Wie werden wir wohnen?

Illustration (C) Miriam Mone
Gentrifizierung, Leerstand, Wohnungsnot. Bis 2030 überschreitet Wien die 2-Millionen-Marke, und die Erde erwärmt sich um 1,5 Grad Celsius. Am Wohnungsmarkt kommen nun die Folgen von Finanzkrise, Corona-Krise und Klimakrise zusammen. Helfen uns die Errungenschaften der Vergangenheit?
Von Februar bis Juni haben in Berlin 340.000 Menschen dafür unterschrieben, alle Konzerne mit mehr als 3.000 Wohneinheiten zu enteignen. „Das hat selbst uns positiv überrascht, aber zeigt, wie wichtig Wohnen und Mieten für die Menschen ist“, meint Jonas Becker, Sprecher des Bündnisses „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“. Deutsche Wohnen ist ein Wohnungskonzern, der über die Jahre hinweg einen Bestand von 150.000 Wohnungen aufgebaut hat. Viele dieser Wohnungen waren zuvor gemeinnützig. „In den letzten zehn bis zwölf Jahren haben sich die Mieten verdoppelt, während die Löhne nur leicht gestiegen sind. Folglich wurde die Schere zwischen Mieten und Löhnen immer größer. Es trifft damit nicht nur klassische Arbeiter*innenhaushalte, sondern auch die Mittelschichten“, so Becker. Immer wieder komme es zu dubiosen Nebenkostenabrechnungen, Heizungsausfällen oder unterbleibenden Reparaturen. Er sei selbst auf Wohnungssuche, bisher habe er noch nichts gefunden.

So schlimm ist es in Wien zum Glück noch nicht. Doch auch in der österreichischen Hauptstadt häufen sich alarmierende Berichte zum Wohnungsmarkt: „Private Mieten in Wien für viele nicht mehr leistbar“ („Der Standard“ im April 2021), „Immobilienpreise in Wien im Höhenflug“ („Kurier“ im September 2019); und selbst in Vorarlberg müssen Gemeinden mit Verdrängung durch Investoren kämpfen, wie der ORF kürzlich berichtete. Die Nationalbank hat zudem im Juni vor einer Immobilienblase gewarnt, während die Statistik Austria damit rechnet, dass 2027 die 2-Millionen-Marke in Wien geknackt wird.

Bernhard Reikersdorfer, Geschäftsführer des Makler*innennetzwerks RE/MAX Austria, erklärt: „Die Mieten in Wien sind in den letzten zehn Jahren um rund 20 Prozent gestiegen, in den letzten 20 Jahren sogar um über 40 Prozent, wobei der Anstieg innerhalb Wiens unterschiedlich war: Im ersten Bezirk haben die Mietpreise in den letzten 20 Jahren um 70 Prozent zugelegt.“ Aktuell sei aber dank großem Angebot sogar eine Entspannung bei Neuvermietungen zu spüren. „Langfristige seriöse Prognosen sind aber schwierig“, so Reikersdorfer.

Keine Stadt der Seligen

„Im internationalen Vergleich wird Wien gemeinhin als Ausnahmestadt angesehen, als Insel der Seligen, weil die Instrumente des sozialen Wohnbaus noch verfügbar sind und man hier kommunale Bestände nicht gleichermaßen verkauft hat wie in Hamburg oder Berlin“, kommentiert Michael Klein die Situation. Er forscht an der TU Wien unter anderem zu sozialem Wohnbau, ist Redakteur bei „dérive – Zeitschrift für Stadtforschung“ sowie Vorstandsmitglied der Österreichischen Gesellschaft für Architektur (ÖGFA). „Mit dem Anstieg der Immobilienpreise europaweit haben wir mittlerweile auch das Problem, dass selbst Menschen mittleren Einkommens aus den Zentren verdrängt werden oder keine Wohnungen finden, da sie sich zentrumsnahe Wohnungen nicht leisten können.“ Die Leistbarkeit ist zwar im internationalen Vergleich gut, was auch auf den hohen Anteil von Gemeindebauten und gemeinnützigen Wohnungen zurückzuführen ist. „Aber man hat sich auch hier vom wohlfahrtschaftlichen Modell verabschiedet, dass die Stadt selbst in großem Umfang baut“, kommentiert Klein.

