Interview: Wir brauchen europäische Mindeststandards

Foto (C) Michael Mazohl
Evelyn Regner. Sie sitzt seit Juli 2009 als sozialdemokratische Abgeordnete im Europäischen Parlament, seit 2015 ist sie Leiterin der fünfköpfigen SPÖ-Delegation. Als Gewerkschafterin engagiert sich die gebürtige Wienerin besonders für den Schutz und Ausbau der Beschäftigtenrechte – auch außerhalb Europas – sowie für eine gerechtere Verteilung des Wohlstands. In der aktuellen Wahlperiode (2014–2019) fungiert die Juristin unter anderem als sozialdemokratische Fraktionssprecherin für Rechtsangelegenheiten.

Inhalt

  1. Seite 1 - Österreich im EU-Vergleich
  2. Seite 2 - Was ist mit der „Sozialen Säule der EU“?
  3. Seite 3 - Finanzierung des Sozialstaates
  4. Auf einer Seite lesen >
Die EU-Parlamentarierin Evelyn Regner im Gespräch über mögliche Wege zu einem sozialeren Europa und inwieweit Österreich hier tatsächlich Vorbild sein kann.

Arbeit&Wirtschaft: Wenn Sie als mittlerweile langjährige Abgeordnete im Europäischen Parlament das österreichische Sozialsystem mit anderen Ländern vergleichen, was fällt Ihnen dazu spontan ein?

Evelyn Regner: Dass es bei den Sozialsystemen sehr große Unterschiede gibt. Vor allem aber auch, dass es innerhalb der EU reichere und ärmere Länder gibt und diese Ungleichheit ein Problem darstellt. Die Unterschiede zwischen den Staaten waren weniger eklatant, als die neuen Mitgliedstaaten aus Mittel- und Osteuropa noch nicht dabei waren. Der Unterschied zwischen ärmeren und reicheren EU-Staaten ist durch die Wirtschafts- und Finanzkrise nicht kleiner geworden, sondern größer. Das ist ein Riesenproblem. Heute versuchen wir, uns einem Europa der Mindeststandards anzunähern.

Wo sehen Sie hier Österreich?

In vielen Bereichen ist hier das Niveau hoch. Besonders stolz bin ich auf die erste Säule des Pensionssystems. Unser Umlageverfahren ist ein robustes und gerechtes System, ein gutes Modell für die Zukunft. Jetzt, nachdem in so gut wie allen Ländern die zweite und die dritte Säule demoliert wurden, erkennt das langsam auch die EU, die das österreichische Pensionssystem ja immer wieder kritisiert hat. Es ist sinnvoll, bei der Altersversorgung nicht nur auf demografische Veränderungen zu schauen. Entscheidend ist, wie viele Menschen in Beschäftigung sind und wie viele nicht. Diese Erkenntnis sollten wir exportieren. Auch die Sozialpartnerschaft ist sicher ein ganz großes Atout, das zu Stabilität, gerechten Löhnen und zur Weiterentwicklung des Sozialstaats beiträgt.

Österreich ist also eine Art Vorbild?

Österreich hat in vielen Bereichen ganz tolle Dinge vorzuweisen, beispielsweise bei der Jugendbeschäftigung und der Lehrlingsausbildung, wir machen da vieles gut und richtig. Doch ich bin immer vorsichtig mit dem Begriff Vorbild: Man kann das System eines Landes einem anderen nicht eins zu eins überstülpen. Zum Beispiel wird oft die Flexicurity in Dänemark gelobt, weil dort Jobwechsel leichter möglich sind. Doch das ist nur deshalb so, weil die Arbeitnehmer prinzipiell sehr gut abgesichert sind. Ich finde es ist gut, voneinander zu lernen, aber selten sinnvoll, einzelne Maßnahmen einfach zu kopieren. Im Übrigen hat Österreich etwa bei Gleichstellungsthemen durchaus noch Aufholbedarf. In diesem Bereich kommen aus der Europäischen Union sehr positive Akzente, von denen Arbeitnehmerinnen sehr profitieren.

Gibt es abschreckende Beispiele aus anderen Ländern, im Sinne von Deregulierungen, Kürzungen von Sozialleistungen und Ähnlichem?

Ich möchte das gern allgemeiner formulieren: Es ist nicht gut, wenn ein Land sagt, wir machen es eben auf unsere Art, egal was das für die anderen Mitgliedstaaten bedeutet. Umgekehrt ist es auch sehr schlecht, wenn man für ein Land eine Politik beschließt, ohne dass man auf die Bedürfnisse vor Ort Rücksicht nimmt, so wie das bei der desaströsen Sparpolitik in Griechenland der Fall war. Wichtig ist, voneinander zu lernen und die Vorteile zu teilen, sodass es nicht zu Lohn-, Steuer- oder Sozialdumping kommt. Denn noch handeln große Unternehmen so, dass sie schauen, wo das Steuersystem am günstigsten ist und wo die Arbeitskräfte am billigsten sind, um dann entsprechend vorzugehen. So haben wir keinen Wettbewerb der Unternehmen, sondern einen Wettbewerb der Systeme. Darum brauchen wir europäische Mindeststandards im Arbeitsrecht und beim Sozialschutz, das bringt allen etwas.

Letztendlich wird Europa nur mit fairem Wettbewerb und sozialer Marktwirtschaft funktionieren. Selbstverständlich muss es dann auch entsprechende Kontrollmaßnahmen geben. Derzeit beschäftigen uns etwa die Briefkastenfirmen besonders, nicht nur was die Steuern betrifft, sondern auch was Lohn- und Sozialdumping anbelangt. Das gilt es zu bekämpfen, und zwar überall.

Welche konkreten Schritte gibt es in Richtung europäische Mindeststandards?

Die Entsenderichtlinie als europaweites Instrument gegen Lohn- und Sozialdumping ist jetzt in Verhandlung beim Rat und im Parlament. Unter anderem soll die Entsendedauer beschränkt werden. Für uns ist wichtig, dass die Entsendung von ArbeitnehmerInnen möglichst eng begrenzt wird, ansonsten machen wir Tür und Tor für Tricksereien wie Scheinbeschäftigungen auf. Jegliche Lücke im System wird von den Unternehmen systematisch ausgenutzt. Außerdem brauchen wir auf europäischer Ebene eine Stelle, die prüfen kann, ob ein bestimmter entsendeter Arbeitnehmer im Land auch tatsächlich versichert ist und nicht nur das Formular ausgefüllt wurde.

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  1. Seite 1 - Österreich im EU-Vergleich
  2. Seite 2 - Was ist mit der „Sozialen Säule der EU“?
  3. Seite 3 - Finanzierung des Sozialstaates
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