Verdacht auf Menschenhandel: 174 Opfer auf Borealis-Baustelle

Luftaufnahme vom Borealis Werk in Kallo, Antwerpen, Belgien. Symbolbild für Menschenhandel Borealis
Rund eine Milliarde Euro möchte Borealis in das Werk in Kallo investieren. Jetzt muss jedoch zuerst der Verdacht auf Menschenhandel aufgeklärt werden. | © Borealis
Auf der Borealis-Baustelle am Hafen von Antwerpen könnte es zu einem der größten Fälle von Menschenhandel in Europa gekommen sein.
Ende Juli 2022 führte die Polizei aus Antwerpen auf der Borealis-Baustelle im belgischen Kallo eine Razzia durch. Dabei entdeckten die Beamten 55 Männer aus den Philippinen und Bangladesch, die unter menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht waren. Sie hielten sich illegal in Belgien auf. Opferschutzorganisationen sprechen mittlerweile von 174 Opfern. Der Sub-Unternehmer IREM-Ponticelli ließ die Männer für 650 Euro im Monat an sechs Tagen die Woche arbeiten. Recherchen der Zeitung Gazette Van Antwerpen legen nahe, dass Borealis davon gewusst hat.

Verdacht auf Menschenhandel: Borealis setzt Vertrag mit Sub-Unternehmer aus

„Die Berichte erinnern an Fälle von moderner Sklaverei, wie etwa in der Bauwirtschaft von Qatar. Es ist untragbar, dass ein Unternehmen zum Teil in österreichischem Staatsbesitz in einen derartigen Skandal verwickelt ist. Die Republik Österreich als Miteigentümerin darf sich in diesem Fall nicht in Stillschweigen üben“, sagt Konrad Rehling. Er ist Geschäftsführer der Nichtregierungsorganisation (NGO) Südwind. Sie setzt sich für Menschenrechte und faire Arbeitsbedingungen ein.

Mitarbeiterin von Borealis präsentiert Polyolefinen. Symbolfoto Menschenhandel Borealis
Borealis ist in Europa führend in der Produktion von Polyolefinen. Der Konzern ist zum Teil in österreichischem Staatsbesitz. | © Borealis

Nach Bekanntwerden des Skandals reagierte Borealis umgehend. Das Unternehmen stellte für drei Tage die Bauarbeiten im Hafengebiet von Antwerpen ein, um die Ermittlungen zu erleichtern. Zusätzlich setzte Borealis den Vertrag mit seinem Sub-Unternehmer IREM-Ponticelli aus. Die Zeitung Gazette Van Antwerpen schreibt jedoch, dass Borealis schon seit Mai 2022 von den Zuständen auf der Baustelle wisse.

Auch Petra Bayr reagierte empört. Sie ist Vorsitzende des entwicklungspolitischen Unterausschusses des Nationalrats und Vorstandsmitglied von Parlimentarians for Global Action. „Dass Menschenhandel und Arbeitsbedingungen, die allen rechtlichen Standards spotten, mitten in der Europäischen Union passieren, ist erschütternd und zeigt, dass manche Firmen vor nichts zurückschrecken, wenn es ums Profitmachen geht.“

Borealis soll von Zuständen auf der Baustelle gewusst haben

Die Gazette Van Antwerpen berichtet, dass der Arbeitsprüfer Ebe Veraegen bereits im Mai 2022 die Personalabteilung von Borealis verständigt haben soll. Veraegen habe damals einen ukrainischen Arbeiter bei sich aufgenommen, der ihm von den Missständen berichtet habe. Nach Angaben der Zeitung habe Borealis auf den Hinweis auch reagiert und versprochen, den Vorwürfen nachzugehen.

