Die Sozialversicherungen und ihre natürlichen Feinde – ein Essay von Robert Misik

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Illustrationen (C) Natalia Nowakowska

Inhalt

  1. Seite 1 - Selbstverwaltung fällt nicht auf, bis sie geschwächt wird
  2. Seite 2 - Sozialstaat strukturiert die Gesellschaft
  3. Seite 3 - Vermögen nicht enteignen
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Die Sozialversicherungen bilden das Herz des Sozialstaats, sind der Motor der Freiheit aller, die nicht viel haben. Das System, in das gemeinsam eingezahlt wird, bildet das Vermögen der normalen Leute. Das bringt den Sozialversicherungen erklärte Feinde: Rechte und Neonliberale, die auf dieses Vermögen zugreifen wollen.
Wir dürfen davon ausgehen, dass die Sozialversicherungen Institutionen sind, zu denen die Menschen keine besonders tiefe emotionale Bindung haben. Zur Kirche, freiwilliger Feuerwehr, zum Schulsystem, zu vielen anderen Institutionen, die im Alltag präsent sind, haben die BürgerInnen wohl ausgeprägtere Gefühle, seien sie kritisch-ablehnende, seien sie Gefühle der Zuneigung oder die gängige Mischform, die Hassliebe.

Aber wer hat schon Zuneigung zur Gebietskrankenkasse? Wer zur Pensionsversicherungsanstalt? Wer zur Unfallversicherung? Wer zur Arbeitslosenversicherung? Klar, wer einmal eine Mahnung oder einen Exekutionsantrag von der SVA erhalten hat, der kennt kurze Gefühle blanken Hasses, wer einen Termin bei der PVA hat und flink und kompetent beraten wurde, wird ein gutes Gefühl gegenüber einer Institution haben, die „ordentlich arbeitet“, und wer in einer gesundheitlichen Krise von der Rettung ins Krankenhaus gebracht wurde, dort bestens ärztlich betreut und sich hinterher in der Reha rundum versorgt fühlte, der wird möglicherweise sogar einen gewissen staatsbürgerlichen Stolz darüber empfinden, in einem Land zu leben, in dem all das einfach wie am Schnürchen läuft.

Aber dennoch werden sich die meisten Menschen keine großen Gedanken über das institutionelle Gefüge machen, das dahinter steht. Vielleicht nicht einmal aus Ignoranz: Aber diese Dinge existieren einfach, sie funktionieren, sie sind immer schon da. Es ist auch nicht einmal so, dass die Menschen keine Ahnung haben, wie das System funktioniert. Sie wissen, dass diese Dinge bei uns „irgendwie“ staatlich organisiert sind. Also jedenfalls nicht privatkapitalistisch und kommerziell. Und die übergroße Mehrzahl der BürgerInnen finden das gut so.

Selbstverwaltung fällt nicht auf, bis sie geschwächt wird

Und damit reicht es für die meisten auch. Dass diese Institutionen in Selbstverwaltung organisiert sind, also nicht, wie etwa Ministerien, direkter Teil der öffentlichen Verwaltung, sondern so strukturiert sind, dass sie von den BeitragszahlerInnen beschickt werden, davon haben sie allenfalls eine leise Ahnung – und das wohl auch die Wenigsten.

Dass eine starke Vertretung von Beschäftigten in den Selbstverwaltungskörpern Folgen hat, fällt ja auch nicht sonderlich auf, solange diese starke Vertretung nicht geschwächt wird.

Die Rückbindung der Selbstverwaltung an die Beschäftigten ist auch zu lose, wenn man diesen Begriff gebrauchen will, um auch nur irgendwie aufzufallen. Dass eine starke Vertretung von Beschäftigten in den Selbstverwaltungskörpern Folgen hat, fällt ja auch nicht sonderlich auf, solange diese starke Vertretung nicht geschwächt wird. Man kann auch so formulieren: Solange das Öffentliche und Solidarische nicht privatisiert und vermarktlicht wird, fallen die Vorteile des Öffentlichen und Solidarischen nicht besonders auf.

Oder, noch einmal anders gesagt: Das historisch Errungene wird zum Gewohnten und zum Unauffälligen, solange es nicht massiv in Frage gestellt wird.

Dabei haben die Sozialversicherungen ihre natürlichen Feinde – und zu denen gehören die harten Rechten genauso wie die Neoliberalen. Denn Sozialversicherungen, so technisch-institutionell sie uns erscheinen, haben eine Philosophie, sie strukturieren eine Gesellschaft, prägen Menschenbilder und sind zugleich Ausdruck eines Menschenbildes. Sie sind das Herz des Sozialstaates.

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  1. Seite 1 - Selbstverwaltung fällt nicht auf, bis sie geschwächt wird
  2. Seite 2 - Sozialstaat strukturiert die Gesellschaft
  3. Seite 3 - Vermögen nicht enteignen
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Über den/die Autor:in

Robert Misik

Robert Misik ist Journalist, Ausstellungsmacher und Buchautor. Jüngste Buchveröffentlichung: "Die falschen Freunde der einfachen Leute" (Suhrkamp-Verlag, 2020). Er kuratierte die Ausstellung "Arbeit ist unsichtbar" am Museum Arbeitswelt in Steyr. Für seine publizistische Tätigkeit ist er mit dem Staatspreis für Kulturpublizistik ausgezeichnet, 2019 erhielt er den Preis für Wirtschaftspublizistik der John Maynard Keynes Gesellschaft.

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