Sozialversicherungsreform: Fragen und Antworten zur neuen Selbstverwaltung

Foto von einem trojanischen Holzpferd mit türkiser Schleife
Die Sozialversicherungsreform bringt den ArbeitgeberInnen die Entscheidungshoheit in der Selbstverwaltung.
Foto (C) psdesign1 / Adobe Stock
Durch die geplante Kassenreform nimmt der Einfluss der ArbeitgeberInnenseite auf die Sozialversicherungsträger entscheidend zu. Damit ist die Selbstverwaltung durch die Betroffenen infrage gestellt.
Auf den Punkt gebracht: In der Verfassung sind die Eckpunkte der Selbstverwaltung festgeschrieben. Die Sozialversicherung wird als Selbstverwaltung geführt. Selbstverwaltung bedeutet, dass Organisationen von jener Personengruppe verwaltet werden, die direkt betroffen ist. Bei der Sozialversicherung sind das also die Versicherten – und im Fall der Gebietskrankenkassen sind das wiederum zu einem guten Teil ArbeiterInnen und Angestellte. Doch das will die Bundesregierung nun ändern: Die ArbeitgeberInnen sollen die Kontrolle übernehmen.

Wie funktioniert die Selbstverwaltung?

Die Selbstverwaltungskörper setzen sich somit aus VertreterInnen der unmittelbar betroffenen Personengruppen zusammen. Im Fall der Gebietskrankenkassen bedeutet das, dass die Versicherten in den Entscheidungsgremien sitzen. Konkret ist es auch derzeit schon so, dass auch Arbeitgeber-VertreterInnen in den Vorständen sitzen, aber zu einem geringeren Anteil als die ArbeitnehmerInnen. So können ArbeitgeberInnen zwar mitbestimmen, wenn es etwa um Verträge mit der Ärztekammer, die Finanzierung von Leistungen oder darum geht, wie viel und welches Personal aufgenommen werden soll etc., aber ihre Stimmen waren bisher nicht überwiegend.

Die Selbstverwaltung macht es zum Beispiel schwer möglich, dass der Staat einen Aufnahmestopp verhängt. Selbstverwaltete Systeme sind weisungsfrei, aber unter staatlicher Aufsicht, etwa durch Ministerien und den Rechnungshof. Die VertreterInnen in den Gremien werden in den Arbeiterkammer- bzw. Wirtschaftskammer-Wahlen gewählt. Andere selbstverwaltete Einrichtungen sind etwa Gemeinden, Universitäten, Arbeiter- und Wirtschafts- und Ärztekammer.

Was soll sich jetzt ändern?

In den Gremien sollen künftig gleich viele Arbeitnehmer- wie Arbeitgeber-VertreterInnen sitzen. So können die ArbeitgeberInnen künftig Entscheidungen der ArbeitnehmerInnen blockieren. Bei einer  Entscheidung mit gleich vielen Zustimmungen und Ablehnungen käme es nämlich zu gar keiner Entscheidung, weil es für jeden Antrag eine Mehrheit braucht.

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David Mum, Mitglied der GPA-djp-Bundesgeschäftsführung, sagt: „Wenn man jetzt die Parität einführt, ist es keine Selbstverwaltung mehr. Das ist dann das Ende der Selbstverwaltung, weil dann nicht mehr die Betroffenen die Entscheidungen treffen können.“

Warum ist das problematisch?

Von den Versichertenzahlen her kann eine Parität zwischen ArbeitgeberInnen und ArbeitnehmerInnen nicht argumentiert werden. Auch die Zusammensetzung der Einnahmen in den Gebietskrankenkassen erfolgt nicht zu gleichen Teilen und kann daher eine paritätische Vertretung in den Gremien nicht legitimieren.

David Mum erklärt: „Die Arbeitgeber zahlen nicht die Hälfte der Einnahmen der Krankenkassen, sondern nur 29 Prozent.“ Er betont, dass auch PensionistInnen, Arbeitslose, Angehörige und MindestsicherungsbezieherInnen das System finanzieren. Hinzu kommen die Selbstbehalte, die nur von den Betroffenen bezahlt werden.

Wie kam es zur Selbstverwaltung bei den Krankenkassen?

