, wen sie bzw. er wollte, und nicht frei über ihren bzw. seinen Job entscheiden. Das zweite Versprechen ist Gleichheit, also dass ich als Bürgerin gleich viel zähle wie andere. Die Krisen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass mit dem System etwas nicht stimmt.

Wie zeigt sich das?

Reichtum ist in der Gesellschaft inzwischen extrem ungleich verteilt. Außerdem sind 20 Prozent der dauerhaft in Österreich lebenden Menschen nicht wahlberechtigt, in Wien sogar schon 35 Prozent. Das politische System antwortet auf obere Einkommensschichten besser als auf Menschen, die prekär beschäftigt oder armutsgefährdet sind. Die politischen Wünsche dieser Gruppen werden nicht umgesetzt. Beispiele sind vermögensbezogene Steuern: Seit zwei Jahrzehnten sehen wir in Meinungsumfragen eine große Befürwortung in der Bevölkerung dafür. In der Politik kamen aber keine entsprechenden Mehrheiten zustande.

Stichwort Ungleichheit: Hängt das nicht auch mit Kapitalismus bzw. Neoliberalismus zusammen?

Ja, die Entwicklung unserer Demokratie ist eng an das kapitalistische Wirtschaftssystem gebunden. Unsere Aufgabe wird es sein, eine Demokratie ohne Wachstum zu gestalten. Wir können in einer postindustriellen Dienstleistungsgesellschaft gar nicht mehr in dem gewünschten Ausmaß wachsen, und gleichzeitig sollten wir es auch gar nicht, denn das schafft unser Planet nicht.

Tamara Ehs
„Unsere Aufgabe wird es sein, eine Demokratie ohne Wachstum zu gestalten.“ | © Markus Zahradnik

Klingt nach einer Mammutaufgabe. Im Buch schreiben Sie, es brauche dafür eine neue Erzählung.

Ja, Erzählung und Taten. Zohran Mamdani, Burgermeister-Kandidat der Demokraten in New York, zeigt aktuell, wie wichtig es ist, Existenzängste ernst zu nehmen und für leistbares Wohnen, Bildung und gute Schulen einzutreten.

Funktionieren denn aktuell Erzählungen über eine bessere Zukunft?

Nein, weil es nicht mehr spürbar ist. Früher war das Versprechen der Demokratie und der Sozialdemokratie ein Fortschrittsversprechen: Wer arbeitet, kann sich etwas aufbauen – Haus, Auto, Urlaub –, und die Kinder haben es einmal besser. Heute herrscht stattdessen eine Abstiegserzählung. Wer selbst nicht abrutscht, sieht, dass es die Kinder schwerer haben.

Viele Menschen denken: Solange gewählt
wird, ist eine Demokratie keine Autokratie. Aber Demokratie bedeutet mehr,
als Wahlen abzuhalten. 

Tamara Ehs, Politikwissenschaftlerin

Mit welchen Folgen?

Einem Ohnmachtsgefühl. Ohne die Aussicht auf eine bessere Zukunft wächst aber die Angst, und Verteilungskonflikte verschärfen sich. Dann heißt es schnell: „Unser Geld für unsere Leut’!“ Vom Wirtschaftsminister (Wolfgang Hattmannsdorfer, ÖVP, Anm.) hören wir, die Menschen sollen mehr Vollzeit arbeiten. Binnen kürzester Zeit hat sich die Debatte von Arbeitszeitverkürzung hin zu einer Forderung nach Mehrarbeit verschoben – ohne Rücksicht auf Sorgearbeit wie Kinderbetreuung oder die alternde Gesellschaft.

Wie kommen wir da wieder raus?

