Wer keine Wahl hat

Längst nicht allen Menschen in Österreich verleiht das Wahlrecht eine Stimme. 1,2 Millionen Menschen, die hier leben, waren bei der Nationalratswahl nicht wahlberechtigt.
Österreich ist eine demokratische Republik. Ihr Recht geht vom Volk aus.“ Mit diesen Worten beginnt die österreichische Verfassung. Auch die Grundsätze des österreichischen Wahlrechts sind dort festgelegt. Darin steht zudem: Alle österreichischen StaatsbürgerInnen haben das Recht, zu wählen (aktives Wahlrecht) und gewählt zu werden (passives Wahlrecht), sobald sie das Wahlalter erreicht haben: unabhängig von Geschlecht, Klasse, Besitz, Bildung, Religionszugehörigkeit etc.

Nicht jeder Einwohner bzw. jede Einwohnerin dieses Landes kann das Wahlrecht auch tatsächlich ausüben.

Allein, nicht jeder Einwohner bzw. jede Einwohnerin dieses Landes kann dieses Wahlrecht auch tatsächlich ausüben. Der gebürtige Kroate Boris Radojkovic etwa. Er lebt seit bald 30 Jahren in Wien, hat hier studiert, arbeitet als Architekt und ist mit einer Salzbur­gerin verheiratet. In fünf Jahren darf seine heute elfjährige Tochter wählen gehen, sein siebenjähriger Sohn in neun Jahren. Vermutlich wird ihr Papa auch dann noch den Wahl-Zaungast geben müssen.

Dabei hat der Wahlwiener noch den Vorzug, EU-Bürger zu sein – damit ist Radojkovic wie alle nicht-österreichischen EU-BürgerInnen immerhin bei Gemeinderats- (bzw. Wiener Bezirksvertretungs-) und Europawahlen wahlberechtigt. Anlässlich der EU-Wahl am 26. Mai hat er seine Stimme abgegeben. „Aber das reicht mir nicht, natürlich will ich auch gerne bei den Nationalratswahlen mitstimmen.“

Wie gewonnen, so …

Es gab durchaus schon Versuche, AusländerInnen eine Stimme zu geben: Im Dezember 2002 wurde das Wahlrecht auf Wiener Bezirksebene für Nicht-EU-AusländerInnen – die seit zumindest fünf Jahren ihren Hauptwohnsitz in Wien hatten – beschlossen (SPÖ/Grüne). Doch bereits im Juni 2004 wurde diese Regelung vom Verfassungsgerichtshof (VfGH), angerufen durch FPÖ und ÖVP, wieder aufgehoben. „Unser Wahlsystem bildet längst nicht mehr die Gesellschaft ab“, erklärt Politikwissenschafterin Tamara Ehs, die Politische Bildung für ErstwählerInnen sowie im Lehramtsstudium an der Universität Wien unterrichtet. Aktuell entwickelt sie an der Österreichischen Akademie der Wissenschaften das Online-Tool wahlkabine.at für Nicht-Wahlberechtigte.

Auf Nationalratsebene haben wir 1,2 Millionen Menschen im Wahlalter, die nicht wahlberechtigt sind. Rund 700.000 davon haben eine EU-Staatsbürgerschaft.

Tamara Ehs, Politikwissenschafterin Universität Wien

„Auf Nationalratsebene haben wir 1,2 Millionen Menschen im Wahlalter, die nicht wahlberechtigt sind“, kritisiert Ehs. „Rund 700.000 davon haben eine EU-Staatsbürgerschaft.“ Das sind rund 15 Prozent aller in Österreich lebenden Menschen, was etwa den gesamten Wahlberechtigten im Burgenland, in Tirol und Vorarlberg entspricht. Noch extremer ist das Verhältnis in Wien: Weil sie keinen österreichischen Pass besitzen, sind hier 29,5 Prozent der Bevölkerung im wahlfähigen Alter von Nationalratswahlen ausgeschlossen – knapp jeder dritte Mensch.

Immerhin 60 Prozent der Menschen, die ohne österreichische Staatsbürgerschaft hier leben, sind schon länger als fünf Jahre im Land. Ganze 15 Prozent aller in Österreich lebenden AusländerInnen sind sogar hier geboren. Allerdings, weiß Expertin Ehs: „In Österreich gilt das Abstammungsprinzip, Kinder erben also die Staatsbürgerschaft ihrer Eltern.“ Das heißt: Sind die Eltern etwa gebürtige Türken, werden ihre Kinder automatisch zu türkischen StaatsbürgerInnen, obwohl sie das Heimatland ihrer Eltern vielleicht nur einmal jährlich in den Ferien besuchen. Eine Doppelstaatsbürgerschaft ist nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Dieser Umstand hat durchaus politische Folgen: „Wir reden von MitbürgerInnen, die hier beruflich und privat verwurzelt sind, ohne aber mitbestimmen zu können“, hält Ehs fest.

