Wirtschaftsmotor Sozialstaat

Illustration © Miriam Mone
In Zeiten wie diesen sehen wir die Bedeutung des Sozialstaats. Der ist aber nicht nur Auffangnetz für die, die es gerade brauchen, sondern viel mehr: Der Sozialstaat schafft Nachfrage und Jobs – und ist damit einer der größten Arbeitgeber des Landes, schreibt der Chefökonom der Arbeiterkammer, Markus Marterbauer.
Die vorrangige Aufgabe des Sozialstaats ist es, jenen zu helfen, die auf die Solidarität der Gemeinschaft angewiesen sind: also den Jungen, Kranken und Arbeitslosen, Alten und Pflegebedürftigen. Zielgerichtet unterstützt sie der Sozialstaat mit Kinderbeihilfe und Arbeitslosengeld, Pensionen und Pflegegeld, mit Kindergärten und Schulen, ärztlichen Leistungen und Pflegediensten.

Zur Person

Porträt Markus Marterbauer

Markus Marterbauer leitet die Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik der Arbeiterkammer Wien, ist Vizepräsident des Fiskalrates und Universitätslektor. Seine Forschungsgebiete umfassen die gesamtwirtschaftliche Entwicklung, Budgetentwicklung und Fiskalpolitik, Einkommensverteilung und Umverteilung sowie postkeynesianische Makroökonomie.

Finanziert werden diese Leistungen von den Gesunden und Erwerbstätigen. Sie sind solidarisch mit den gerade Bedürftigen und mit sich selbst. Denn in unterschiedlichen Phasen des Lebens ist jeder und jede einmal jung, krank oder alt. Diese wechselseitige Verpflichtung zur Solidarität spart enorme Kosten, auch im Vergleich mit privaten Versicherungen. Während die Verwaltungskosten in der gesetzlichen Krankenversicherung zwei bis drei Prozent betragen, können sie bei privaten Versicherungen gleich einmal zwanzig Prozent und mehr ausmachen, Geld, das für Leistungen zugunsten der Versicherten fehlt. Ein weiterer elementarer Unterschied wurde in der Pandemie offenkundig. Der Sozialstaat funktioniert auch dann, wenn er von sehr vielen gleichzeitig in Anspruch genommen wird, was eine private Versicherung rasch überfordern würde.

Großer Arbeitgeber

Mit den sozialen Geld- und Sachleistungen werden gewaltige Mittel bewegt. 117 Milliarden Euro betrugen 2019 die Staatsausgaben für Soziales und Gesundheit, das waren 29 Prozent der gesamten Wirtschaftsleistung. Dazu kamen 20 Milliarden Euro für Bildung (fünf Prozent des BIP). Somit beeinflusst der Sozialstaat die wirtschaftliche Entwicklung maßgeblich. Allein in Gesundheit und Pflege waren 2020 276.000 Menschen beschäftigt, im Bildungsbereich 110.000, viele Beschäftigte in Gesundheit und Bildung werden zudem in der öffentlichen Verwaltung gezählt, die 583.000 Erwerbstätige umfasst. Der Sozialstaat ist einer der größten Arbeitgeber des Landes.

Er ist auch der wichtigste Garant stabiler wirtschaftlicher Entwicklung. Das ist Folge seiner umverteilenden Wirkung: Viele Familien, Arbeitslose, Kranke, Alte und Pflegebedürftige, also die Nettoempfänger*innen des Sozialstaats, gehören zum unteren Einkommensdrittel. Von 100 Euro zusätzlichem Einkommen geben sie sofort 80 Euro wieder aus, nach wenigen Jahren sogar mehr als 100 Euro. Die Nettozahler*innen stammen hingegen aus dem oberen Drittel. Von 100 Euro an Beiträgen und Steuern für den Sozialstaat kommen bei ihnen nur 40 Euro aus niedrigerem Konsum, 60 Euro gehen zulasten des Sparens. Der Sozialstaat verteilt zu konsumfreudigen Schichten um, er schafft damit Nachfrage, Produktion und Beschäftigung.