Was gebaut wird, besorgt auch Thomas Ritt, Leiter der Abteilung Kommunalpolitik der Arbeiterkammer Wien. Befragt zum steigenden Wohnungsbedarf, meint Ritt: „Es wird nicht zu wenig gebaut, sondern das Falsche! Es fehlt an Wohnungen im leistbaren Segment, während teure Luxusbauten entstehen; die oft gar nicht erst bezogen werden, da sie nur als Anlage dienen.“ Steigender Leerstand sei laut Ritt eine wichtige Komponente des Problems: „In den letzten Jahren wurde deutlich mehr gebaut, als wir brauchen. Wenn der Wohnungsmarkt nun funktionieren würde, müsste der Preis sinken. Das sehen wir jedoch nicht und lässt auf beträchtlichen Leerstand schließen.“

Für Ritt steht fest: „Man muss den Markt aus dem Wohnen rauskriegen. Zudem dürfen keine Grundstücke, die im Besitz der Allgemeinheit sind, an Private verkauft werden. Gemeinnützige Bauträger können sich jetzt schon kaum Grundstücke leisten.“ Das Mietrechtsgesetz biete zudem viele Instrumente, die nicht ausgeschöpft werden, so Ritt. Die Arbeiterkammer fordere hier eine Begrenzung von Zuschlägen (wie dem Lagezuschlag), alle Bauten nach 30 Jahren dem Mietrechtsgesetz zu unterstellen und Dachgeschosse nur unter der Bedingung auszubauen, dass auch gemeinnützige Wohneinheiten entstehen. Zudem sollen befristete Mietverträge nicht mehr zulässig sein.

Die nächsten Krisen warten

Für Susanne Reppé von der Wiener Wohnungsforschung ist leistbares Wohnen „die Prämisse“. „Das fällt nicht vom Himmel und muss man immer neu absichern“, sagt sie, „es geht hier nicht nur um leistbare Mieten, sondern um die ganze Qualität in der Stadt und die damit verbundene soziale Verteilungsgerechtigkeit.“ Das Stadtwachstum besorge sie aber weniger, denn „dass sich das Wachstum verlangsamt hat, ist evident“. Die größte Herausforderung in den Augen von Reppé ist aber der Klimawandel, der auch für ältere Menschen belastend wird: „Da geht es um Neubau, Sanierung, Adaption an steigende Temperaturen, Absicherung und Entwicklung von Grünflächen und das Einsparen von Ressourcen und CO2 durch Kreislaufwirtschaft.“ Eine spannende Frage ist daher: „Wie kann man von Anfang an die Möglichkeiten schaffen, um CO2 und Ressourcen zu reduzieren?“, so Reppé.

s geht nicht nur
um leistbare Mieten, sondern um die
ganze Qualität in der Stadt und die
damit verbundene soziale Verteilungs-
gerechtigkeit. 

Susanne Reppé, Wiener Wohnungsforschung

Die Wiener Wohnbauforschung fasst regelmäßig Lösungsvorschläge für kommende Herausforderungen zusammen. Für die Sicherung von leistbarem Wohnen sind die Wohnbauförderung, Bauordnung sowie die Bodenpolitik nennenswerte Instrumente. Besonders betont aber Reppé hier die Widmungskategorie „geförderter Wohnbau“, die absichern soll, dass genügend gemeinnützige Wohnungen entstehen.

Eva Kail forscht zu gendersensibler Raumplanung. Sie spricht sich dafür aus, „soziale Alltagszusammenhänge unterschiedlicher Gruppen gezielt mitzudenken“.

Singles und Alleinerziehende

Eine weitere Herausforderung ist der demografische Wandel. Laut Klein ist es eine Tatsache, dass die Haushaltsgrößen sinken und mittlerweile viel mehr Singles nach Wohnungen suchen als vor 30 Jahren. „Was es hier braucht, ist tatsächlich ein Angebot, in unterschiedlichen Konstellationen neu zusammenleben zu können, wie Mischformen zwischen WGs und Einzelwohnungen sowie flexiblere Wohnformen“, so Klein. Also Wohnungen, die man in verschiedenen Haushaltsgrößen nutzen kann, oder Bürogebäude, die man bei Bedarf auch als Wohnungen nutzen kann. „Hier hat man bisweilen oft Monofunktionalismus produziert. Obwohl man sich hybride Strukturen vornimmt, gibt es dann ganze Blocks voller Büros, die niemals fürs Wohnen geeignet sein werden, da die Trakttiefen zu groß sind“, kritisiert Klein.

Für Alleinerziehende spielt das eine große Rolle. 89 Prozent von ihnen sind weiblich und oft armutsgefährdet, daher ist Leistbarkeit ein großes Thema. Mit dem Bauträgerwettbewerb in der Wolfganggasse in Meidling hat die Stadt Wien erstmals ein spezielles Augenmerk auf die Bedürfnisse dieser Gruppe gelegt: Flexible Raumaufteilung, leistbare geförderte Wohnungen, kurze Wege für den täglichen Bedarf, kombiniert mit Grünflächen und Gemeinschaftsräumen, sollen das Leben über alle Lebenslagen aufwerten.

