Das Budget der vergebenen Chancen

Markus Marterbauer
Foto, Video (C) Markus Zahradnik
Zu wenig, zu spät: Marterbauer, Chefökonom der Arbeiterkammer, im Gespräch über die zweite Budgetrede von Finanzminister Gernot Blümel.

Das Interview im Transkript:

Arbeit&Wirtschaft: Wir haben uns gerade die Budgetrede von Finanzminister Gernot Blümel angeschaut. Und bevor wir ins Detail gehen, hätte ich die Frage: Ein Budget, das jetzt mitten in der Pandemie erstellt wird, mit welchen Unsicherheiten muss da eigentlich geplant werden?

Die Unsicherheiten sind klarerweise sehr groß. Das betrifft die Pandemie selber. Wir wissen nicht, wie es auf dem gesundheitlichen Bereich weitergeht. Aber das betrifft auch wirtschaftliche Fragen „Wie rasch kommen Leute wieder in Beschäftigung zurück?“, hat enorme ökonomische Auswirkungen. „Wie ist die wirtschaftliche Entwicklung bei wichtigen Handelspartnern?“ Also auch da beeinflusst das natürlich die österreichische Wirtschaft stark.

Die Kennzahl, die letztendlich immer am meisten besprochen wird, das ist das Defizit. Wir haben heuer jetzt ein Defizit von 28 Milliarden Euro. Für 2021 sind im Budget 21 Milliarden Euro vorgesehen. Und Finanzminister Blümel hat eben gerade in seiner Rede gesagt: „Schuldenleugner sind wie Klimaleugner. Beide leben auf Kosten der nachfolgenden Generation.“

Ein völlig unpassender Vergleich, denn nehmen wir an, es würden keine Schulden im Moment gemacht werden. Also dann würden die nächsten Generationen aufs Unerträglichste belastet werden. Nehmen wir an, wir würden nichts gegen die Arbeitslosigkeit tun, wir würden die Jugendarbeitslosigkeit nicht bekämpfen. Also das wären wirklich die großen Lasten für die nächste Generation. Nehmen wir an, wir würden die Krise jetzt nicht dazu nutzen, um gegen den Klimawandel zu investieren. Die Last für die kommenden Generationen wäre unerträglich hoch. Also ich glaube, da fehlt es ein bisschen an der Kenntnis ökonomischer Zusammenhänge. Wer jetzt, wer frühzeitig investiert und wer deshalb gestärkt aus der Krise herauskommen wird, der wird langfristig auch profitieren. Und deshalb ist es jetzt wichtig, eine aktive Politik zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit zu machen und gleichzeitig die Krise zu nutzen, um die Weichen neu zu stellen, also gegen den Klimawandel zu investieren, in soziale Dienste zu investieren, in Digitalisierung zu investieren.

Hängt das vielleicht auch damit zusammen, dass oft von einem Haushalt gesprochen wird und dass das gerne verglichen wird mit unserem Haushalt z.B. zuhause, wo wir halt nicht mehr ausgeben können, als wir einnehmen?

Ja, diese Analogien sind natürlich völlig unzutreffend. Es geht um die Frage, wie sich eine gesamte Volkswirtschaft mit fast neun Millionen Menschen entwickeln soll. Und da sind die Spielräume des Staates natürlich auch viel größer. Also wenn wir nur daran denken, dass der österreichische Staat diese mehr als 20 Milliarden, die er sich 2021 verschulden will, auf den Kapitalmärkten aufnehmen will und dafür negative Zinssätze hat. Das heißt, die Anleger zahlen uns etwas dafür, dass sie uns das Geld borgen dürfen. Also das zeigt schon, wie falsch es wäre, das Geld jetzt nicht zu nehmen, um zu investieren, zeigt aber auch, dass die gesamte Volkswirtschaft eben etwas anderes ist als ein kleiner privater Haushalt. Und das ist falsch wäre, Wirtschaftspolitik auf der Basis eines Hausmannes oder einer Hausfrau zu machen.

