Praktika: Leider ein Spiegel der Gesellschaft

„Wir sind alle wütend“, sagt Leokadia Grolmus. Sie studiert Soziale Arbeit – und will nicht mehr hinnehmen, unbezahlte Pflichtpraktika absolvieren zu müssen.
Fotos (C) Markus Zahradnik
Bis zu ihrem Abschluss verrichten Studierende im Sozial- und Gesundheitsbereich teils mehr als 2.000 Stunden Gratisarbeit. Eine Belastung, unter der nicht nur sie selbst, sondern die Gesellschaft als Ganze leidet.
Leokadia Grolmus meint trocken: „Ich hatte seit drei Jahren keinen Urlaub.“ Obwohl trockene Sätze eigentlich nicht so ihr Ding sind. Für gewöhnlich spricht sie laut, schnell und gestikuliert dazu im Takt als eine Art Dirigentin ihrer eigenen Worte. Grolmus studiert im sechsten Semester berufsbegleitend Soziale Arbeit an der FH Campus in Wien, für Miete und Leben arbeitet sie mangels Beihilfen bis zu 25 Stunden pro Woche in einer Einrichtung für Obdachlose in Wien-Floridsdorf. Ihre Praktika, insgesamt zwanzig Wochen, absolvierte sie allesamt unbezahlt. Ihre Geschichte ist die Geschichte eines American Dreams, der nicht nur geografisch deplatziert wirkt.

Grolmus ist eine von vielen, eine von rund 100.000 Studierenden in Österreich, die im Laufe ihres Studiums ein Pflichtpraktikum absolvieren müssen, um positiv abschließen zu können. Rund ein Drittel der Praktikant*innen arbeitet unbezahlt. Was in anderen Branchen längst der Vergangenheit angehört, ist im Sozial- und Gesundheitsbereich weniger die Ausnahme als die Regel. „Über alle Sektoren hinweg werden im Gesundheits- und Sozialbereich besonders häufig Pflichtpraktika absolviert – die gleichzeitig aber besonders selten bezahlt sind“, heißt es in der Studierenden-Sozialerhebung 2019, die das Institut für Höhere Studien (IHS) im Auftrag der Arbeiterkammer Wien durchführte. Viele fangen ein solches Studium daher gar nicht erst an. Ein gesamtgesellschaftlich nicht nachhaltiger Selektionsmechanismus – denn gerade in diesen Branchen ist Österreich auf Nachwuchs angewiesen.

Hamsterrad

Grolmus kam als 16-Jährige aus Tschechien nach Wien, zeitgleich mit der Ausbildung zur Pflegeassistentin machte sie in Abendkursen ihre Matura. Als sogenannte „EU-Ausländerin“ hat sie keinen Anspruch auf Studienbeihilfen. Neben ihrem Job in der Obdachlosenhilfe besucht sie abends drei- bis viermal wöchentlich Lehrveranstaltungen, dazu kommen Projektarbeiten und Prüfungsvorbereitungen. Auf 70 bis 80 Stunden komme sie pro Woche, erzählt sie. Ihren Urlaub nutzt sie für ihre unbezahlten Pflichtpraktika. Die 22-Jährige spricht vom „Hamsterrad Arbeit, Studium, Praktika“.

In den Sozialberufen sind gerade einmal zwölf Prozent der Praktika bezahlt. 

Boris Ginner, AK-Bildungsreferent

„In den Sozialberufen sind gerade einmal zwölf Prozent der Praktika bezahlt“, kritisiert Boris Ginner, bildungspolitischer Referent der AK Wien. In den Gesundheitsberufen sehe es noch schlechter aus, hier sind es mickrige sechs Prozent, während Informatikstudierende laut Studierenden-Sozialerhebung zu 95 Prozent bezahlte Praktika absolvieren. „Aus sozioökonomischer Perspektive ist das ein großes Problem“, erklärt Ginner. Soll heißen: So ein Studium muss man sich leisten können. Ein Ausschlussverfahren, für das ihm das Verständnis fehlt: „Gerade Gesundheits- und Pflegeberufe werden immer relevanter“, doch die Ausbildungsbedingungen sind alles andere als attraktiv.

Eineinhalb Jahre Gratisarbeit

„Wir Praktikant*innen nehmen Arbeit ab, wir sind eine echte Unterstützung, aber wir bekommen dafür kein Geld“, kritisiert Christoph Kleinlein, 27, der Gesundheits- und Krankenpflege an der FH Campus Wien studiert.