Die erste Österreichische Krankenkasse, die Wiener Gebietskrankenkasse, entstand aus einer ArbeiterInnen-Bewegung. Konkret gründete eine Gruppe von Arbeitern aus dem Arbeiterbildungsverein im Jahr 1868, also vor 150 Jahren, die Allgemeine Arbeiter-Kranken- und Invalidenkasse als Verein. Sie zahlten gemeinsam Beiträge ein und waren damit für den Krankheits- und Invaliditätsfall abgesichert. Das System wurde von ihnen selbst verwaltet.

1888 übernahm der Staat die Vereinskrankenkassen und die Selbstverwaltung in das Krankenversicherungsgesetz auf. 1927 wird die Kasse zur Wiener Gebietskrankenkasse. Auch in anderen Städten und Bundesländern vollzogen sich ähnliche Entwicklungen. Im Austrofaschismus und im Nationalsozialismus griff man in die Selbstverwaltung ein – so setzte das Dollfuß-Regime 1934 staatliche Verwalter ein, und 1938 wurde die Kasse nach dem Führerprinzip unter Ausschaltung der Selbstverwaltung geleitet.

Welche Veränderungen stehen noch ins Haus?

Private Gesundheitseinrichtungen werden künftig mehr Geld von den Krankenkassen bekommen als bisher. Außerdem könnten die von den Kassen betriebenen Gesundheitseinrichtungen wie zum Beispiel Zahnambulatorien an private Anbieter verkauft werden. Diese Verschiebung könnte für Versicherte ein Nachteil sein, weil sie dann vermehrt auf teurere private Anbieter angewiesen wären.

Anders als etwa die Steuern werden die Sozialversicherungsbeiträge nicht vom Staat, sondern direkt von den Krankenkassen eingezogen. Sie sind es auch, welche die Überprüfungen vornehmen. Diese Überprüfungen sollen künftig das Finanzamt durchführen – jedenfalls jene der neuen Österreichischen Gesundheitskasse, die die neun Gebietskrankenkassen ersetzen soll. Die zuständigen Versicherungen der Selbstständigen, der Bauern und der öffentlich Bediensteten dürfen die Überprüfungen weiterhin selbst vornehmen.

David Mum stellt fest, dass es „völlig unsachgemäß und willkürlich“ ist, die Änderung nur auf bestimmte Versicherungsträger anzuwenden. Auch die Parität in den Gremien wird sich bei Selbstständigen, Bauern und öffentlich Bediensteten nicht verändern. David Mum vermutet, dass dort deshalb darauf verzichtet wird, weil diese Gremien ohnehin bereits „schwarze Mehrheiten“ haben.

Gibt es einen Weg zurück?

Wird die Sozialversicherung in Selbstverwaltung geführt, muss man sich an die Regeln halten, die dafür in der Verfassung festgeschrieben sind. David Mum: „Wenn man durch die Selbstverwaltung den Personengruppen Aufgaben, die sie selbst betreffen, verantwortet, müssen die Spielregeln eingehalten werden. Und das ist im neuen Gesetz nicht mehr der Fall.“ So sei die demokratische Willensbildung nicht mehr ausreichend gegeben.

Wenn man durch die Selbstverwaltung den Personengruppen Aufgaben, die sie selbst betreffen, verantwortet, müssen die Spielregeln eingehalten werden. Und das ist im neuen Gesetz nicht mehr der Fall

David Mum, Mitglied der GPA-djp Bundesgeschäftsführung

VertreterInnen der Regierungsparteien sehen das anders und die Verfassung nicht verletzt. David Mum ist sicher, dass es zu einer Verfassungsklage kommen werde. Bei der SPÖ hat die Parteichefin Pamela Rendi-Wagner schon Ende Oktober gesagt, man denke eine Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof ganz konkret an. Auch die betroffenen Versicherungsträger können eine Verfassungsklage einreichen, müssten damit aber bis zur Umsetzung des Gesetzes warten.

Über den/die Autor:in

Alexandra Rotter

Alexandra Rotter hat Kunstgeschichte in Wien und Lausanne studiert. Sie arbeitet als freie Journalistin in Wien und schreibt vor allem über Wirtschaft, Gesellschaft, Technologie und Zukunft.

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