„Beim Borealis-Skandal zeigt sich ein Totalversagen bei unternehmerischen Sorgfaltspflichten und Kontrollorganen“, bewertet Rehling die Situation. Ein unternehmenseigener Code of Business Conduct nutze wenig, „wenn es keine Überprüfung gibt und eingebrachte Beschwerden unbeantwortet bleiben.“ Auch Bayr pocht in diesem Zusammenhang auf rasche Aufklärung, denn „Ausbeutung und Menschenrechtsverletzungen dürfen sich niemals kaufmännisch rechnen, nicht in der EU und auch nicht außerhalb.“

Katastrophe auf der Borealis-Baustelle

Aktuell versucht die Hilfsorganisation Payoke den Menschen zu helfen. Sie ist mit der großen Zahl jedoch überfordert. Ein Großteil der 174 Opfer müsse immer noch unter prekären Umständen leben. Die Aufnahmemöglichkeiten seien ausgereizt. Klaus Vanhautte, der Leiter von Payoke, sagte gegenüber dem Sender Radio 2: „Wir haben jetzt 174 anerkannte Opfer von Menschenhandel im Fall des Chemieunternehmens Borealis registriert. Ich glaube sogar, dass das einer der größten Fälle in ganz Europa ist. Das ist eine Katastrophe. Historisch gesehen ist dies der größte Fall von Menschenhandel in Belgien und wir können nicht allen helfen.“

Lediglich die ersten 55 Fälle habe seine Organisation in Antwerpen unterbringen können. Die restlichen Menschen hätten derzeit keine Aussicht auf Hilfe. Vanhautte: „Sie halten sich noch unter prekären Umständen an den Orten auf, wo sie durch ihre Rekrutierungsbüros untergebracht und von wo aus sie ausgebeutet wurden. Das sind Härtefälle.“ Bayr pocht darauf, dass diesen Menschen umgehend geholfen werden muss: „Den Opfern der Arbeitsausbeutung und der Menschenrechtsverletzungen an der Baustelle der österreichischen Firma Borealis ist sofort Unterstützung zukommen zu lassen.“

Sklavenarbeit und Kinderarbeit wieder aktuell

Der Verdacht auf Menschenhandel auf der Borealis-Baustelle ist aktuell nicht der einzige Skandal. So soll Smart Alabama LLC, ein Zulieferer von Hyundai, in seinem Werk insgesamt drei Kinder im Alter von 12 bis 15 Jahren beschäftigt haben, berichtet das Nachrichtennetzwerk Reuters. Im Bericht heißt es weiter, dass dies nur drei Fälle einer größeren Gruppe minderjähriger Arbeiter seien. Smart bestreitet die Vorwürfe allerdings.

Auch die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar wirf seit Jahren seine Schatten voraus. Seit Beginn der Bauarbeiten im Jahr 2010 sollen 6.500 Menschen gestorben und verletzt worden sein. Lohnraub und Erpressungen seien an der Tagesordnung. Arbeit&Wirtschaft befasst sich schon seit langem mit dem Thema. Fans und Menschenrechtsorganisationen fordern von der FIFA mittlerweile eine Entschädigungszahlung von mindestens 440 Millionen Dollar.

https://twitter.com/SuedwindAustria/status/1554820677860896769

Aufklärung und Lieferkettengesetz

Die Folge aus all diesen Skandalen ist für Rehling klar. „Es braucht einen Gesetzesrahmen, der Unternehmen konsequent zur Haftung über ihre gesamte Lieferkette verpflichtet, um Schlupflöcher für Menschenhandel und moderne Sklaverei zu schließen.“ Südwind fordert ein EU-weites Lieferkettengesetz. Magnus Brunner, der Finanzminister, müsse außerdem volle Aufklärung garantieren. Darauf weist auch Bayr hin, ergänzt aber auch: „Bei all unseren Debatten zu einem Lieferkettengesetz haben wir den außereuropäischen Raum im Blick, wollen Unternehmen rechtlich dazu verpflichten, Menschen-, Sozial- und Umweltrechte am Beginn und entlang der ganzen Lieferkette zu respektieren. Dass im Jahr 2022 dazu auch innerhalb der EU Handlungsbedarf besteht, ist ernüchternd.“

Über den/die Autor:in

Christian Domke Seidel

Christian Domke Seidel hat als Tageszeitungsjournalist in Bayern und Hessen begonnen, besuchte dann die bayerische Presseakademie und wurde Redakteur. In dieser Position arbeitete er in Österreich lange Zeit für die Autorevue, bevor er als freier Journalist und Chef vom Dienst für eine ganze Reihe von Publikationen in Österreich und Deutschland tätig wurde.

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