US-Gewerkschaften: Amazons Zündeln wird zum Flächenbrand

Amazon und die US-Gewerkschaften
Proteste im Frühjahr 2020 vor dem Amazon-Logistikzentrum.
Fotos (C) Credit JEENAH MOON / REUTERS, PATRICK T. FALLON / AFP / picturedesk.com
Amazon muss sich auch zukünftig in den USA nicht mit Gewerkschaften herumärgern. Bei einer Abstimmung, die als richtungsweisend gilt, entschied sich eine Mehrheit wohl gegen eine Gewerkschaft. Dennoch: Das Interesse an einer Arbeitnehmer*innenvertretung steigt im ganzen Land.
Plötzlich war das Maß voll. Wer einen Startschuss für die Proteste der Arbeitnehmer*innen von Amazon braucht, dem sei dieses Zitat an die Hand gegeben: „Niemand sollte sein Leben riskieren, um Sexspielzeug und Kosmetika zu verschicken.“ Chris Smalls, damals noch Vorarbeiter im Amazon-Logistikzentrum bei New York, sprach ihn im Frühjahr 2020 aus. Die Schutzmaßnahmen gegen das Coronavirus kamen ihm unzureichend vor. Auch weil ein Kollege positiv getestet wurde. Er organisierte einen Streik, wurde daraufhin in Quarantäne geschickt und nach einem erneuten Protest gekündigt.

Niemand sollte sein Leben riskieren, um Sexspielzeug und Kosmetika zu verschicken.

Chris Smalls, Amazon-Vorarbeiter

Jeff Bezos, Amazon-Gründer und bis Anfang Februar 2021 auch dessen Vorstandsvorsitzender, machte zu diesem Zeitpunkt und auf Kosten von Menschen wie Chris Smalls mächtig Kasse. Die Corona-Pandemie ließ die Umsätze explodieren. Sowohl beim Versandhandel als auch im Cloud-Geschäft. Ende 2020 wurde das Vermögen von Jeff Bezos auf 179 Milliarden Dollar geschätzt – und damit 65 Milliarden mehr als zu Jahresanfang.

Vom amerikanischen Traum zum Amazon-Albtraum

Oberflächlich liest sich die Amazon-Geschichte wie der amerikanische Traum. Gerade einmal 27 Jahre ist es her, dass Bezos das Unternehmen gegründet hat. Im Jahr 1994 war das. Jetzt ist das Unternehmen der zweitgrößte Arbeitgeber der USA. Rund 900.000 Amerikaner*innen arbeiten an 800 Standorten. Weltweit sind es etwa 1,3 Millionen Menschen. In der Pandemie stellte das Unternehmen bislang eine halbe Million zusätzliche Arbeitnehmer*innen an.

Doch im Laufe dieser 27 Jahre kommt Stück für Stück heraus, dass der immense Reichtum von Bezos eben auch auf fragwürdige Geschäftspraktiken zurückgeht. Wie beispielsweise das Kopieren erfolgreicher Produkte von kleineren Drittanbietern auf der Plattform, wie es das „Wall Street Journal“ 2016 aufgedeckt hat.

Mitarbeiter*innen 15 Dollar Stundenlohn zu zahlen, macht einen nicht zu einem ,fortschrittlichen Arbeitsplatzʻ, wenn man gegen Gewerkschaften vorgeht und Beschäftigte in Wasserflaschen urinieren.

Marc Pocan, demokratischer Abgeordneter

Dazu kommt eine Vielzahl von Missständen bei den Arbeitsbedingungen. Die Beschwerden haben sich derart gehäuft, dass die bekannte Zeichentrickserie „Southpark“ sogar eine mehrteilige Folge über Bezos und die Arbeitsbedingungen bei Amazon produziert hat. Den jüngsten Skandal hat sich Amazon allerdings selbst eingebrockt. Marc Pocan, ein demokratischer Abgeordneter, schrieb auf Twitter: „Mitarbeiter*innen 15 Dollar Stundenlohn zu zahlen macht einen nicht zu einem ,fortschrittlichen Arbeitsplatzʻ, wenn man gegen Gewerkschaften vorgeht und Beschäftigte in Wasserflaschen urinieren.“

Wenn Amazon-Fahrer*innen in die Flasche urinieren müssen

Amazon antwortete eher trotzig: „Sie glauben nicht wirklich die Sache mit dem In-die-Flasche-Pinkeln? Wenn das wahr wäre, würde niemand für uns arbeiten.“ Der Internethändler musste wenig später zurückrudern. Es tauchten Arbeitsanweisungen von Lieferfirmen auf, die für Amazon tätig sind, in denen die Fahrer aufgefordert werden, nach Schichtende die Urinflasche zu entsorgen. Amazon entschuldigte sich.

