Herbstlohnrunde: Gesamtkunstwerk Kollektivvertrag

Der AK-Wirtschaftsforscher Sepp Zuckerstätter steht vor einer Glaswand. Symbolbild für die Kollektivvertragsverhandlungen im Herbst. | © Markus Zahradnik
Win-win-Situation: Der AK-Wirtschaftsforscher Sepp Zuckerstätter sieht die Stärke des österreichischen KV-Systems darin, „auch in schwierigen Zeiten einen für beide Seiten tragbaren Kompromiss zu finden“. | © Markus Zahradnik
Die Herbstlohnrunde läuft an: Das freie Spiel der Arbeitskräfte wird heuer inmitten einer Wirtschaftskrise ausgetragen. Für erfolgreiche KV-Abschlüsse braucht es Verhandlungsgeschick und Respekt, Lohnzurückhaltung ist hingegen der falsche Weg.

Die österreichische Wirtschaft kränkelt. Das Bruttoinlandsprodukt will nur zäh wieder wachsen, der nationale Sparkurs erschwert Investitionen. „In den letzten fünf Jahren war die Situation nicht leicht“, sagt Sepp Zuckerstätter von der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der AK Wien. „Nach der Coronakrise wäre es eigentlich bergauf gegangen, doch dann kam mit dem Ukraine-Krieg die Rohstoffpreiskrise.“

Noch immer kämpft Österreich mit einer hohen Inflation, auch ein EU-Defizitverfahren wurde eingeleitet, um die Neuverschuldung in den Griff zu bekommen. „Die damalige Regierung hat die Inflation nicht abgefangen“, kritisiert Zuckerstätter. „Es wäre klüger gewesen, Energiepreise zu regulieren und die Mietpreisbremse früher einzuführen.“ Stabilität ist jetzt gefordert, und dazu kann auch die Sozialpartnerschaft mit ihrem Hauptinstrument, dem Kollektivvertrag (KV) beitragen. Er schafft sichere Rahmenbedingungen für Arbeitnehmer:innen und Arbeitgeber:innen. Ein vernünftiger Abschluss bei der kommenden Herbstlohnrunde wäre wichtig.

Es wäre klüger gewesen,
Energiepreise zu regulieren und
die Mietpreisbremse früher einzuführen..

Sepp Zuckerstätter, AK Wien

In ganz Österreich sind 98 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse durch Kollektivverträge geregelt, circa 450 KVs verhandeln die Gewerkschaften. In jedem einzelnen geht es um wesentlich mehr als die bloße Lohnabgeltung. „Die Stärke des österreichischen Systems ist es, auch in schwierigen Zeiten einen für beide Seiten tragbaren Kompromiss zu finden“, erklärt AK-Experte Zuckerstätter. Für Arbeitnehmer:innen bietet der KV eine Absicherung: Das Einkommen kann nicht plötzlich absinken, und die Zukunft kann einigermaßen sicher geplant werden. Die Arbeitgeber:innen profitieren durch klare Vorgaben zu den Arbeitsbedingungen. Einheitliche Standards minimieren mögliche Konflikte mit der Belegschaft und reduzieren das Risiko arbeitsrechtlicher Auseinandersetzungen. Damit schafft der KV Planungssicherheit und sorgt für Kosteneffizienz im Unternehmen.

Maßgefertigte Vereinbarung

Dass auch auf besondere Bedürfnisse der Arbeitgeber:innen eingegangen wird, zeigte u. a. 2023 der Lohnabschluss für die Beschäftigten der Metallindustrie. Die Einführung der sogenannten Wettbewerbs- und Beschäftigungssicherungsklausel (WBSK) ermöglicht es Unternehmen, in bestimmten Fällen von den allgemeinen Lohn- und Gehaltserhöhungen abzuweichen – etwa, wenn dadurch die Beschäftigung der Mitarbeiter:innen gesichert wird. Rund 100 Firmen haben diese Klausel in Absprache mit ihren Betriebsrat:innen bereits genutzt, gut 40.000 Arbeitnehmer:innen waren davon betroffen.