Also den Hausverstand kann man in der Form dann nicht anwenden?

Hausverstand ist immer gut, weil es sozusagen Pragmatik in der Wirtschaftspolitik bedeutet. Aber man darf die individuelle Ebene nicht verwechseln mit einer Gesellschaft oder mit einer Volkswirtschaft in unserem Fall jetzt.

Im Vorfeld hat Blümel gesagt, er möchte mit diesem Budget Österreich gestärkt aus der Krise führen. Ganz grob betrachtet, ohne jetzt noch ins Detail zu gehen, wo erfüllt das Budget Ihrer Einschätzung nach dieses Versprechen und wo nicht?

Ich würde zunächst so sagen, wir haben im Budget eine Reihe von durchaus guten Weichenstellungen. Also, wir haben die Arbeitsstiftung mit mehr Maßnahmen für die Qualifizierung der Arbeitslosen. Im Bereich des öffentlichen Verkehrs ist der Ausbau vorgesehen, auch dieses 1-2-3 Österreich Ticket. Wir haben im Bereich Breitbandausbau Mittel vorgesehen, et cetera. Also es gibt in vielen Bereichen durchaus die richtigen Ansatzpunkte gewählt. Ich würde nur sagen, für die meisten gilt „zu spät und zu wenig“. Also wenn wir nur an den Arbeitsmarkt denken, wenn die Arbeitsmarktmittel, die neuen, die jetzt so hoch gepriesen werden, im Jänner 2021 kommen, dann sind wir fast schon im zehnten Monat der Covid Massenarbeitslosigkeit. Es ist gut, dass die Mittel kommen. Es ist viel zu spät, und wir haben sozusagen Monate über Monate versäumt am Arbeitsmarkt, und es ist wahrscheinlich insgesamt auch zu wenig. Das gleiche scheint mir für die Klimainvestitionen und den öffentlichen Verkehr zu gelten. Auch da ist klar, es braucht die ÖBB mehr Geld. Wir brauchen im Busverkehr mehr Geld. Wir brauchen in der Radinfrastruktur mehr Geld, und überall fragt man sich „Warum geht es so langsam und warum kommen wir so langsam in die Gänge, wirklich die Dinge umzusetzen, die notwendig sind?“

Bleiben wir mal beim Arbeitsmarkt. Ich würde das gerne mit dem Vorjahr vergleichen, wobei man dazu sagen muss, das Vorjahr 2019 war ja ein extrem gutes Jahr, eigentlich. Es war noch Hochkonjunktur, die vielleicht ein bisschen abgenommen hat, aber natürlich nicht zu vergleichen mit dem heurigen Jahr. Aber wenn man es vergleicht, dann sieht man, wir haben jetzt allgemein um 28 % höhere Arbeitslosigkeit. Und wenn wir genau hinschauen, dann sehen wir, dass die Langzeitarbeitslosigkeit schon beinahe um die Hälfte gestiegen ist. Und das, obwohl ja eigentlich die klassischen Corona Arbeitslosen da per Definition noch gar nicht dabei sind. Weil man muss ja – glaub ich – ein Jahr lang arbeitslos sein, um als langzeitarbeitslos zu gelten. Trotzdem haben wir schon diesen Anstieg. In Zahlen sind das 68.000 Langzeitarbeitslose plus 110.000 Arbeitslose, die 50+ sind, wo wir ja auch wissen, dass die am Arbeitsmarkt nicht die allerbesten Chancen haben. Was braucht es denn jetzt? Oder, was hätte es denn schon gebraucht, um hier sinnvoll gegenzusteuern?