Parteien oder Gewerkschaften haben ihren Mitgliedern immer eine kollektive Identität angeboten und gezeigt: Arbeitslosigkeit oder andere Probleme sind kein individuelles Versagen, sondern gesellschaftliche Herausforderungen. Doch das neoliberale System vermittelt uns: Du bist deines Glückes und auch deines Unglückes Schmied. Das erzeugt Druck – und dieser kann wiederum von rechten Parteien genutzt werden. Ein Schritt dagegen können bessere gesellschaftliche Begegnungsraume sein, etwa Bürgerräte. Sie retten die Demokratie nicht allein, aber Menschen unterschiedlicher Hintergründe reden miteinander. So können neue Narrative und kollektive Identitäten entstehen – jenseits rechter, volkstümlicher Erzählungen. Nationalistische Identitäten wirken, wenn andere Identitäten bruchig geworden sind. Job weg, Ehe weg – aber rot-weiß-rot: Berge, Seen und das schone Österreich bleiben.  Daran halten sich Menschen fest – und die FPÖ macht mit der vermeintlichen Bedrohung dieses letzten Rückzugsortes durch „Brüssel“ oder Fluchtlinge Politik.

Politologin Tina Ehs steht vor einem unscharfen Hintergrund. Symbolbild für den Zustand der Demokratie in Österreich.
Zur Stärkung der Demokratie empfiehlt Tamara Ehs Bürgerräte auf kommunaler Ebene, „weil man vor Ort Probleme, Parteien und Akteur:innen kennt und direkt Ergebnisse sieht“. | © Markus Zahradnik

Wie können Bürgerräte konkret helfen?

Vor allem auf kommunaler Ebene, weil man vor Ort Probleme, Parteien und Akteur:innen kennt und direkt Ergebnisse sieht. Je höher die Ebene, desto schwieriger ist es, die eigene Wirksamkeit einzuschätzen.

Der 2022 gestartete Klimarat blieb aber folgenlos …

Er war ein Instrument, um gesellschaftlichen Rückhalt für eine ambitioniertere Klimapolitik zu schaffen – nur wurden seine Empfehlungen nicht umgesetzt. Ich bin für eine Institutionalisierung, wie in Ostbelgien zum Beispiel: Dort gibt es eine zweite Kammer mit einem ständigen Bürgerrat. Es geht dabei nicht darum, die repräsentative Demokratie abzuschaffen, sondern sie repräsentativer zu machen. Denn wer sitzt heute im Parlament? Früher gab es eine höhere Arbeiter:innenquote, heute dominieren Akademiker:innen – man spricht von einer „Diplomiertendemokratie“. Viele Lebensrealitäten fehlen in der Politik.

Wie können sie Teil davon werden?

Eine Möglichkeit können Quoten sein: Einige Lander haben Frauenquoten eingeführt, in Österreich gibt es sie nur auf Parteiebene. Die französische Ökonomin Julia Cage kann sich eine Arbeiter:innenquote vorstellen, damit auch diese Lebensrealitäten vertreten sind. Ich plädiere in meiner Tätigkeit als Demokratieberaterin aber dafür, bei den Parteien anzusetzen: Sie sollten Menschen aus allen Schichten ansprechen und systematisch rekrutieren. Wir bräuchten mehr Rekrutierung in Betrieben, über Betriebsräte und Gewerkschaften, um das Vertrauen zu stärken. Der Demokratie-Monitor des FORESIGHT Institutes zeigt jedes Jahr, dass sich Menschen aus unteren Einkommensschichten politisch nicht repräsentiert fühlen – genauso wie Menschen mit Migrationsgeschichte.

Im Buch schreiben Sie, dass Demokratie Zeit braucht. Aber haben wir die – Stichwort Krisenjahre?

