Interview: Wir brauchen europäische Mindeststandards

Inhalt

  1. Seite 1 - Österreich im EU-Vergleich
  2. Seite 2 - Was ist mit der „Sozialen Säule der EU“?
  3. Seite 3 - Finanzierung des Sozialstaates
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Die EU-Parlamentarierin Evelyn Regner im Gespräch über mögliche Wege zu einem sozialeren Europa und inwieweit Österreich hier tatsächlich Vorbild sein kann.

Im Frühjahr wurde im EU-Parlament der Fahrplan für ein sozialeres Europa für die sogenannte „Soziale Säule der EU“ beschlossen. Wie ist hier der aktuelle Stand?

Wie gesagt, die gewaltigen sozialen Unterschiede zwischen manchen Mitgliedstaaten tun Europa nicht gut. Ziel des Fahrplans für ein sozialeres Europa ist, diese Unterschiede kleiner zu machen. Die drei großen Themen sind: erstens menschenunwürdige Arbeitsbedingungen und Steuerflucht bekämpfen; zweitens die Kindergarantie – das bedeutet, zu vermeiden, dass Kinder in Armut aufwachsen. Es ist traurig, dass man das im 21. Jahrhundert noch sagen muss, aber es ist nötig – nicht zuletzt weil sonst immer mehr Eltern in die Länder drängen, wo die Bedingungen für ihre Kinder besser sind. Und drittens soll die Sozialpolitik im europäischen Semester verankert werden. Das klingt jetzt sehr technisch, aber es geht darum zu vergleichen, welches Land welche Fortschritte in sozialer Hinsicht macht. Derzeit dreht sich fast alles nur um die Maastricht-Kriterien, um Sparmaßnahmen und so weiter. Doch sozialpolitische Maßnahmen sind mindestens genauso wichtig wie wettbewerbsfähige Unternehmen oder Stresstests für Banken. Wir brauchen hier ein paar soziale Eckpfeiler, denn sonst gerät Europa aus dem Ruder. Das ganze Projekt Europa wäre bald nicht mehr glaubwürdig.

Foto (C) Michael Mazohl
Fahrplan zu einem sozialeren Europa: „Länder mit hohen Sozialstandards können Lokomotiven für ein gerechteres Europa sein. Die EU ist derzeit sehr viel mit sich selbst beschäftigt, bedingt durch den Brexit und das Bemühen, angesichts der aktuellen weltpolitischen Situation ihre eigene Position nach außen zu festigen. Doch ich denke, wenn Frankreich und Deutschland als Lokomotiven besser ziehen, dann müsste auch etwas weitergehen.“

Als nächsten Schritt in Richtung sozialeres Europa hat die Kommission eine entsprechende Mitteilung mit 20 Prinzipien veröffentlicht, die allerdings von ArbeitnehmerInnenseite zum Teil als enttäuschend und zu allgemein bezeichnet wurde.

Ja, die Kommission hat das schön formuliert, aber noch handelt es sich dabei um unverbindliche Grundsätze. Bei den schönen Worten allein darf es aber nicht bleiben. Ich fordere von der Kommission, aus diesen Eckpfeilern ein soziales Fundament zu schaffen – mit entsprechenden legislativen Maßnahmen. Entscheidend sind natürlich immer die konkreten verbindlichen Maßnahmen, und da gibt es noch viel zu wenige. Ansonsten herrscht in der Realität dann weiter Ungleichheit und die Visegrád-Länder, also Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn, wollen ihre niedrigen sozialen Standards als eine Art Bonus nützen, mit dem sie Unternehmen anlocken. Doch damit können wir Europa nicht modern, attraktiv und fit für die Zukunft machen. Immerhin gibt es jetzt konkrete Gesetzesvorschläge zum Thema Work-Life-Balance. Wie auch immer, wir müssen die Kommission in die Pflicht nehmen – aber genauso die Mitgliedstaaten. Denn die fordern auch oft viel und machen dann wenig.

Welche konkreten Vorschläge in puncto Work-Life-Balance gibt es?

Die Kommission hat unter anderem den Rechtsanspruch auf bezahlten Vaterschaftsurlaub für mindestens zehn Tage sowie das Recht auf flexible Arbeitszeitregelungen für Eltern und pflegende Angehörige inklusive des Rechts auf Rückkehr zum ursprünglichen Arbeitsausmaß vorgeschlagen. Frauen müssen dann keine Angst mehr haben, zu lange in der Teilzeitfalle zu stecken. Und Männer werden entlastet, weil der Druck als „Alleinverdiener“ geringer wird. Überhaupt haben die EU-Richtlinien schon öfter vor allem für Frauen positive Veränderungen gebracht. Versteckte Diskriminierungen wurden in den vergangenen Jahren eigentlich immer in Folge von Anpassungen an EU-Richtlinien oder Initiativen beseitigt. Ein Beispiel ist die verbindliche Frauenquote in Aufsichtsräten. Der entsprechende Beschluss des Europäischen Parlaments hängt zwar noch im Rat, aber das ganze Projekt hat die nationalen Gesetzgebungen schon jetzt so beeinflusst, dass bereits in mehreren Ländern Quoten zumindest ernsthaft diskutiert wurden. In Österreich ist ja ab 2018 eine 30-prozentige Frauenquote verpflichtend.

Ihrer Ansicht nach werden die positiven Auswirkungen der EU also unterschätzt?

Ich habe mir das vor Kurzem angeschaut. Viele Regierungsbeschlüsse waren eigentlich keine erfolgreichen Koalitionsvereinbarungen, sondern die Umsetzung von EU-Richtlinien, etwa dass bei der Vergabe von öffentlichen Aufträgen nicht mehr nur der billigste Anbieter zum Zug kommt, sondern der beste.

Wie wird es in naher Zukunft weitergehen mit dem Fahrplan für ein sozialeres Europa?

Vor den deutschen Wahlen wird sicher nicht viel passieren. Konkretes, das wirklich an die Substanz geht und geeignet ist, die großen Unterschiede innerhalb Europas zu verkleinern, wird sicher erst danach kommen. Daher gibt es wie gesagt bis jetzt hauptsächlich Überschriften und allgemeine Statements statt konkreter Maßnahmen. Zusätzlich ist die EU derzeit sehr viel mit sich selbst beschäftigt, bedingt durch den Brexit und das Bemühen, angesichts der aktuellen weltpolitischen Situation ihre eigene Position nach außen zu festigen. Doch ich denke, wenn Frankreich und Deutschland als Lokomotiven besser ziehen, dann müsste auch etwas weitergehen. Zeichen dafür gibt es, aber dafür muss die Kommission auch irgendwann mehr Konkretes vorlegen.

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