Zweiter Bildungsweg: Lebenslang lernen, lebenslang schuften?

Kinder-Yoga, Rückentraining oder Seifenkistenrennen: Gabriele Stocks Bildungs- und Berufsweg ist ein abwechslungsreicher, aber er kreist stets ums Thema Kinder.
(C) Markus Zahradnik
Drei Betroffene berichten über ihren zweiten Bildungsweg. So vielfältig die Interessen, so vielfältig die Herausforderungen, denn Bildungs- und Aufstiegschancen sind in Österreich nach wie vor ungleich verteilt.
Wenn ihre Freund:innen wochenends Party machten, ihre Kolleg:innen feierabends noch ein Bier trinken gingen – dann saß Jennifer Dorn* meist am Schreibtisch. Statt Hobbys nachzugehen, lernte sie für Prüfungen, erledigte Hausübungen. Nach Gymnasium, Ausbildung und dreijähriger Berufstätigkeit absolvierte die heute 30-Jährige ein Lehramtsstudium in den Fächern Deutsch, Geschichte und Politische Bildung. Erfolgreich, aber mit diversen Entbehrungen.

Sich weiterbilden, fortbilden, lebenslanges Lernen – das wirkt sich unbestreitbar positiv auf die eigene Erwerbsbiografie aus. Studien zeigen, dass es kaum einen besseren Schutz gegen (Langzeit-)Arbeitslosigkeit und für beruflichen Aufstieg gibt als die regelmäßige Erweiterung professioneller Fähigkeiten.

Doch diesen Luxus muss man sich leisten können. Ausbildungskosten und Lohnausfall werden oft auf den Einzelnen abgewälzt. Was dazu führt, dass jene, die ohnehin gut dastehen, es leichter haben, noch besser dazustehen – und umgekehrt. Anders formuliert: Lebenslanges Lernen kann Chance sein, um bestehende Ungleichheiten zu verringern – und Gefahr, diese nur noch weiter zu vertiefen.

Viele Möglichkeiten, viele Voraussetzungen

Manuel Denk* ist gewissermaßen Experte für unterschiedlichste Erwerbsbiografien und kennt beide Seiten des Arbeitsmarkts: Gut elf Jahre arbeitete er als Erstberater beim Arbeitsmarktservice (AMS), „eine lange Zeit“, wie er heute sagt. Ein Beruf, in dem man viele, mitunter belastende Schicksale kennenlernt – und nicht selten mit nach Hause nimmt. Im Zuge der Corona-Pandemie wurde der Wunsch nach einem Berufswechsel immer lauter, letztlich unüberhörbar. Im Frühjahr 2021 entschied sich Denk, den Job an den Nagel zu hängen. Auf den Schlussstrich folgte die Frage: „Wieso nicht mal was machen, was mich wirklich interessiert?“ Derzeit absolviert der 37-Jährige in der CODERS.BAY des Berufsförderungsinstituts (BFI) eine Ausbildung zum Frontend-Developer.

In einem Seminarraum im dritten Stock eines unscheinbaren Gebäudes in der Nähe der S-Bahn-Station Wien-Rennweg breitet Gabriele Stock eine Yoga-Matte am Boden aus. Hier, in der „Vitalakademie“, absolvierte sie ab Oktober 2019 ihre einjährige Ausbildung zur diplomierten Gesundheitspädagogin, Schwerpunkt Kinderpädagogik. Ihr ehemaliger Dozent erlaubt, noch einmal einen Blick in die Räume zu werfen. Ein Ort, an dem sie sich sichtlich wohlfühlt. Nach der Polytechnischen Schule hatte die heute 50-Jährige einst Schneiderin gelernt. Widerwillig, ihren Eltern zuliebe. Ausgeübt hat sie den Beruf nie. „Ich war als Kind faul, erst mit 18 oder 19 habe ich bemerkt, ich will was machen aus meinem Leben!“ Schließlich absolvierte sie die Ausbildung zur OP- und Pflegeassistenz und studierte anschließend Medizintechnik.