Also das ist wirklich einer der Bereiche, wo man sich am Arbeitsmarkt die größte Sorge machen muss. Die Langzeit-Beschäftigungslosen, viele von ihnen älter und viele mit gesundheitlichen Beeinträchtigungen. Warum ist das mit so großer Sorge verbunden? Weil die Menschen, wenn man sich nicht frühzeitig um sie kümmert, wenn sie arbeitslos werden, sie möglichst früh wieder in Beschäftigung bringt, verlieren sie nicht nur Qualifikationen, sondern auch die Umstände werden immer schwieriger. Also wenn man mal sechs oder zwölf Monate arbeitslos ist, dann wird die Bewerbung, die man an einen potentiellen Arbeitgeber schickt, einfach weggeworfen und gar nicht angeschaut, weil die Kriterien nicht passen. Die Gefahr ist sehr groß, dass diese Menschen nie wieder in den Arbeitsmarkt zurückkommen. Und das bedeutet dann einerseits Armut für die Betroffenen. Mehr als die Hälfte aller Langzeit-Beschäftigungslosen sind armutsgefährdet.

Übrigens auch ihre Familien. Also 60 % aller Kinder, die in langzeitarbeitslosen Haushalten leben, sind selber armutsgefährdet. Das bedeutet Kinderarmut, wenn wir Langzeitarbeitslosigkeit nicht bekämpfen. Es bedeutet gesundheitliche Beeinträchtigungen. Es bedeutet fürs Budget Kosten langfristig, wenn die arbeitslos bleiben und nicht in Beschäftigung sind. Und es bedeutet für die Wirtschaft fehlende Fachkräfte. Also es ist wirklich ein enormes Problem. Arbeitslosigkeit muss man verhindern, wenn sie entsteht. Also möglichst frühzeitig wieder vermitteln, qualifizieren. Aber jetzt haben wir das Problem, dass eben so viele zehntausende Menschen langzeit-beschäftigungslos sind, die nicht einfach wieder zurückfinden. Und da haben wir an sich ein bewährtes Instrument, das leider aus rein parteipolitisch taktischen Manövern sozusagen…

Das war die Aktion 20.000…

Das war die Aktion 20 000. Die war sehr, sehr erfolgreich. Bei der ist es gelungen, Langzeit-Beschäftigungslose zunächst in gemeinnützige kommunale Beschäftigung zu bringen. Manche von ihnen haben es dann auch wieder geschafft in die reguläre Beschäftigung, also ein sehr positives Instrument. Und das darf nicht gemacht werden, weil es irgendwie eine andersfarbige Regierung eingeführt hat. Es ist völlig absurd. Das ist auch positiv evaluiert vom IHS. Genau diese Maßnahme müsste man wieder setzen. Man muss es ja nicht so nennen, wenn der Titel sozusagen das Problem ist. Man kann es ja irgendwie anders auch benennen. Aber Menschen zu helfen, die es nicht von alleine wieder in den Arbeitsmarkt zurückführen, das wäre eine der nobelsten Aufgaben der Arbeitsmarktpolitik.

Wie schaut das von der Kostenseite aus? Auf der einen Seite würde Arbeitslosengeld bezahlt werden, auf der anderen Seite müsste dann ein Gehalt bezahlt werden?

Also grundsätzlich ist es so, wenn jemand in so ein Programm wie die Aktion 20.000 kommt, dann bekommt man einen kollektivvertraglichen Lohn damit, von dem man auch leben kann. Und das kostet natürlich dem Staat einiges. Auf der anderen Seite entfallen die Arbeitslosengelder und die Menschen, die in Beschäftigung sind, zahlen wieder Sozialversicherungsbeiträge und Steuern. Wir haben so eine Faustregel, dass ein Langzeit-Beschäftigungsloser in einer öffentlich geförderten Beschäftigung netto, also per Saldo etwa 6.000 bis 7.000 Euro kostet. Das heißt jetzt umgerechnet auf die etwa 30.000 Langzeit-Beschäftigungslosen, die wir jetzt mehr haben als im Vorjahr, dass wir etwas mehr als 200 Millionen Euro bräuchten, um die Covid Langzeit-Beschäftigungslosen sozusagen in kommunale oder gemeinnützige Beschäftigung zu bringen. Das wäre es auf jeden Fall wert, glaube ich. Bei einem Budget, was 70, 80 Milliarden ausmacht, sind 200 Millionen nicht viel. An den zusätzlichen Arbeitsmarktmitteln, die jetzt im Budget 2021 drin stehen, da wäre es aber die Hälfte dieser 400 Millionen, die jetzt drinnen stehen. Das zeigt schon, dass die Mittel zwar viel sind, aber völlig unzureichend sind.