Städte unterrepräsentiert

Weil es die Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben, beruflicher Etablierung und wirtschaftlichem Erfolg vorrangig in die Städte zieht, ist der migrantische Bevölkerungsanteil in Wien, Graz, Linz und Innsbruck um einiges höher als in den ländlichen Gebieten. Diese Tatsache führte bei den vergangenen Nationalratswahlen vom 29. September 2019 zu Verzerrungen, denn die in der Stadt lebende Bevölkerung wurde unterproportional abgebildet.

Die 183 Sitze im Nationalrat werden auf die Bundesländer verteilt. Für die Zuteilung ist die Anzahl der österreichischen Staatsangehörigen im Bundesland entscheidend. Deshalb wurden bei den letzten Wahlen 32 Sitze für Wien und 36 für Niederösterreich vergeben. So weit, so gerecht, scheint es. Doch obwohl in Wien die meisten Menschen leben, lebt in Niederösterreich eine größere Anzahl an dort sesshaften österreichischen StaatsbürgerInnen. „Ein Neugeborenes aus Niederösterreich wird gezählt, ein seit zehn Jahren in Wien lebender 40-jähriger Deutscher wird in der Zählung nicht berücksichtigt“, erklärt Tamara Ehs. Würden aber alle Menschen, die dauerhaft in Österreich leben, im Parlament repräsentiert, dann hätte Wien sechs Mandate mehr und Niederösterreich drei weniger.

Die wirklichen WahlverliererInnen

Die größte Gruppe der Bevölkerung, die nicht wählen darf, sind in Österreich lebende AusländerInnen unter 40 Jahren. Beispielhaft ist hier Rudolfsheim-Fünfhaus, der 15. Wiener Gemeindebezirk verfügt über den höchsten AusländerInnenanteil. Hier leben mehr als 9.000 Menschen zwischen 16 und 24 Jahren, wovon beinahe die Hälfte keine österreichische Staatsbürgerschaft besitzt. Ihnen gegenüber stehen bloß vier Prozent nicht-österreichische StaatsbürgerInnen über 60 Jahren. „Die österreichische Wählerschaft ist gegenüber der tatsächlich hier lebenden Bevölkerung überaltert“, weiß Politikwissenschafterin Ehs. Vor allem jüngere Menschen und StädterInnen sind in der Wählerschaft völlig unterrepräsentiert. „Wir wissen auch, dass Städte anders wählen als Landgemeinden“, macht Tamara Ehs deutlich. „Sie wählen in der Regel linker, grüner und liberaler.“ Würde das Wahlsystem diese Menschen einschließen, wären vielleicht andere Koalitionsvarianten als derzeit im Parlament möglich.

Die österreichische Wählerschaft ist gegenüber der tatsächlich hier lebenden Bevölkerung überaltert.

Tamara Ehs, Politikwissenschafterin Universität Wien

Zudem ist das Interesse am politischen Geschehen bei den „Ausgeschlossenen“ durchaus vorhanden. Das zeigen die langen Schlangen bei der „Pass-egal-Wahl 2019“ (www.sosmitmensch.at), die heuer erstmals in allen neun Bundesländern stattfand. Hier votierte jede/r Zweite der fast 3.000 TeilnehmerInnen (plus 1.000 Solidaritätsstimmen österreichischer StaatsbürgerInnen) für die Grünen, 27,5 Prozent wählten die SPÖ, ÖVP und FPÖ verpassten bei dieser Wahl den Einzug ins Parlament. Freilich ist das Ergebnis nicht repräsentativ für die Gesamtheit der Menschen ohne österreichischen Pass, betonten die VeranstalterInnen – es sei nur ein Stimmungsbild. Es ist auch zu ergänzen, dass Studien zeigen, dass MigrantInnen und Mehrheitsbevölkerung einander im Laufe der Zeit immer ähnlicher werden: Je wohlhabender sie sind, desto geringer ist der Unterschied.

Viele in Österreich beschäftigte ArbeitnehmerInnen sind prekär beschäftigt oder arbeiten als freie DienstnehmerInnen. Bei den AK-Wahlen sind nicht nur sie, sondern auch GrenzgängerInnen wahlberechtigt.

Wie steht es nun um die Mitbestimmung in der Arbeitswelt bzw. bei den AK-Wahlen? Die Veränderungen in der Arbeitswelt haben ihre Spuren hinterlassen. Viele in Österreich beschäftigte ArbeitnehmerInnen sind prekär beschäftigt oder arbeiten als freie DienstnehmerInnen. Bei den AK-Wahlen sind nicht nur sie, sondern auch GrenzgängerInnen wahlberechtigt. Dass die ArbeitnehmerInnen heterogener geworden sind, hat Folgen: „Eine Belegschaft steht heute nicht mehr geschlossen in der Fabrik und lässt sich dadurch schwerer organisieren. Heute arbeiten viele vereinzelt oder in Betrieben, die weniger organisiert sind“, weiß Politikwissenschafterin Ehs. Wenn es keinen Betriebsrat in der Firma gibt, fehlt oft jemand, der den MitarbeiterInnen den Nutzen einer AK-Wahl darlegen kann.

