Unter den EU-Abgeordneten ist der Ärger nach dem Zolldeal mit US-Präsident Donald Trump groß. Der Krieg in der Ukraine geht unvermindert weiter, der in Gaza ebenso, und Europa verliert auf der Weltbühne zunehmend an Bedeutung. Vor diesem düsteren Panorama hielt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen die alljährliche Rede zur Lage der Union vor dem EU-Parlament. Zum Auftakt des politischen Herbstes ist auch die Schlagzeile von „Le Monde“ nicht hilfreich: Die französische Zeitung betitelt die Kommissionspräsidentin als „Gesicht der Schwäche der EU“.
„Weg mit diesem Bild“ ist von der Leyens Devise zehn Monate nach Beginn ihrer zweiten Amtszeit. Ihre Ansprache war gespickt mit Aufzählungen von Erfolgen, reich an Ankündigungen und Appellen an Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die oft unnahbar wirkende Christdemokratin setzte auf emotionale Momente: Sascha, ein Jugendlicher aus der Ukraine, der von russischen Truppen verschleppt worden war und freikam, wurde vorab eingeflogen und saß im Plenum. Auch ein griechischer Feuerwehrmann, der half, die Brände in Spanien zu löschen, war eingeladen. Der Applaus war laut.
Neue Sanktionen und klare Positionen
Von der Leyen legte den Fokus ihrer Rede auf eine eigenständige europäische Verteidigungspolitik. Sie kündigte neue Sanktionen gegenüber Russland an – „eingefrorene russische Vermögenswerte müssen den Krieg in der Ukraine finanzieren“. Die ehemalige deutsche Verteidigungsministerin schlug vor, auf Basis der „liquiden Anteile“ der in Europa eingefrorenen russischen Vermögenswerte der Ukraine ein „Reparationsdarlehen“ zu gewähren. Weitere EU-Milliarden sollten die ukrainische Waffenproduktion ankurbeln und einen „Drohnenwall“ für die Sicherung der osteuropäischen Flanke finanzieren. In einer neuen Weltordnung müsse „dies der Moment der europäischen Unabhängigkeit sein“.
Eindeutig war auch von der Leyens Botschaft an die Konfliktparteien im Nahen Osten: Die Kommission werde „die bilaterale Unterstützung für Israel aussetzen“ und entsprechende Zahlungen stoppen. Sanktionen gegen „rechte Minister“ in Israels Regierung und gegen „gewalttätige Siedler“ würden folgen. Für die Hamas, von der die Präsidentin die sofortige Geiselbefreiung verlangte, dürfe es „nie einen Platz geben“.
Bürger:innen wünschen sich Sicherheit
Wie erwartet verteidigte die Kommissionspräsidentin die Zollvereinbarung mit den USA als „günstigsten Deal“. Sie verlangte, die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu stärken und den Binnenmarkt um Finanzen, Energie und Telekommunikation auszubauen. Acht Milliarden Euro an Einsparungen pro Jahr würden schließlich die Omnibus-Vorschläge zum Abbau von Bürokratie einbringen. Vollmundig erklärte sie, beim „Klimaschutz den Kurs zu halten“, weil damit auch die Sicherung von Arbeitsplätzen verbunden sei.
Our independence depends on our ability to compete in today’s turbulent times.
But competitiveness is also about people and livelihoods.
So we’ll put forward measures on affordability and the cost of living ↓
— Ursula von der Leyen (@vonderleyen.ec.europa.eu) 10. September 2025 um 12:54
Nur mit blumigen Schlagworten tangierte von der Leyen die dringendsten Anliegen der Bürger:innen: Jobs, Inflation, Gesundheitsversorgung und Wohnen. Ein „Rechtsakt für moderne Arbeitsplätze“, ein „Plan für erschwinglichen Wohnraum“, ein Werbebudget für „Buy European Food“ oder eine Altersgrenze für soziale Netzwerke würde Brüssel bald vorlegen. Auch ein „neues Programm für Medienresilienz“ im Kampf gegen Desinformation und die „Verdreifachung der Mittel für Migration“ werde es geben. Eine Antwort darauf, wie all die Probleme konkret angegangen und gelöst werden sollen, blieb die Kommissionspräsidentin schuldig, was etliche EU-Abgeordnete scharf kritisierten.
Es war eine Rede der Versprechungen. Zurück bleibt der Eindruck, dass europäische Politik als permanente Reaktion auf das Agieren anderer gestaltet wird. Und nicht als eigenständiges, selbstbewusstes und entschlossenes Handeln.