Wie Berufe und Weiterbildungen selbst können Motivation und Interesse hinter dem zweiten Bildungsweg vielfältig sein. Unzufriedenheit mit dem bisherigen Job, Karrierechancen, Sicherheit und Prävention oder schlichtweg die Lust am Neuen, am Ausprobieren. Staatliche und (teil)staatliche Institutionen stellen hierfür diverse Förderungsprogramme zur Verfügung. Beispielsweise das Fachkräftestipendium, die Bildungskarenz, Bildungsteilzeit oder Studienfinanzierungen. Doch diese Programme sind oftmals an strenge Voraussetzungen geknüpft. Wer diese nicht erfüllt, muss sich eine Weiterbildung selbst finanzieren.
Das ist vor allem dann problematisch, wenn der Aspekt der Freiwilligkeit verloren geht. Der Wandel der Arbeitswelt, Automatisierung und Digitalisierung machen Weiterbildungen und Lernen vielfach zum Muss. Vor allem Beschäftigte mit niedriger und mittlerer formeller Bildung und Qualifikation laufen Gefahr, den Anschluss zu verlieren. Das Schlagwort „lebenslanges Lernen“ kann Bereicherung oder „Hamsterrad“ bedeuten, Zuckerbrot oder Peitsche.

Wenn man Gabriele Stock zuhört, hat man nicht das Gefühl, „Berufliches“ stehe bei ihrem Bildungsweg an vorderster Stelle. Zum besseren Verständnis nummeriert Stock ihre beruflichen Stationen stets durch. Die „Vitalakademie“ war Station Nummer vier. Und soll auch nicht die letzte sein. Mit Ende Jänner beginnt sie ein Pflegepädagogikstudium an der FH in Wien. Zwei Dinge sind es, die Stock beständig, meist in Verbindung mit einem breiten Grinsen, wiederholt: „Ich bleib sicherlich nicht stehen“ und „Kinder“. Das sind die beiden Fixpunkte, um die ihr Bildungsweg zirkuliert. Denn die Arbeit mit Kindern ist es, die ihr am meisten Freude bereitet. Egal, ob in Form von Kinder-Yoga, Rückentraining, Entspannungsübungen oder die Vorbereitung für Seifenkistenrennen in ganz Österreich.

Es scheint Teil von Stocks Lebensphilosophie zu sein, dass sie sich gar nicht erst nach Förderungen umsieht – die Ausbildung an der Vitalakademie finanzierte sie sich mit ihrem Ersparten und einem Nebenjob. Das war „knallhart“, aber gehört für sie irgendwie dazu. Von nichts kommt nichts, findet sie. Doch das ist nicht für alle immer möglich.

Viele bleiben auf der Strecke

Für Jennifer Dorn war der Grund für eine Neuorientierung die Unsicherheit, die ihr Job als Coach in der Erwachsenenbildung mit sich brachte. Projektbasiertes Arbeiten, freie Dienstverträge, Honorarnoten – oder anders: nichts Fixes, ein Hangeln von einem Auftrag zum nächsten, danach periodische Ungewissheit. Hinzu kam die Lust, auch persönliche Interessen noch weiter zu verfolgen. Nach drei Jahren hängte sie das Coaching an den Nagel und begann ihr Lehramtsstudium. Nebenher arbeitete sie bis zu 25 Wochenstunden als Nachhilfelehrerin an einer Wiener Volkshochschule. Für ein Selbsterhalterstipendium reichten die Durchrechnungszeiten nicht. „Es ist prinzipiell machbar, wenn man’s will“, sagt Dorn. Nur das Wollen hatte seinen Preis, „und ich gehörte nicht zu den Glücklichen, die ein Stipendium bekommen haben“.

Die, die’s ohnehin schwerer haben, bleiben auf der Strecke.

Jennifer Dorn, Mittelschullehrerin

Viele in Dorns Bekanntenkreis wollten es auch: noch einmal umorientieren, weiterbilden, etwas (ganz) anderes machen. Aber einige fingen gar nicht erst an, andere gaben nach einem halben Jahr wieder auf. Vielfach entsprechen die Angebote nicht den Lebensrealitäten von Berufstätigen, kritisiert Dorn. Aus ihrer Sicht brauche es einerseits mehr finanzielle Unterstützung, andererseits bleibe digitales Potenzial ungenutzt. Zugangshürden könnten abgebaut werden, wenn beispielsweise Theoriearbeit digital erledigt und Praxiseinheiten dann geblockt vor Ort absolviert werden könnten.