Christopher Kleinlein opfert seine Mittagspause für ein Telefonat, „wir sind sehr eng getaktet“. Der 27-Jährige ließ seinen Bürojob hinter sich und studiert im zweiten Semester Gesundheits- und Krankenpflege an der FH Campus Wien. Sein erstes Praktikum liegt gerade hinter ihm, das zweite steht vor der Tür. Rund 2.300 Praktikumsstunden braucht er für seinen Abschluss, keine einzige davon wird entlohnt. Das entspricht ungefähr eineinhalb Jahren unbezahlter Vollzeitarbeit. Viele aus seinem Bekanntenkreis hätten sich daher gegen ein solches Studium entschlossen.

Einen zusätzlichen Job braucht Kleinlein nicht, er bekommt Weiterbildungsgeld vom AMS und ab dem dritten Semester ein Selbsterhalterstipendium. Dennoch muss er derzeit mit Bezügen nahe dem Existenzminimum auskommen, und ein Nebenjob kommt für ihn nicht infrage, weil ihm der zusätzliche Verdienst vom AMS-Geld wieder abgezogen wird.

Ich arbeite nicht nur unbezahlt, sondern muss fürs Arbeiten bezahlen. 

Christopher Kleinlein, Studierender FH Campus Wien

Kleinlein ist begeistert von seinem Studium. „Ich hatte von Anfang an das Gefühl, dass das das Richtige für mich ist.“ Nachsatz: „Bis auf die Praktika“. „Denn ich arbeite nicht nur unbezahlt, sondern muss fürs Arbeiten bezahlen“, kritisiert er. Für sein Studium sind halbjährlich gut 380 Euro Studiengebühren fällig, hinzu kommt Geld für Fachbücher, teilweise für Arbeitskleidung. Die Tickets für die Fahrt zum Praktikumsplatz und zurück zahlt Kleinlein selbst. Dabei unterscheide sich seine Tätigkeit oftmals nicht sonderlich von der seiner Mitarbeiter*innen, er sei als „vollwertiges Mitglied“ in den Arbeitsprozess eingebunden und müsse genauso verantwortungsvolle Aufgaben übernehmen: „Wir Praktikant*innen nehmen Arbeit ab, wir sind eine echte Unterstützung, aber wir bekommen dafür kein Geld.“ Mindestens die Hälfte des Gehalts der Fixangestellten wäre gerechtfertigt, findet Kleinlein.

Christopher Kleinlein: „Wir Praktikant*innen nehmen Arbeit ab, wir sind eine echte Unterstützung, aber wir bekommen dafür kein Geld.“

Juristische Grauzone vs. Realität

Rechtlich ist ein solches Arbeitsverhältnis nicht unumstritten, genauer gesagt die Frage, ob es sich überhaupt um ein Arbeitsverhältnis handelt. AK-Bildungsreferent Ginner spricht von einem „Graubereich“, denn das Arbeitsrecht kennt den Begriff Praktikum nicht. Ginner fordert, auch Pflichtpraktika als Arbeitsverhältnisse anzuerkennen, denn nur so seien Betroffene auch arbeits- und sozialrechtlich abgesichert. „Sobald jemand Verantwortung übernimmt und zum wirtschaftlichen Vorteil beiträgt, handelt es sich um ein Arbeitsverhältnis“, betont Ginner. Die Realität sieht oftmals anders aus.

Menschen, bei denen ich wusste: Wenn die Eltern mehr Geld hätten, wenn die Mutter oder sie selbst nicht den Job verloren hätten, dann hätten sie das Studium abschließen können.

Leokadia Grolmus, Studentin Soziale Arbeit an der FH Campus Wien

Die für viele Studierende ohnehin prekäre Lage habe sich seit Ausbruch der Corona-Pandemie noch verschärft, beobachtet Leokadia Grolmus. Einige schmissen hin. „Menschen, bei denen ich wusste: Wenn die Eltern mehr Geld hätten, wenn die Mutter oder sie selbst nicht den Job verloren hätten, dann hätten sie das Studium abschließen können. Viele haben geweint, als ich mit ihnen darüber gesprochen habe.“

Tausende Unterschriften für ein Mindestgehalt

Leokadia Grolmus: „Ich bin einfach pissed. Ich mache dasselbe wie meine Studienkolleg*innen, aber ich brauche viel mehr Energie, der ökonomische Druck ist viel höher. Marginalisierte Personen müssen sich immer doppelt und dreifach bewähren.“