Der Grund, warum viele Fahrer in Flaschen pinkeln, ist, dass sie keine Zeit für Pausen haben. Amazon liefert noch weitere Erklärungen: Stau, zu wenige Toiletten im öffentlichen Raum und fehlende sanitäre Infrastruktur im ländlichen Raum. Völlig ignoriert werden die Beschwerden der Fahrerinnen. Im Gespräch mit dem „Business Insider“ berichtet eine Frau davon, wie sie bis zur Blasenentzündung Urin zurückgehalten habe. Aus Angst davor habe sie sich nun ein Urinalsystem für Frauen gekauft. Mit Grauen denke sie an ihre Periode, da sie mangels Pausen das Tampon im Laderaum wechseln müsse. Eine Kollegin habe sie heulend angerufen, weil sie ihre Kleidung vollgeblutet habe.

Kundgebung pro Amazon-Betriebsrat
Laufend finden Demonstrationen und Kundgebungen pro Amazon-Gewerkschaft statt.

All das war einfach zu viel. In Bessemer (Alabama) waren im März 2021 die rund 6.000 Amazon-Angestellten aufgerufen, über die Gründung einer Betriebsgewerkschaft per Briefwahl abzustimmen. Etwas mehr als die Hälfte kam der Aufforderung nach. Stand Donnerstagabend, den 8. April 2021, führten die Gewerkschaftsgegner*innen mit 1.100 zu 463 Stimmen. Es wird also noch dauern, bis die erste Amazon-Niederlassung in den USA eine Gewerkschaft bekommt.

Kein Wunder. Zum einen arbeitet Amazon aktiv daran, Gewerkschaftsgründungen zu erschweren. Als der Internetriese im April 2020 die Supermarktkette Whole Foods übernahm, erstellte Amazon eine Heatmap der 510 Niederlassungen, wie der „Business Insider“ berichtete. Darin wurden Daten wie die geografische Nähe zu Gewerkschaftsbüros oder die Zahl der Personalbeschwerden grafisch dargestellt. Anschließend wurden die Filialen gerankt. Aus dem Sinn der Liste machte Amazon kein Geheimnis: „Die Heatmap wurde entwickelt, um Filialen zu identifizieren, bei denen das Risiko einer gewerkschaftlichen Organisierung besteht.“

Geringer gewerkschaftlicher Organisationsgrad in den USA

Zum anderen sind die USA längst kein Land mehr mit starken Gewerkschaften. Gerade einmal 14,6 Millionen Menschen sind in den USA noch in Gewerkschaften organisiert. Das sind nur 10,3 Prozent der Arbeitnehmer*innen. Eine Halbierung zum Jahr 1983. Zum Vergleich: Allein der Österreichische Gewerkschaftsbund hat 1,2 Millionen Mitglieder.

Für die USA hätte eine mögliche Gewerkschaftsgründung bei Amazon Vorbildcharakter und könnte damit richtungsweisend sein. Denn es regt sich Widerstand gegen die neue Generation der Internetkonzerne. Bei einer Umfrage des Massachusetts Institute of Technology (MIT) im Jahr 2017 kam heraus, dass sich die Hälfte aller befragten Arbeitnehmer*innen für eine Gewerkschaftsmitgliedschaft interessieren. In den 1990ern war es nur ein Drittel.

Wenn das der Beginn einer breiteren Bewegung ist, wäre das eine große Sache für die gesamte US-Wirtschaft.

Alex Colvin, Arbeitsrechtsexperte an der Cornell University

Auch und vor allem bei den Arbeitnehmer*innen der Tech-Giganten ist die Wut groß. Bei Google hat sich im Januar 2021 die Alphabet Workers Union (AWU) gegründet. Aus Angst vor Kündigungen erst heimlich. Die Fahrer*innen für diverse Lieferanten-Apps verlangen ebenfalls bessere Arbeitsbedingungen. Alex Colvin ist Experte für Arbeitsrecht an der Cornell University und betonte in einem Interview mit dem Sender ABC ebenfalls, welche Bedeutung diese Vorgänge haben: „Wenn das der Beginn einer breiteren Bewegung ist, wäre das eine große Sache für die gesamte US-Wirtschaft.“

Und die Arbeitnehmer*innen haben jetzt auch Unterstützung aus Washington. Das war noch vor wenigen Monaten anders. So sagte der amtierende US-Präsident Joe Biden: „Gewerkschaften geben den Arbeitern Macht.“ Und mit Blick auf die Abstimmung in Alabama: „Ob Arbeiter sich gewerkschaftlich organisieren wollen, entscheiden sie selbst und nicht der Arbeitgeber.“ Das haben sie nun und damit eine Chance vertan.

Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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