Die autoritäre Versuchung von Führungsfiguren wie Donald Trump liegt darin, dass sie per „executive orders“, also mit Dekreten regieren. Das geht schnell – vieles in der Demokratie dauert sonst üblicherweise lang. Deshalb sollten wir unsere Systeme so aufstellen, dass sie auch in Krisen gut funktionieren. Ich begrüße es, dass im Koalitionsprogramm der Bundesregierung ein Verfassungskonvent angekündigt ist, um unsere Demokratie wehrhafter und schnell handlungsfähig zu machen. Ein Vorbild ist das „Thuringenprojekt“, das Verfassungslücken aufzeigte. Diese konnten für Demokratieabbau genutzt werden. So ein Projekt brauchten wir auch in Österreich. Forscher:innen betonen etwa seit Jahrzehnten, dass das Amt des Bundespräsidenten autoritäre Mechanismen aufweist und reformiert werden musste.

Österreich hat eine neue Regierung – ohne FPÖ, also eine Verschnaufpause. Überlegungen, wie wir die Verteidigung der Demokratie auf breite Beine stellen und für die nächsten Jahre absichern, stelle ich in meinem neuen Buch an. Erscheint demnächst @oegb.bsky.social shop.oegbverlag.at/verteidigung…

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— Tamara Ehs (@tamaraehs.bsky.social) 2. März 2025 um 16:00

Denken Sie, Österreich könnte leicht in eine autokratische Regierung kippen?

Das Problem ist, dass viele Menschen denken: Solange gewählt wird, ist eine Demokratie keine Autokratie. Aber Demokratie bedeutet mehr, als Wahlen abzuhalten. Der V-Dem-Index, an dem ich mitarbeite, ordnet etwa Ungarn nur mehr als „Wahlautokratie“ ein, und das EU-Parlament folgt uns in dieser Einschätzung. Wenn Menschen Existenzängste haben, dann rücken rechtsstaatliche Prinzipien für sie in den Hintergrund. Es braucht eine antifaschistische Wirtschaftspolitik: leistbares Wohnen, ein bezahlbares Bildungs- und Gesundheitssystem. Das politische System muss Erleichterung bringen, sonst fragen sich viele, ob nicht ein „guter Diktator“, der Mieten senkt und Jobs schafft, besser sei. Solche fatalen Rechnungen gab es schon vor dem Nationalsozialismus, und es gibt sie noch immer. Wir brauchen darauf solidarische, menschenfreundliche Antworten.

Und wie kann das gelingen?

Ich glaube nicht, dass ein großes Narrativ oder eine Partei allein alles ändern kann. Wir brauchen auch Grassroot-Initiativen. Wir müssen lokal anfangen.

Wie sieht es mit Mitbestimmung am Arbeitsplatz aus?

Wirtschaftstreibende müssen verstehen, dass wirtschaftlicher Erfolg Demokratie und Freiheitsrechte braucht. Deshalb müssen Arbeitnehmer:innenrechte gestärkt werden, denn Arbeitswelten werden sonst zu einem Nährboden für Extremismus. Mitbestimmung, Solidarität und Mitwirkungsgefühl im Betrieb stärken hingegen die Demokratie – auch außerhalb der Arbeit. Und: Wo es Betriebsräte gibt, nehmen Menschen eher an Wahlen teil und vertrauen der Demokratie mehr.

Buchtipp: Verteidigung der Demokratie
In ihrem Essay setzt sich Tamara Ehs mit den Strukturen, Inhalten und Voraussetzungen der Demokratie auseinander und geht der Krise der Repräsentation sowie autoritären Versuchungen nach.

ÖGB-Verlag | 2025 | 160 Seiten | EUR 19,90 | Hier bestellen
ISBN: 978-3-99046-743-5.

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Über den/die Autor:in

Richard Solder

Richard Solder ist Arbeit&Wirtschaft-Chefredakteur. Davor leitete er die Redaktion des Magazins "Südwind". Journalistische Praxis sammelte er bei der Wiener Zeitung und als freier Journalist, u.a. für Gewerkschaftsmedien. Als externer Lehrbeauftragter gibt er sein Wissen an Studierende des Publizistik-Instituts der Universität Wien weiter, an dem er selbst auch studierte.

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