Politischer Wille

Mit dem nötigen politischen Willen könnte das allgemeine Wahlrecht freilich auch adaptiert werden. „Gerade in Zeiten der Mobilität sollte darüber nachgedacht werden“, erklärt die Expertin. Neben dem freien Waren-, Geld- und Dienstleistungsverkehr gehört der freie Personenverkehr zu den vier Freiheiten in der Europäischen Union. Tamara Ehs: „Doch Menschen, die mobil sind, werden für diese Mobilität derzeit bestraft.“ Boris Radojkovic ist über die wenig zeitgemäßen Wahlverhältnisse durchaus verärgert: „Meine Staatsbürgerschaft würde ich nicht tauschen, um hier wählen zu dürfen – ich habe ja auch eine emotionale Bindung zu Kroatien. Allerdings würde ich meinen Pass gegen einen EU-Pass eintauschen“, regt er einen geistigen Grenzabbau an. Seine Vision: „Ich bin für die Auflösung der Staatsbürgerschaften innerhalb der EU. Ähnlich den Bezirken, würde ich dann meine RepräsentantInnen in meinem Wohngebiet wählen.“

Weltweit mehr Wahl

Weltweit gibt es durchaus Ansätze, ausländische Staatsangehörige in die politische Willensentscheidung zu integrieren. In Neuseeland wie auch in Chile, Uruguay und Malawi gibt es ein AusländerInnenwahlrecht. Wahlrechtsexpertin Ehs: „In Neuseeland sind Menschen nach einem Jahr legalem Aufenthaltsstatus berechtigt, das Parlament mitzuwählen.“ Es zeigt sich, wie Integration dadurch positiv beeinflusst wird: „Wenn Menschen über mehr Teilhaberechte verfügen, wirkt sich das stark auf die Inklusion und das Wir-Gefühl aus.“ Neuseeland definiert sich als Einwanderungsland und als sehr pluralistische Gesellschaft – seinen Anteil zu leisten gehört schlicht zum Leben dazu. „Das Wahlrecht wird nicht als Geschenk betrachtet, sondern steht am Beginn der Integration“, erklärt Ehs. „Das ist ein ganz anderes Verständnis von Bürgerschaft.“

Die Öffnung beschränkt sich für AusländerInnen allerdings auf das aktive Wahlrecht – als Abgeordnete können MigrantInnen nicht ins Parlament gewählt werden.

In Österreich wird die Staatsbürgerschaft immer noch als Belohnung verstanden – als positiver Abschluss eines langen Integrationsweges. Dazu müssen Wohlverhalten und die Eingliederung in das Staatswesen über Jahre hinweg bewiesen werden. Deutschkenntnisse sind nachzuweisen, ein Staatsbürgerschafts-Test ist zu bestehen, die BewerberInnen müssen zeigen, wie gut sie über österreichische Kultur, Geschichte und Politik Bescheid wissen.

Eine Stimme ist auch kostspielig

Wie Boris Radojkovic nehmen die sogenannten AusländerInnen am öffentlichen Leben in Österreich teil: „Es gibt Lebensschwerpunkte – ich arbeite in Wien, habe meine Familie und meine Freunde hier.“ Wer dauerhaft seinen Lebensmittelpunkt in einem Land hat und den jeweiligen Gesetzen unterworfen ist, sollte nach seinen Demokratievorstellungen auch einen Anteil an der Gestaltung des Staates haben. „Es lässt sich natürlich darüber diskutieren, wie der dauerhafte Lebensmittelpunkt definiert ist“, erklärt Tamara Ehs. Etwa, wie lange ein Mensch in Österreich gelebt haben muss, um politische Teilhabe auszuüben. Oder darüber, wer nicht wählen dürfte. Beispielsweise Menschen, die bloß auf der Durchreise oder auf Montage sind, ein Praktikum oder Auslandssemester absolvieren.

Wer sich leisten kann, um eine Staatsbürgerschaft anzusuchen, hat ein höheres Einkommen – und diese höheren Einkommensschichten wählen tendenziell konservativer.

Ferner könnte auch ein Staatsbürgerschaftswechsel erleichtert werden. Derzeit birgt dieser beträchtliche ökonomische Hürden: Bundes- und Landesabgaben (mehr als 1.000 Euro) sind zu leisten, dazu muss ein ökonomischer Leistungsnachweis erbracht werden. Wer einen österreichischen Pass besitzen will, benötigt 933 Euro netto pro Monat – Lebenshaltungskosten wie Miete, Unterhalt, Kreditraten etc. sind darin nicht eingeschlossen.

„Wir kennen Zahlen, die belegen, dass sich 40 Prozent aller ÖsterreicherInnen, die es von Geburt an sind, die Staatsbürgerschaft eigentlich gar nicht leisten könnten“, macht Tamara Ehs bewusst. „Das heißt, wir schließen Menschen aufgrund ihrer Armut oder Armutsgefährdung von der Staatsbürgerschaft aus. Und damit auch vom Erwerb des Wahlrechts.“ Umkehrschluss: Wer sich leisten kann, um eine Staatsbürgerschaft anzusuchen, hat ein höheres Einkommen – und diese höheren Einkommensschichten wählen tendenziell konservativer.

Von
Sophia Fielhauer und Christian Resei
Freie JournalistInnen

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 10/19.

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