Ich würde gern auf ein anderes Detail noch eingehen und zwar auf die Jugendarbeitslosigkeit. Wir haben momentan die Situation, um jetzt konkret die Lehrlinge herzunehmen, dass wir in Wien eine deutliche, große Lücke haben an Lehrstellen und in den Bundesländern gibt es offene Lehrstellen. Jetzt hat die Arbeitsministerin Aschbacher gemeint „Naja, dann sollen die Leute doch eben in die Bundesländer gehen.“ Wie ist das zu bewerten? Ist das grad für junge Menschen zumutbar? Ein Wiener, der dann in Salzburg seine Lehre machen muss…

Also grundsätzlich haben wir relativ hohe Flexibilität, auch regional am Arbeitsmarkt, und viele Leute gehen irgendwo hin, um einen Job zu bekommen. Da hängt es wohl eher davon ab, hab ich dort die Wohnung, habe ich einen Kindergartenplatz, und hat auch die Frau oder der Mann sozusagen einen Arbeitsplatz. Ich glaube, bei 15-Jährigen muss man die Situation wohl anders einschätzen. Wir können ja keiner 15-jährigen Wienerin, die hier eine Lehrstelle sucht, sagen „Ja, aber in Innsbruck wäre eine Lehrstelle frei.“ In welcher Welt leben wir eigentlich? Und noch dazu, wo in Innsbruck möglicherweise die Lehrstelle auch gar nicht frei ist, weil viele Lehrstellen in den westlichen Bundesländern im Tourismussektor sind, wo die Lage im Moment sehr, sehr schwierig ist. Aus meiner Sicht ist es so, dass man durchaus den Betrieben helfen kann, wenn sie Lehrstellen bereitstellen. Wir brauchen auch mehr überbetriebliche Lehrstellen. Das ist an sich ein vernünftiges und gut funktionierendes Instrument. Aus meiner Sicht ist es aber immer so, vor allem bei den 15- bis 18-Jährigen: Wenn dort Lehrstellen oder Arbeitsplätze fehlen, ist die Alternative IMMER mehr Ausbildung. Das heißt, wir müssen auch daran denken, dass wir in einer so schwierigen Arbeitsmarktlage für Jugendliche einfach mehr Schulplätze brauchen. Und da hat die Regierung auch irrsinnig viel versäumt. Jetzt ist Oktober und wir wissen seit April, Mai, dass das Problem besteht. Also warum haben wir nicht in den weiterführenden Schulen jetzt 5.000 oder 10.000 Schulplätze mehr? Warum haben wir nicht in den Fachhochschulen viel mehr Plätze? Hier sind wirklich enorme Versäumnisse.

Gerade in Krisen kann man ja bei jungen Menschen beobachten, dass die es besonders schwer haben, dann Arbeit zu finden. Oft sind sie jetzt schon in einer prekären Arbeit, die dann vielleicht einfach aufgelöst wird. Oder sie haben viel weniger Jobangebote, wenn sie ihre Ausbildung abgeschlossen haben. Was wären denn da die wichtigsten Maßnahmen, um so eine Art „Verlorene Generation“ zu verhindern?