Und unter die Tränen mischte sich Wut. Grolmus nahm das zum Anlass für eine Petition, in der sie von den Landesregierungen und Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) ein Mindestgehalt von 950 Euro monatlich für ein Vollzeitpraktikum fordert. Mehr als 5.000 Menschen unterzeichneten innerhalb weniger Wochen. „Wir sind alle wütend. Es gibt keinen besseren Zeitpunkt für eine Petition“, findet Grolmus. Wie sie trotz ihres Arbeitspensums noch Zeit und Energie für politisches Engagement findet? – „Ich bin einfach pissed. Ich mache dasselbe wie meine Studienkolleg*innen, aber ich brauche viel mehr Energie, der ökonomische Druck ist viel höher. Marginalisierte Personen müssen sich immer doppelt und dreifach bewähren.“

„Frauenberufe“ gehen leer aus

Im privatwirtschaftlichen Sektor, insbesondere in der Industrie, sind unbezahlte Praktika selten. „Hier ist es den Gewerkschaften gelungen, kollektivvertragliche Regelungen für Praktika zu etablieren“, erklärt Ginner. Der AK-Bildungsreferent spricht von einem „Spiegel der Gesellschaft“: In jenen Bereichen, in denen die Arbeitsbedingungen prekär, Löhne und gesellschaftliche Wertschätzung gering sind, werden auch Praktikant*innen kaum entlohnt. Dort, wo die Gewinnspanne entsprechend höher ist, könnten Praktikant*innen mit einem „relativ guten Entgelt“ rechnen. Dass es sich bei Ersteren um sogenannte „Frauenberufe“ handle, sei kein Zufall, betont Ginner. Auch wenn die Relevanz dieser Berufe derzeit stärker ins öffentliche Bewusstsein rückt, orientiere sich die Bezahlung an „traditionellen Rollenbildern“. Die „Systemrelevanz“ ist zwar regelmäßiger Bestandteil medialer Lobeshymnen, aber spiegelt sich selten im Gehalt wider.

Albtraum

Grolmus wird ihr Studium voraussichtlich im Herbst abschließen. Ihre Geschichte ist ein Beleg dafür, dass man es schaffen kann. Die Geschichte von Leokadia Grolmus ist die verquere Version eines an sich schon ideologisch überladenen American Dreams: Wer sich anstrengt, hart arbeitet, Opfer bringt, die Zähne zusammenbeißt, kann es schaffen, sogar als Frau, man muss halt nur wollen. Nur wer untertags lohnarbeiten geht, bis tief in die Nacht lernt und in den eigentlichen Erholungsphasen Gratispraktika absolviert, kann es schaffen. Manchen gelingt das – aber längst nicht allen. Weil das viel Kraft und Energie kostet. Weil die Tellerwäscher*innen in dieser Version selten zu Millionär*innen werden, sondern ihnen nach Jahren der Entbehrung oftmals weitere prekäre Jahre bevorstehen.

Drei Fragen zum Thema

Beantwortet von Christian Hofmann, GPA-Jugendsekretär

In der Industrie, im Gastgewerbe und im Handel sind Praktika längst kollektivvertraglich geregelt – wieso im Gesundheits- und Sozialbereich nicht?
Nichts ist geschenkt! Bezahlte Praktika wurden in diesen Branchen von den Gewerkschaften hart erkämpft. Im Gesundheits- und Sozialbereich ist uns das bis dato nicht gelungen, hier braucht es eine stärkere Organisierung und Involvierung junger Menschen. Praktikant*innen müssen sich auf die Füße stellen – und wir werden alles dafür tun, sie dabei zu unterstützen!

Was bedeutet diese prekäre Situation für Praktikant*innen im Gesundheits- und Sozialbereich – gerade in diesen Zeiten?
Sie müssen sich beständig fragen: Wie kann ich mir meine Miete, Strom und Essen leisten? Berufsbegleitend Studierende müssen sich Urlaub nehmen, um ihre Praktika absolvieren zu können. Das ist eine zusätzliche Hürde in einem Bereich, wo seit Beginn der Corona-Krise betont wird, man brauche mehr Personal, man müsse junge Menschen für diese Berufe motivieren. Ein bezahltes Praktikum wäre auch ein Motivator und eine Form der Anerkennung.

Was würde eine kollektivvertragliche Regelung an deren Situation konkret verbessern?
Existenzsicherung und Wertschätzung. Und es gäbe – die Rahmenbedingungen betreffend – endlich Klarheit für alle Beteiligten, für Betriebe und Praktikant*innen. Dazu muss man sagen: Dass Praktikant*innen im Gesundheits- und Sozialbereich zumeist nicht bezahlt werden oder nur ein Taschengeld erhalten, scheitert oft nicht am Unwillen der Arbeitgeber. Die sind meist selbst von öffentlichen Geldern abhängig. Es scheitert an den politischen Rahmenbedingungen – die Politik ist hier gefordert, mehr Geld zur Verfügung zu stellen!

Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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