Ungesunde Spaltung

Fotos (C) Michael Mazohl, Konzept & Produktion: Thomas Jarmer
Trotz bekannter Herausforderungen will die Regierung sparen. Das Risiko für Unterversorgung und zunehmende Ungleichheit steigt.
Nehmen Sie noch neue Patienten? Das ist seit einigen Jahren in vielen Gegenden wohl die Standardfrage bei der Arztsuche. Wer es sich leisten kann, weicht auf eine Wahlärztin oder einen Wahlarzt aus. Dort muss man in der Regel nicht allzu lange auf einen Termin warten. Denn während es früher mehr Kassen- als WahlärztInnen gab, hat sich vor etwa zehn Jahren das Verhältnis umgedreht. Seit dem Jahr 2000 hat sich die Zahl der WahlärztInnen mehr als verdoppelt (aktuell rund 10.100, darunter 7.000 FachärztInnen). Dementsprechend sind die Ausgaben der Kassen für Wahlarztleistungen von 2010 bis 2017 um 48 Prozent gestiegen. Unser Gesundheitswesen zählt zu den besten der Welt, doch es hakt an einigen Stellen. Außerdem besteht dringender Handlungsbedarf angesichts demografischer Entwicklungen. Doch die verschiedenen Akteure im Gesundheitssystem konfrontieren die unzufriedenen PatientInnen mit immer neuen, teils widersprüchlichen Zahlen: Die Ärztekammer klagt über ÄrztInnenmangel, Versorgungslücken und unattraktive Honorarsysteme bei den Gebietskrankenkassen.

Der Hauptverband relativiert diese Aussagen dann mit anderen Zahlen und Fakten, etwa in einem Paper, in dem sechs „Mythen zum Ärztemangel“ widerlegt werden. Die Regierung wiederum kündigt Fusionen und Sparmaßnahmen an und verspricht nicht nur gute, sondern bessere Versorgung. Die Medien liefern Berichte über medizinische Errungenschaften wie Exoskelette für SchlaganfallpatientInnen oder stellen Top-PhysiotherapeutInnen vor, die SpitzensportlerInnen auch nach schweren Verletzungen wieder fit machen.

Die Realität von KassenpatientInnen:

  • mühsame ÄrztInnensuche
  • stundenlanges Warten in Ambulanzen und Ordinationen
  • Physiotherapie-Einheiten im Minutentakt
Auf der anderen Seite die Realität von KassenpatientInnen: mühsame ÄrztInnensuche, stundenlanges Warten in Ambulanzen und Ordinationen, Physiotherapie-Einheiten im Minutentakt, die für Behandelnde und Behandelte gleichermaßen unbefriedigend ablaufen. Über Psychotherapie auf Krankenschein wurde schon viel geschrieben, aktuell kann es nach wie vor bis zu acht Monate dauern, bis Betroffene an die Reihe kommen. Dass die Wartezeiten auf geplante Operationen und aufwändigere Untersuchungen für Privatversicherte und SelbstzahlerInnen meist kürzer sind als für KassenpatientInnen, ist schon lange kein Geheimnis mehr.

Drei-Klassen-Medizin

Wolfgang Panhölzl, Leiter der Abteilung Sozialversicherung der AK Wien, setzt mit seiner Kritik beim System an: „Trotz oder eigentlich wegen der Kassenfusionen wird es in Zukunft keine Zwei-, sondern sogar eine Drei-Klassen-Medizin geben. Die besten Leistungen, weil geringsten Risiken (gute Beitragsgrundlagen, sichere Jobs, wenig Arbeitsunfälle und witterungsbedingte Krankheiten) bieten die Beamtenversicherung und die Krankenfürsorgeanstalten (der öffentlich Bediensteten auf Landes- und Gemeindeebene).

Es wird in Zukunft keine Zwei-, sondern sogar eine Drei-Klassen-Medizin geben.

An zweiter Stelle folgen die Selbstständigen und Bauern. Erst danach kommen die ASVG-Versicherten.“ Die Bedingungen für Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Selbstständige und Bauern sind daher günstiger. Deren Sozialversicherungsanstalten können den PatientInnen etwa bessere Unterstützungen bei Zahnmedizin und Physiotherapie sowie den ÄrztInnen bessere Verträge mit höheren Honoraren bieten. Bei ASVG-Versicherten hingegen können niedergelassene ÄrztInnen nur durch die Quantität auf ihre Kosten kommen.

2017 veröffentlichte das Sozialministerium eine Studie zu Effizienzpotenzialen im Sozialversicherungs- und Gesundheitsbereich: Neben der Reduzierung der Verwaltungskosten um 10 Prozent (= 120 Millionen Euro) empfahlen die ExpertInnen der London School of Economics (LSE) die Leistungsharmonisierung der verschiedenen Kassen, mehr Abstimmung zwischen niedergelassenem Bereich und Spitälern, eine bessere Versorgung chronisch Kranker und den Ausbau der Primärversorgung.

Warten auf gleiche Leistung

„Leistungsharmonisierung beispielsweise wurde uns jetzt zwar versprochen, aber genau das ist nicht passiert“, kritisiert AK-Experte Panhölzl die kürzlich erfolgten Kassenzusammenlegungen und die Zentralisierung. Damit werden die Leistungsunterschiede zwischen den Berufsgruppen verfestigt, und auch die regionale Versorgung wird gefährdet: „Wie soll mit einer zentralen Einheitskasse zum Beispiel die regionale Versorgung mit AllgemeinmedizinerInnen im Lungau, im Waldviertel oder im Mölltal verbessert werden?“

Je höher der Anteil an alten Menschen, desto mehr Personal wird gebraucht.

