Teilen statt spalten, Zusammenhalt statt Leistungsmythos

Illustration von Schulkindern
Illustration (C) Natalia Nowakowska
Ein Kommentar von Michaela Moser, Armutskonferenz: Armut bedeutet nicht nur einen Mangel an Einkommen. Auch der soziale Status geht nach unten. Wer in einem reichen Land arm ist, wird für seine Situation selbst verantwortlich gemacht.
Wer die zur Bekämpfung von Armut vorgesehenen Sozialleistungen bezieht, steht unter Generalverdacht des Missbrauchs, wird als „Durchschummler“, „Nichtsnutz“ oder „Sozialschmarotzer“ beschimpft und als in „der sozialen Hängematte“ liegend abgewertet. Und dies nicht nur in Social-Media-Postings, sondern auch von InhaberInnen hoher Regierungsämter.

Leistungsmythos

Unter dem Motto „wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ wird dabei ein Leistungsmythos strapaziert, der einer näheren Betrachtung aus mindestens fünf Gründen nicht stand hält und als gesellschaftlich schädlich zu verwerfen ist.

1. Erstens kommen in den entsprechenden Diskussionen nie jene in den Blick, die ihr Vermögen tatsächlich ganz ohne eigene Leistung durch Erbschaften erworben haben, ihr Geld „für sich arbeiten lassen“ oder ihren Reichtum vornehmlich durch die Ausbeutung anderer oder Steuerhinterzug bzw. -vermeidung erzielen.

2. Zweitens wird vorgegeben, dass Menschen nur dann etwas leisten, wenn sie durch finanzielle Anreize oder vielmehr durch die Drohung, ihr Einkommen zu verlieren, dazu gezwungen werden.

Die Streichung von Notstandshilfe und Kürzungen der Mindestsicherung werden sie quasi zur Arbeit zwingen, ist der mehrfach unhaltbare Hintergedanke.  Zum einen fehlt es an den passenden Jobangeboten am Arbeitsmarkt, zum anderen zeigen zahllose Beispiele der Freiwilligenarbeit und nicht zuletzt die Millionen Stunden unbezahlter Sorgearbeit für Haushalt, Kinder, Familie, kranke oder ältere Angehörige, dass auch ganz ohne Geldfluss gearbeitet wird. Und dies insgesamt an Stunden mehr als die bezahlte Arbeit hierzulande ausmacht.

3. Drittens verwickelt sich dieses System auch in eigene Widersprüche, wenn etwa aktuelle sozialpolitische Maßnahmen bzw. Kürzungen, wie die Streichung der Aktion 20.000 für ältere Erwerbarbeitslose, genau diejenigen treffen, die zuvor jahrzehntelang viel geleistet haben.

4. Viertens unterlaufen die mit dem Leistungsmythos begründeten Kürzungen im Sozialsystem zentrale Pfeiler einer lang bewährten Politik des Sozialen, die auf Solidarität setzt und die Unterstützung jener sichert, die besonders verletzlich sind.

5. Fünftens wird so gesellschaftlicher Zusammenhalt zerstört und Armut produziert. Wie dramatisch die Auswirkungen sind, zeigt unter anderem ein Blick nach Großbritannien, einem Land, das – obwohl reiche europäische Industrienation – gerade einen Besuch des UN-Sonderberichterstatters zu extremer Armut bekommen hat.

Hunderttausende Menschen dort – aber immer mehr auch hier in Österreich – können sich das Heizen nicht mehr leisten, haben nicht genug zu essen, leben in feuchten, schimmligen Wohnungen und sind mit massiven gesundheitlichen Folgen ihrer Situation konfrontiert.

Stigmatisierung

Dazu kommen dann Beschimpfungen und Stigmatisierung. Das schlechte Reden über Menschen, die wenig haben, wird gezielt eingesetzt. Und funktioniert als eine „Anti-Sozialstaats-Maschinerie“, die wie ein Panzer die Lebenschancen vieler Menschen niederwalzt, wie die britische Sozialexpertin Ruth Patrick im März auf der 11. Österreichischen Armutskonferenz berichtete.

Ich weiß nicht, wovon ich meine Miete bezahlen soll, mein Essen, meine Therapien und Medikamente – und das ist existenziell bedrohlich. 

Eine Betroffene erzählt

Was die aktuellen und geplanten Kürzungen im ganz konkreten Leben der davon Abhängigen bedeuten, können diese plastisch schildern: „Es ist die ganz existenzielle Bedrohung, nie zu wissen, was die Regierung entscheidet, mich nicht wehren zu können, weil ich nicht gesund werde, auch nicht mehr erwerbsfähig, ich bin da komplett angewiesen, ich weiß nicht, wovon ich meine Miete bezahlen soll, mein Essen, meine Therapien und Medikamente – und das ist existenziell bedrohlich“  erzählt eine Betroffene, die in der Plattform „Sichtbar werden“ der Armutskonferenz engagiert ist. Dort haben sich Menschen mit Armutserfahrungen zusammengeschlossen, um mit eigener Stimme ihre konkreten Erfahrungen, aber auch ihre Forderungen und Alternativvorschläge für ein gutes Leben aller an die Öffentlichkeit zu bringen.