Also langfristig werden das die größten Covid Kosten sein, die „Verlorene Generation“ oder junge Leute, die einfach im Moment verschwinden, die keine Lehrstelle bekommen, auch keinen Ausbildungsplatz haben und irgendetwas machen, und kein Mensch weiß, was die tun. Das hat langfristig verheerende Folgen für die gesamte Erwerbskarriere. Prekäre Beschäftigung, verlorene Generation. Und gerade für diese Jugendlichen, die es oft nicht so einfach haben, weil der familiäre Hintergrund vielleicht nicht so positiv ist, die müssen sich wohl auf die Gesellschaft verlassen können. Das ist eine Bringschuld, finde ich, der Gesellschaft, denen zu helfen und denen jetzt auch sozialarbeiterische Maßnahmen angedeihen zu lassen, ihnen zu helfen, ihnen einen Job zu finden, in eine Ausbildung zu kommen, in der Schule das nocheinmal zu versuchen. Also das ist wirklich eine essenzielle Aufgabe der Gesellschaft, und das ist nicht die Schuld – unter Anführungszeichen – der 15-Jährigen, die nicht in Arbeitsmarkt und Gesellschaft finden.

Ein ganz wichtiger Player im Arbeitsmarkt ist natürlich das Arbeitsmarktservice. Jetzt hat Türkis-Blau 2018 für 2019 die Mittel des AMS um etwa 25 % reduziert – unter dem Argument der Hochkonjunktur – und dass es eben weniger Arbeitslose gibt, die es zu betreuen gilt. Jetzt soll es eine Arbeitstiftung geben, die mit 700 Millionen Euro dotiert ist. Und zusätzlich soll das AMS mehr Personal bekommen. Ist das AMS damit ausreichend gut aufgestellt für diese Krise?

Das AMS ist jetzt wirklich eine Schlüsselinstitution in dieser Krise, weil die haben die Aufgabe, Menschen aus Branchen, wo die Zukunftsaussichten schlecht sind – wie im Tourismus – zu qualifizieren, in die Zukunftsberufe – in der Pflege oder im technischen Bereich – wo auch immer, ganz wichtig. Die haben die Aufgabe, sich um Jugendliche zu kümmern, um die Langzeit-Beschäftigungslosen zu kümmern. Und das bei einer Arbeitslosigkeit, die explodiert ist. Wir haben jetzt wirklich Massenarbeitslosigkeit. Das AMS ist auch nach dieser Aufstockung deutlich unterdotiert, insbesondere auch was die Zahl des AMS Personals selber betrifft. Also wir bräuchten zu den angeblich 500 mehr, die es im Moment gibt – in Wahrheit sind es nur 250 mehr – mindestens noch einmal diese 250 Dienststellen, wenn nicht mehr noch dazu. Selbst wenn diese optimistischen Prognosen, dass die Wirtschaft jetzt wieder anzieht und jetzt dann wieder Jobs entstehen, zutrifft, dann muss die wichtigste Aufgabe jetzt sein, die Arbeitslosen, die durch Covid arbeitslos wurden, auf diese neuen Stellen zu vermitteln. Und rein für die Vermittlung braucht man schon viel mehr Personal, geschweige denn die Konzeption der ganzen Qualifizierungsprogramme, und die Begleitung der Qualifizierungsprogramme…

Und es findet ja auch unter ganz anderen Rahmenbedingungen statt, mit den Einschränkungen, mit den Tele-Beratungen, eine ganz andere Situation als vorher…

Völlig andere Situation, das heißt auch Herausforderung für die Institution selber. Das heißt, wir brauchen auf der einen Seite mehr AMS Personal, nach wie vor. Wir brauchen aber auch viel mehr Geld für arbeitsmarktpolitische Maßnahmen.

Eine Maßnahme, die von den Gewerkschaften vehement gefordert wurde und auch von der AK, ist die Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf 70 %. Warum wäre diese Maßnahme aus Ihrer Sicht so wichtig?