Es gibt also einigen Verbesserungsbedarf. Und – Digitalisierung hin oder her – je höher der Anteil an alten Menschen, desto mehr Personal wird gebraucht, in Krankenhäusern, SeniorInnenwohnheimen und in der extramuralen Betreuung. Bis 2060 wird sich der Anteil der über 75-Jährigen fast verdoppeln (= 16,5 Prozent der Bevölkerung). Die Statistik Austria hat berechnet, wie sich die Gesundheitskosten mit zunehmendem Alter erhöhen. Bereits für Menschen zwischen 50 und 59 Jahren ist die medizinische Betreuung pro Jahr doppelt so teuer wie bei unter 40-Jährigen. Mit dem 75. Lebensjahr steigen die Kosten durchschnittlich auf das Fünffache.

„Doch die Regierung plant, bis 2023 dem Gesundheitssystem 1,1 Milliarden Euro zu entziehen“, weiß Wolfgang Panhölzl. „So wurden beispielsweise die Unfallversicherungsbeiträge gesenkt. Ab 2023 wird die Unfallversicherung keinen pauschalierten Ersatz mehr für Arbeitsunfälle leisten, die auf Kosten der Krankenversicherung versorgt werden (derzeit 200 Millionen Euro jährlich).“ Hinzu kommen die Fusionskosten und – laut Hauptverband – ein teurerer ÄrztInnen-Gesamtvertrag.

Im heimischen Gesundheitsbereich gibt es einen Trend zur Privatbeteiligung, unter anderem sinkt die Zahl der kasseneigenen Gesundheitseinrichtungen.

Aufmerksame BeobachterInnen erkennen auch im heimischen Gesundheitsbereich einen Trend zur Privatbeteiligung, unter anderem sinkt die Zahl der kasseneigenen Gesundheitseinrichtungen. Der AK-Experte nennt Deutschland als negatives Beispiel. Dort wurde vor fast 15 Jahren mit verstärkter Privatisierung begonnen. Aktuell sind deutsche Gesundheits- und Pflegeeinrichtungen bereits bis zu 40 Prozent privatisiert. Die Folge ist ein veritabler Pflegenotstand. Im Sommer 2018 etwa berichtete der Radiosender Deutschlandfunk von dramatischer Personalknappheit wegen katastrophaler Arbeitsbedingungen. Mit „Kopfprämien“ von 5.000 Euro und mehr wurden Pflegekräfte gesucht. Aber, so Panhölzl, die Kapitalfonds, die in Gesundheitseinrichtungen investieren, versprechen den Shareholdern seriöse Renditen von 8 Prozent – ein „Traumgeschäft“ für AnlegerInnen zulasten der Versicherten. Man muss kein Wirtschaftsexperte sein, um zu wissen, dass derartige Entwicklungen für alle mit geringem Einkommen ziemlich beunruhigende Zukunftsaussichten bringen.

Forderungen von AK und ÖGB:
  • Risikostrukturausgleich über alle Versichertengruppen bei gleichzeitigen Verbesserungen für ASVG-Versicherte
  • Faires Wartezeiten-Management
  • Rascherer Ausbau der Primärversorgungszentren
  • Ausbau der Präventionsarbeit, mit dem Ziel, nicht nur die Lebenserwartung zu erhöhen, sondern auch die Lebensjahre in Gesundheit. Denn im internationalen Vergleich wird die Gesundheit der ÖsterreicherInnen zu früh durch chronische Krankheiten und Abnützungserscheinungen beeinträchtigt.
  • Rasche Umsetzung von ELGA, unter anderem auch um Gesundheitsrisiken durch POLYPHARMAZIE bei SeniorInnen zu vermeiden.
  • Keine Selbstbehalte: Sie verhindern unter Umständen, dass Menschen rechtzeitig zum Arzt gehen.

Wer es sich leisten kann, sorgt also vor. In Österreich meldete der Versicherungsverband im vergangenen Februar, dass nach ersten Berechnungen für das Jahr 2018 das Prämienvolumen bei privaten Krankenversicherungen um 4,3 Prozent auf 2,2 Milliarden Euro gestiegen ist. Auch hier wird Ungleichheit verstärkt, statt sie abzubauen.

„Anreizsysteme wie die reduzierten Selbstbehalte der SVA kommen nur jenen zugute, die erstens informiert sind und zweitens überhaupt die Möglichkeit haben, ihr Leben gesund zu gestalten“, argumentiert Bernhard Achitz, Leitender Sekretär des ÖGB. „Für in die Selbstständigkeit gezwungene Botenfahrer, die 14 Stunden pro Tag unterwegs und zu ungesunder Ernährung fast gezwungen sind, bedeuten diese Modelle eher eine Krankensteuer als einen Anreiz für ein gesünderes Leben.“

LSE-Studie:
tinyurl.com/y3sdpwrh

Von
Astrid Fadler
Freie Journalistin

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 4/19.

Schreiben Sie Ihre Meinung an die Autorin
afadler@aon.at
oder an die Redaktion
aw@oegb.at

Sie brauchen einen Perspektivenwechsel?

Dann melden Sie sich hier an und erhalten einmal wöchentlich aktuelle Beiträge zu Politik und Wirtschaft aus Sicht der Arbeitnehmer:innen.

Mit dem Absenden dieses Formulars stimme ich der Verarbeitung meiner eingegebenen personenbezogenen Daten gemäß den Datenschutzbestimmungen zu.