Vor 30 Jahren hat noch niemand
über den öffentlichen Raum gesprochen,
das hat sich nun geändert. 

Eva Kail, Expertin für frauengerechtes Planen und Bauen

Mitbeteiligt war Eva Kail. Sie ist eine Pionierin auf dem Gebiet der gendersensiblen Stadtplanung. „Vor 30 Jahren hat noch niemand über den öffentlichen Raum gesprochen, das hat sich nun geändert. Wir haben damals Verkehrsdaten ausgezählt und festgestellt, dass zwei Drittel aller Menschen, die zu Fuß gehen, Frauen sind.“

Zudem wurden Städte früher oft aus einer klassisch männlichen Perspektive geplant. Auf Kinderwagenrampen und die Notwendigkeit der Care-Arbeit wurde oft vergessen. Vieles, was damals noch Zukunftsmusik war, ist heute Mainstream und wird schon in Ausschreibungen bedacht. „Mittlerweile geht es viel mehr um holistische Stadtplanung: Interessenkonflikte wird es in der Planung immer geben, bei der Abwägung geht es aber darum, diese nicht nur nach wirtschaftlichen und funktionalen Aspekten vorzunehmen, sondern die sozialen Alltagszusammenhänge unterschiedlicher Gruppen gezielt mitzudenken“, so Kail.

Eines steht fest: Auch der öffentliche Raum muss gerechter verteilt werden. Die Notwendigkeit dafür wurde im Lockdown besonders sichtbar. Wer sich ein Zweithaus im Grünen leisten kann, war besser dran als mehrköpfige Familien in kleinen Mietwohnungen.

„Es wird nicht zu wenig gebaut, sondern das Falsche! Es fehlt an Wohnungen im leistbaren Segment, während teure Luxusbauten entstehen!“, meint der AK-Wohnexperte Thomas Ritt.

Fünf Herausforderungen für die Zukunft

1/ Steigende Mieten und „Holzkrise“

Seit der Niedrigzinspolitik der EZB drängen immer mehr Akteure in den Wohnungsmarkt. Hinzu kommen Rohstoffspekulationen und Baustoffengpässe, von einer Holzkrise war bereits die Rede. Renditebringende Anlagen sind nun gefragt statt einer Absicherung des Grundrechts Wohnen – zulasten all jener, die einfach nur wohnen möchten.

2 / Zwei-Millionen-Marke

Der Zuzug nach Wien hat sich zwar verlangsamt, Wien ist aber noch immer eine der am stärksten wachsenden Städte im deutschsprachigen Raum.

3 / Klimakrise und 1,5-Grad-Marke

Ältere Menschen haben immer mehr mit den heißen Temperaturen zu kämpfen. Betonierte Freiflächen heizen sich zudem weiter auf. Gleichzeitig sind auf den Gebäudesektor 40 Prozent aller CO2-Emissionen weltweit zurückzuführen. Die meisten Emissionen entstehen dabei schon beim Bau. Sanierung statt Neubau, Kreislaufwirtschaft und nachhaltige Materialien werden immer wichtiger.

4 / Demografischer Wandel

Die Haushaltsgrößen sinken. Immer mehr Singles und Alleinerziehende suchen Wohnungen, für die das Angebot fehlt. Dabei haben sie meist mit höheren Wohnkosten zu kämpfen, Alleinerziehende sind eher armutsgefährdet. Das erfordert nicht nur neue Wohnungen, sondern auch leistbare Mieten, flexible Raumaufteilung und Gemeinschaftsräume, Nachbarschaftsinitiativen oder Mischformen zwischen WGs und Einzelwohnungen.

5 / Konfliktfreies Miteinander braucht Mitbestimmung

Der Wunsch nach Partizipation wird größer. Viele wollen nicht mehr nur gehört werden, sondern auch mitbestimmen. Laut Michael Klein von der TU Wien werden Baugruppen und Hausprojekte dennoch Nischenphänomene bleiben: „Nicht jede*r kann und will hierfür die zeitlichen Ressourcen aufbringen, die Frage nach aktiver Mitbestimmung ist aber auch gerade im Bestand, im geförderten, wie im Gemeindebau wichtig.“

Über den/die Autor:in

Felix Schmidtner

Felix Schmidtner ist freier Journalist und hat bisher für das bioskop, dem Magazin der Austrian Biologist Association, progress (Zeitschrift der ÖH Bundesvertretung) und Unique (Zeitschrift der ÖH Uni Wien, heute: Zeitgenossin) geschrieben. Wenn er keine Texte schreibt, beschäftigt er sich mit den molekularen Grundlagen psychischer Erkrankungen im Masterstudium der Molekularen Biologie.

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