Vorsitzenderder Produktionsgewerkschaft, Reinhold Binder sitzt auf einer Couch und spricht über die Herbstlohnrunden. | © Markus Zahradnik
Nulllohnrunden, wie von der Industriellenvereinigung gefordert, sind für den Vorsitzenden der Produktionsgewerkschaft, Reinhold Binder, ein No-Go: „Das würde die Konjunktur endgültig abwürgen.“ | © Markus Zahradnik

Allein anhand dieses Beispiels erscheint es nicht nachvollziehbar, wenn das Umfeld der Arbeitgeber:innen das KV-System schwächen will – etwa mit einer drei Jahre währenden Nulllohnrunde trotz überdurchschnittlich hoher Inflation, wie sie etwa Kurt Maier, Präsident der steirischen Industriellenvereinigung (IV), forderte. Dabei gilt: Erst erhöhen Unternehmen die Preise, diese Profite treiben die Inflation an, und die Arbeitnehmer:innen müssen mit ihrer Vorleistung Reallohnverluste verkraften. Denn in den zwölf Monaten bis zur nächsten Lohnerhöhung steigen die Preise – Stichwort rollierende Inflation –, sie bekommen in dieser Zeit aber immer noch das gleiche Entgelt. „Nulllohnrunden wären Gift für die heimische Wirtschaft“, formuliert es der Bundesvorsitzende der Produktionsgewerkschaft (PRO-GE), Reinhold Binder. „Wirtschaftsforscher:innen betonen, dass die derzeitigen Konjunkturprobleme vor allem auf eine geringe Nachfrage zurückzuführen sind. Der IV-Vorschlag würde die Konjunktur daher endgültig abwürgen.“

Beginn der Verhandlungen

Tatsächlich hat sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Industrie seit Anfang 2023 verschlechtert – allerdings ging diesem Abwärtstrend ein Jahrzehnt kontinuierlicher Verbesserungen voraus, denn die Produktivität der Industrie ist in den vergangenen 15 Jahren etwa dreimal so stark gewachsen wie der gesamtwirtschaftliche Durchschnitt. Eine Nulllohnrunde könne die aktuellen Probleme nicht lösen. „Was wir dringend brauchen, sind Strategien für die heimische Industrie, mit dem Ziel, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, die Produktivität zu erhöhen und Arbeitsplätze zu schaffen“, sagt Binder. Insgesamt verhandelt die PRO-GE mehr als 120 KVs und bereitet sich darauf sorgfältig vor, eine Lagebeurteilung wird vorab erstellt. Das gelingt, indem innerhalb eines Jahres bis zu 600 Betriebe besucht werden. „Wir sind in vielen Betrieben unterwegs und führen Gespräche mit Beschäftigten und Betriebsrat:innen, mit dem Vorstand, der Geschäftsführung und den Eigentümer:innen“, so der Bundesvorsitzende.

Mitte September beginnen die Verhandlungen zum neuen Metaller-KV. Er gilt als eine Art Leitkollektivvertrag für die Verhandlungen vieler anderer Sparten. Faire Löhne sind dabei wieder essenziell: Sie vermögen Kaufkraft und Wohlstand zu sichern. Deshalb steht die PRO-GE für eine solidarische Lohnpolitik und sozialen Ausgleich. Für Beschäftigte mit geringeren Einkommen fielen die Lohnabschlüsse in den letzten KV-Verhandlungen im Verhältnis höher aus. „Vor allem die niedrigen und mittleren Einkommensgruppen profitieren von einem dauerhaften Teuerungsausgleich. Das ist uns ein großes Anliegen“, sagt Binder.

Denn Geringverdiener:innen geben tendenziell einen größeren Anteil ihres Einkommens für Konsum aus und kurbeln damit die Wirtschaft an. Die Bedürfnisse der unteren Einkommensgruppen sind stark auf den Verbrauch lebensnotwendiger Güter und Dienstleistungen ausgerichtet. „Wichtig ist: Die Stärkung des Wirtschaftsstandorts kann nur mit qualifizierten Arbeitnehmer:innen gelingen“, so Binder. „Sie sind der Schlüssel für die Transformation und verantwortlich für unsere Innovationskraft.“ Wesentlich müsse deshalb im Rahmen einer Industriestrategie eine Aus- und Weiterbildungsoffensive sein.

Eva Scherz verhandelt seit 20 Jahren KVs bei der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA). | © Markus Zahradnik
Eva Scherz verhandelt seit 20 Jahren KVs bei der Gewerkschaft der Privatangestellten (GPA). Vorbereitung und Respekt seien zentral – und: „Es hilft, wenn Arbeitgeber:innen die Sozialpartnerschaft positiv sehen.“ | © Markus Zahradnik

Respekt als Grundlage

Auch für Eva Scherz und ihr Team ist akribische Vorbereitung das Um und Auf. Die GPA-Verhandlungsführerin für die Sozialwirtschaft und Elektroindustrie jobbte während ihres Wirtschafts-Studiums in der GPA – und blieb. Seit mittlerweile 20 Jahren verhandelt sie Kollektivverträge. „Wir schauen uns die Problemlagen an, die es in den einzelnen Betrieben gibt, und wie sich die Branche entwickelt“, erklärt die gebürtige Industrieviertlerin.