Die Arbeitslosen sind wahrscheinlich eine der Gruppen, die die stärksten Krisenlasten trägt. Wenn man arbeitslos wird, fällt man auf etwas mehr als die Hälfte des Einkommens zurück. Das heißt, es ist schon aus rein sozialen Gründen sinnvoll, diesen Menschen zu helfen, weil man Armut verhindern will. Wenn Leute dann länger als sechs Monate arbeitslos sind oder länger als zwölf Monate, ist die Armutsgefährdung so hoch. Und da hilft der monetäre Transfer. Das darf nicht das einzige sein. Wir müssen schauen, dass wir die Leute wieder in Beschäftigung bringen. Aber in der Zeit, wo sie arbeitslos sind, hilft der monetäre Transfer. Aber es ist natürlich auf der anderen Seite auch aus gesamtwirtschaftlichen Überlegungen einsichtig, dass das sinnvoll wäre, weil die Leute, die ein so niedriges Einkommen haben, geben natürlich das gesamte verfügbare Einkommen wieder aus, um Güter und Dienstleistungen zu kaufen. Das heißt, das ist sozusagen das beste Konjunkturprogramm für die Dienstleister und für die kleinen Gewerbebetriebe. Und deshalb ist es so sinnvoll, auch aus gesamtwirtschaftlichen Überlegungen, wiewohl ich glaube, dass der soziale Aspekt im Mittelpunkt stehen muss.

Also auf der einen Seite kann damit der Staat die Konsumnachfrage stabilisieren. Auf der anderen Seite hat der Staat natürlich noch andere Möglichkeiten, die Wirtschaft anzukurbeln, wie man so schön sagt. Das wäre, mit Investitionen Impulse zu setzen. Wo sollte Österreich denn jetzt genau investieren? Und ist das im Budget in der Form berücksichtigt?

Also ich glaube, das liegt auf der Hand, dass man im Wesentlichen in zwei Zukunftsbereiche investieren muss. Das eine ist, wir wissen, dass wir langfristig einen steigenden Bedarf haben an Gesundheits- und vor allem Pflegeleistungen. Die Gesellschaft wird älter. Wir wollen auch, dass im Alter Arm und Reich weiterhin gute Versorgung haben im Sozialstaat. Wir wissen auch aus internationalen Vergleichen, dass wir im Pflegebereich enormen Ausbaubedarf haben. Und gerade in einer Krise, wo auch der Arbeitsmarkt schlecht ausschaut, in diesen Bereich zu investieren, wo ja auch Jobs entstehen – herausfordernde, aber hoffentlich auch erfüllende Jobs – in dem Bereich zu investieren, ist ganz wichtig. Und bei den sozialen Dienstleistungen ist es nicht nur Gesundheit und Pflege, sondern natürlich auch der Bereich Bildung im weiteren Sinn. Damit meine ich jetzt nicht nur mehr Lehrerinnen und Lehrer, sondern wir brauchen auch in den Ganztagsschulen viel mehr Freizeitbetreuung.

Wir brauchen Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen, die den Kindern helfen. Wir brauchen mehr Verwaltungspersonal, Bildung als eine Investition in die Zukunft. Das scheint mir der eine Sektor zu sein, der sozialstaatliche, und der andere ist auch nicht überraschend: Wir wissen, wie groß die Herausforderungen sind, um die Klimaziele zu erreichen. Österreich, wenn es so weitergeht, wird die selbst gesteckten Ziele und auch die Ziele, für die wir uns verpflichtet haben, nicht erreichen können. Das heißt, wir müssen viel mehr in den öffentlichen Verkehr investieren. Das ist die Bahn. Das ist das Bussystem. Das sind auch in den Städten die Straßenbahnen und die U-Bahnen. Das ist aber auch der Bereich Radverkehr, Radinfrastruktur, Elektromobilität. Die ganze Frage der Energiegewinnung, Energienutzung, thermische Sanierung und so weiter und so weiter. Also enormer Investitionsbedarf. Zig Milliarden wahrscheinlich…

… was auch wieder Jobs bringt…

…wo die Jobs der Zukunft entstehen werden, keine Frage. Und wenn man sich überlegt, dass der Staat sich jetzt mit Negativzinsen verschuldet und gleichzeitig so hohe Renditen gewissermaßen hätte seiner Klimainvestitionen, weil wir damit das Klimaproblem vielleicht in den Griff bekommen können. Es ist ja völlig absurd, wenn man jetzt hier nicht investiert. Auch aus rein betriebswirtschaftlichen Überlegungen ist das klar.