Ihnen zuzuhören ist genauso Gebot der Stunde, wie alle Kräfte dafür einzusetzen, das Ruder herumzureißen, sich gerade jetzt für ein Mehr an Sozialem einzusetzen, gegen jegliche Spaltung, gegen Rassismus, Abwertung, Beschimpfung aufzutreten. Und sich zu engagieren für eine gerechte Verteilung von Gütern und für eine Politik der Anerkennung, die jede Art von Diskriminierung und Stigmatisierung bekämpft und die Rechte aller auf ein gutes Leben stärkt.

Alle leiden unter ökonomischer Ungleichheit

Für die Privilegierteren unter uns ist dies nicht nur ein solidarischer Akt, es liegt auch im eigenen Interesse. Denn in Gesellschaften mit hoher ökonomischer Ungleichheit leiden fast alle. Nicht nur die Ärmeren sind dort stärker von gesundheitlichen und sozialen Problemen betroffen, dem ganz großen Teil der Bevölkerung geht es in solchen Systemen schlechter. Das ist durch zahllose Studien belegt. Deshalb ist genau jetzt die Zeit für radikale politische Forderungen und Kämpfe nach einer solidarischen Politik des Sozialen und dem Aufbau von Alternativen

Wenn der 12-Stunden-Tag eingeführt wird, müssen wir die positiven Auswirkungen und die realen Möglichkeiten von Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich aufzeigen.

Wenn der 12-Stunden-Tag eingeführt wird, müssen wir die positiven Auswirkungen und die realen Möglichkeiten von Arbeitszeitverkürzungen bei vollem Lohnausgleich aufzeigen.

Wenn Notstandshilfe abgeschafft und die Mindestsicherung weiter gekürzt wird, müssen wir ein besseres System sozialer Einkommenssicherheit fordern, mit deutlich höheren Sozialleistungen, die ein Leben in Würde ermöglichen und das ohne Schikanen, Abwertung und Stigmatisierung auskommt.

Wenn Mitmenschen ihre Rechte hierzulande verweigert werden, nachdem sie aus einem anderen Land geflohen sind oder es aufgrund einer wirtschaftlichen Notsituation verlassen haben, oder einfach, weil sie anders aussehen oder leben, dürfen wir den Bemühungen, Benachteiligte gegeneinander auszuspielen, nicht in die Falle gehen und müssen wir zusammenstehen und füreinander einstehen.

Die Kluft zwischen Arm und Reich schließen

Viele Studien machen es deutlich, aber auch unsere Lebenserfahrung zeigt uns: Es geht uns besser, wenn die Kluft zwischen Arm und Reich geschlossen wird und wenn wir füreinander da sind. Weil wir alle unsere Schwächen haben und an unterschiedlichen Stellen unseres Lebens Unterstützung brauchen. Weil ein soziales Netz wichtig für uns alle ist und wir nie wissen, wann wir es brauchen.

Für ein radikales Teilen des vorhandenen Vermögens, für existenzsichernde Mindesteinkommen aller.

Wenn die Regierung also antritt, sozialstaatliche Errungenschaften zu zerstören und Menschen, die Hilfe brauchen, zu erniedrigen, dann braucht es verstärkt unseren Einsatz nicht nur für den Erhalt, sondern vielmehr für den Auf- und Ausbau einer neuen und umfassenden Politik des Sozialen. Für ein radikales Teilen des vorhandenen Vermögens, für existenzsichernde Mindesteinkommen aller, eine gute Infrastruktur für leistbares Wohnen, gute Gesundheitsvorsorge und -versorgung, Mobilitätsmöglichkeiten, Bildung und Beratung, für neue Arbeitsmarkt- und Arbeitszeitpolitiken, die allen die Beteiligung an Erwerbs-, Sorge- und Freiwilligen-Arbeit ermöglichen. Und für die Bildung starker Netzwerke und Communities zur gegenseitigen Unterstützung, in denen wir das gute Leben in all unserer Verschiedenheit – manchmal auch streitend – miteinander gestalten und genießen können.  Und in der uns allen immer wieder auch ganz entspannte Zeiten in der Hängematte zustehen!

Über den/die Autor:in

Michaela Moser

Michaela Moser ist Dozentin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Soziales der FH St. Pölten, seit vielen Jahren in der Armutskonferenz engagiert und u.a. Mitautorin des Buches „Achtung. Abwertung hat System“, das im ÖGB-Verlag erschienen ist.

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