Dazu gehören auch etwaige Gesetzesänderungen. „Aber natürlich geht es nicht nur um die harten wirtschaftlichen Zahlen der eigenen Branche, sondern auch um das komplette nationale und internationale Umfeld.“ Je mehr Gewerkschaftsmitglieder vertreten werden und je stärker das Betriebsratsnetz, desto wahrscheinlicher sei es, Forderungen durchzusetzen. „Es hilft, wenn die Arbeitgeber:innen die Sozialpartnerschaft als positives Instrument sehen“, sagt Scherz.

Aber natürlich geht es nicht nur
um die harten wirtschaftlichen Zahlen der eigenen Branche,
sondern auch um das komplette nationale und internationale Umfeld.

Eva Scherz, GPA-Verhandlungsführerin

Viele Verhandlungspartner:innen kommen vonseiten der Wirtschaftskammer Österreich (WKO), in anderen KVs verhandeln auch Vertreter:innen freiwilliger Verbände, etwa des Banken-, Energie- oder Versicherungsverbands, des Verbands der Sozialwirtschaft oder auch von der Berufsvereinigung von ArbeitgeberInnen, die Bildungseinrichtungen führen (BABE). Außerdem gibt es KV-Verhandlungen mit den Kammern für Arzt:innen, Rechtsanwalt:innen oder Notar:innen.

Keine Tricks, nur Respekt

Von Tricks und Ellenbogen-Technik sind die Verhandler:innen weit entfernt – auch wenn mancher Bericht in den Nachrichten anderes vermuten lässt. KV-Verhandlungspartner:innen wechseln nicht oft, meist sind jahrelange Arbeitsbeziehungen entstanden. „Insofern ist es auch am erfolgreichsten, wenn wir ehrlich miteinander umgehen – denn der Respekt für das Gegenüber ist ungemein wichtig“, verdeutlicht Scherz den erwünschten Stil der Verhandlungen. Schließlich vertritt jede Seite die Interessen der jeweiligen Mitglieder, für beide zählt ein tragbares Ergebnis. KV-Verhandlungen sind die oft schwierige Suche nach gemeinsamen Lösungen.

Freilich, ein paar Druckmittel müssen schon mit im Gepäck sein: 2024 gelang es den Gewerkschaften GPA und vida, durch Betriebsversammlungen, Aktionen und Demonstrationen Stärke zu beweisen und damit eine Gehaltserhöhung von 4 Prozent im Sozialwirtschafts-Kollektivvertrag (SWO-KV) durchzusetzen. Doch wie schon zuvor erwähnt, zählt nicht allein das Entgelt. Für die Elektroindustrie konnte 2025 die sogenannte Freizeitoption für weitere fünf Jahre abgesichert werden – sie ermöglicht es, die jährliche Ist-Lohnerhöhung (oder Teile davon) in bezahlte Freizeit umzuwandeln. „Diese Regelung ist bei den Beschäftigten sehr beliebt“, weiß Scherz.

@wolfgangk.bsky.social​: „Was die Gewerkschaften jedes Jahr machen, ist, Lohnverhandlungen zu führen und gute Lohnabschlüsse zu machen, damit die Kaufkraft der Menschen nicht verloren geht.” #JournalzuGast

— ÖGB (@oegb.bsky.social) 6. September 2025 um 13:40

Ein Kollektivvertrag sollte die soziale Realität widerspiegeln. Der SWO-KV deckt eine Vielzahl von Berufen im sozialen und Gesundheitsbereich ab. Dazu gehören u. a. Pflegeberufe, Behindertenbetreuung oder psychosoziale Arbeit – Jobs, die einen sehr intensiven Austausch mit den Klient:innen voraussetzen. Was mit Idealismus beginnt, endet allzu oft in Resignation und einem Burnout. Um die Menschen in der Branche zu halten, ist nicht bloß gerechte Entlohnung nötig – auch die Arbeitsbedingungen müssen verbessert werden. Die Arbeitszeitverkürzung auf 37 Stunden in der Woche (2022) war ein Schritt in die richtige Richtung, doch es braucht deutlich mehr. Die laufenden Entwicklungen – von Personalengpassen bis zu den Zwängen der Budgetpolitik – werden die anstehenden Verhandlungen nicht gerade erleichtern. Eva Scherz hatte da aber ein paar innovative Ideen. Gestartet wird am 1. Oktober.

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Über den/die Autor:in

Christian Resei

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