Aber derzeit finde eine Art „Selektion“ statt: „Die Bessergestellten können sich’s leisten, die anderen haben keine Möglichkeit aufzusteigen. Die, die’s ohnehin schwerer haben, bleiben auf der Strecke.“
In Zahlen gegossen bedeutet das laut einer OECD-Studie: In Österreich braucht es im Schnitt fünf (hypothetische) Generationen, bis ein Kind aus der untersten Einkommensschicht das nationale Durchschnittseinkommen erreicht. In den skandinavischen Ländern dauert derselbe Aufstieg in etwa zwei bis drei Generationen. In Österreich sind Bildungsweg und sozialer Status nach wie vor eng an Einkommen, Vermögen und Bildungsabschluss der Eltern geknüpft. Laut einer Studie des Arbeitsministeriums ist die soziale Mobilität in Österreich (Stand 2019) im europäischen Vergleich besonders gering, nur Portugal schneidet schlechter ab.

„Die Wahrscheinlichkeit, Führungskraft zu werden“, schreibt Franziska Disslbacher, Referentin für Verteilungsfragen in der Arbeiterkammer Wien, „ist für Kinder von Führungskräften 3,3-mal höher als für Kinder aus Arbeiter:innenfamilien.“ Sie fügt hinzu: „Umgekehrt ist die Wahrscheinlichkeit, im Erwachsenenalter Arbeiter:in zu sein, für Kinder von Führungskräften nur ein Drittel so hoch wie für Kinder aus Arbeiter:innenfamilien.“

Abhilfe könnte ein sogenanntes „Qualifizierungsgeld“ schaffen, wie es die Arbeiterkammer fordert. Anstatt an strenge Kriterien geknüpft zu sein, soll es in Höhe von 1.220 Euro netto pro Monat allen Personen über 25 Jahren zustehen. Das würde institutionelle Hürden abbauen und könnte den Kreis der Bezieher:innen erweitern.

Vom AMS zum AMS zum AMS

Vor unserem Gespräch in den Räumlichkeiten der CODERS.BAY im Wiener Gasometer hat auch Manuel Denk schon einige berufliche Stationen hinter sich. Eine Lehre zum Buchhändler hat er abgebrochen, „weil ich damals 17 war“, und meint damit eine Art pubertäre Unvernunft. Auf den Zivildienst beim Samariterbund folgten diverse Gelegenheitsjobs, eine längerfristige berufliche Perspektive in der Gastronomie machte schließlich die Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/09 zunichte. Danach ging’s für Denk zum AMS, zunächst als Arbeitsloser, später als Telefonberater. Nach elf Jahren wieder als Arbeitsloser.

Sein Vorteil: Sein Wunsch nach Weiterqualifizierung wird vom AMS durchaus unterstützt. Die Kosten für die Ausbildung übernimmt das AMS, seine Fixkosten zahlt er vom Arbeitslosengeld und privaten Ersparnissen. Monatlich bekommt er noch rund 150 Euro Bildungsbonus. „Geht sich aus“, sagt Denk sichtlich zufrieden.

Nach einer Bewerbung und einem fünfwöchigen „Qualifying“ startete Denk Anfang November in der CODERS.BAY die fünfmonatige Ausbildung zum Frontend-Developer. Als solcher ist er zuständig für Design, Oberfläche („Frontend“) und Benutzerfreundlichkeit einer Website. Ein gefragter Beruf, dementsprechend gut schätzt er seine beruflichen Perspektiven ein. „Anfangs war’s etwas abstrakt, das hat etwas gedauert“, aber mittlerweile fühlt er sich hier pudelwohl. Für Februar hat er bereits ein Praktikum in einer IT-Firma arrangiert, er will in der Branche bleiben. „Ich vermisse meinen alten Job keine Sekunde.“
Für Stock hingegen scheint nach wie vor alles offen. „Irgendwas mit Kindern“ soll’s sein, das ist fix. Ihr FH-Studium will die 50-Jährige in den nächsten zwei bis drei Jahren abschließen – und sich bis spätestens 2024 selbstständig machen. „Ich bleib sicherlich nicht stehen.“ Sie lächelt.

Jennifer Dorn hat ihr Lehramtsstudium bereits vor fünf Jahren abgeschlossen, sie unterrichtet derzeit an einer Mittelschule in Wien. Rückblickend, sagt sie, war das eine toughe Zeit, aber den Aufwand definitiv wert. „Ich würd’s wieder machen.“ Nebenberuflich studiert sie derzeit Informatik.

Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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