Diese automatische stabilisierende Wirkung mildert die wirtschaftliche Rezession ebenso wie die Überhitzung. Am Beispiel der Arbeitslosenversicherung: In der Rezession zahlt diese viele Mittel an Arbeitslose aus, während ihre Einnahmen aufgrund sinkender Beschäftigung schrumpfen – sie macht ein Defizit. Dieses Defizit bedeutet in gleichem Ausmaß zusätzliches Einkommen für die Haushalte und damit höhere Konsumnachfrage. In der Hochkonjunktur hingegen sprudeln die Einnahmen der Arbeitslosenversicherung, während die Auszahlungen an Arbeitslose sinken, sie macht einen Überschuss. Die Haushalte zahlen mehr ein, als sie herausbekommen, ihre Einkommen werden gedämpft, Überhitzung und Inflation verhindert. Den Sozialstaat kann man sich als große Arbeitslosenversicherung vorstellen. Er ist der wichtigste Stabilisator der Wirtschaft.

Den Sozialstaat kann man sich als große Arbeitslosen-
versicherung vorstellen.

Das ist gerade in der COVID-Krise wichtig: Noch nie gab es einen derart sprunghaften Anstieg der Zahl der Arbeitslosen, sofort stellte die Arbeitslosenversicherung wenigstens ein Mindestmaß an sozialer Absicherung bereit. Die Bedeutung für Betroffene und Gesellschaft zeigt sich im Vergleich mit den Selbstständigen, die keine Versicherung gegen Erwerbslosigkeit und keinen Einkommensersatz haben. In der COVID-Krise musste für sie erst ein Härtefallfonds gegründet werden, eine langwierige, bürokratische und ungenügende Angelegenheit. Sinnvoll wäre eine Versicherung gegen Erwerbslosigkeit, mit verpflichtendem solidarischem Finanzierungsbeitrag aller Selbstständigen.

Eine Pflichtversicherung macht für die Gesamtwirtschaft genauso Sinn wie für die Einzelnen. Sie haben existenzielles Interesse daran, bei Arbeitslosigkeit Arbeitslosengeld zu bekommen, bei Krankheit Gesundheitsleistungen oder im Alter Pension und Pflege. Dies ist ein enormer Anreiz, erwerbstätig zu sein. Der Sozialstaat fördert Erwerbstätigkeit. Das ist auch für Unternehmen wichtig, denen damit ausreichend Arbeitskräfte zur Verfügung stehen.

Der Sozialstaat schafft Nachfrage und Jobs, er stabilisiert die wirtschaftliche Entwicklung und ist Voraussetzung für Innovation und wirtschaftlichen Fortschritt. Schon im 15. und 16. Jahrhundert waren jene Matrosen eher bereit, auf hohe See und Weltentdeckung zu gehen, die ihre Angehörigen zu Hause versorgt wussten. Das soziale Netz gibt Sicherheit und ist Voraussetzung für Aufgeschlossenheit gegenüber Neuem und die Bereitschaft, Risiken einzugehen.

Sozialer und wirtschaftlicher Erfolg gehen Hand in Hand

Der Sozialstaat ist zusammen mit der Demokratie nicht nur die größte zivilisatorische Errungenschaft für die arbeitenden Menschen, er ist auch Basis für wirtschaftlichen Wohlstand. Es ist kein Zufall: Österreich hat einen der besten Sozialstaaten mit der dritthöchsten Sozialquote der EU (Sozial- und Gesundheitsausgaben in Relation zur Wirtschaftsleistung). Die Finanzierung erfolgt über die sechsthöchste Abgabenquote (Steuern und Beiträge in Relation zur Wirtschaftsleistung). Gleichzeitig hat Österreich die sechsthöchste Wirtschaftsleistung der EU pro Kopf. Sozialer und wirtschaftlicher Erfolg bedingen einander gegenseitig.

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