Es gab ja im türkis-grünen Regierungsprogramm – das ist unter ganz anderen Voraussetzungen verhandelt worden, ist schon klar – da war eine Klima-Milliarde vorgesehen. Wo ist die jetzt hin?

Ich glaube, dass der Klimabereich in dem Regierungsprogramm eine der großen Stärken war. Es ist natürlich so, dass diese Dinge brauchen, bis man sie organisiert. Denken wir nur an dieses 1-2-3 Österreich Ticket, da ist natürlich enormer Handlungsbedarf mit den Gemeinden, mit den Bundesländern und so weiter. Es ist im Moment jetzt unmittelbar nach der Budgetrede – und erst einige Stunden haben wir sozusagen die Unterlagen in der Hand – ein bisschen schwer zu sehen, ob da wirklich viel passiert. Also im Budget selber sehe ich jetzt für die ÖBB z.B. nicht sehr viel an zusätzlichen Ausgaben. Auf der anderen Seite wird gleichzeitig offensichtlich dieser neue ÖBB Rahmenplan für die nächsten Jahre beschlossen, und den muss man sich jetzt genauer anschauen. Aber ich habe den Eindruck, hier bemüht man sich sehr. Aber es ist ein bisschen schwierig, die Dinge wirklich sozusagen auf den Boden zu bringen, und den öffentlichen Verkehr in diesem Fall wirklich massiv auszubauen.

Ganz konkret jetzt gefragt: Wenn Sie sich drei Maßnahmen aussuchen dürften, die Sie selbst ins Budget hineinschreiben. Welche wären das?

Ja, da besteht die Kunst darin, aus hunderten Überlegungen sozusagen drei konkrete Maßnahmen zu fordern. Aber ich glaube, angesichts der enormen Arbeitsmarktkrise ist der erste Punkt: Mehr Geld, um Langzeit-Beschäftigungslosigkeit zu verhindern und um Jugendarbeitslosigkeit wirklich vollständig abzuschaffen. Wir brauchen null Jugendarbeitslosigkeit. Das wäre der erste Punkt.

Ich glaube, der zweite Punkt, wo man ein bisschen Klima und Investitionen und soziale Dienstleistungen zusammenbringen kann: Es ist viel zu wenig Geld da für die Gemeinden. Die Gemeinden haben wirklich enorme Einnahmenausfälle aufgrund der Krise und stellen deshalb weniger Personal ein und investieren weniger. Die Gemeinden brauchen mehr Geld und das brauchen sie vom Bund. Also mindestens eine zusätzliche Gemeinde-Milliarde, damit die Gemeinden investieren. Davon profitiert die Bevölkerung unmittelbar auch.

Und das Dritte: Das ist einfach sozusagen eine Frage der Gerechtigkeit, die Hauptlast der Krise tragen die Arbeitslosen, die kleinen Selbstständigen. Die Milliardäre und Milliardärinnen sind nicht betroffen von der Krise. Und das hat jetzt nicht direkt mit Budget oder Krisenkosten selber zu tun, aber für mich ist es gesellschafts- und demokratiepolitisch essentiell, dass wir progressive Milliardärssteuern in Budgets drinnen haben, weil dieser enorme Einfluss der Milliardärinnen und Milliardäre auf unsere Gesellschaft wirklich schädlich ist, und das kann man nur durch höhere Steuern verringern.

Arbeit&Wirtschaft: Und die sind ja zum Teil auch reicher geworden jetzt, muss man sagen…

Die haben zum Teil gewonnen bei den Aktienkursen, zum Teil aber auch wieder verloren, weil vielleicht das Unternehmen weniger wert wurde. Aber mein Mitleid mit den Milliardärinnen hält sich in ganz engen Grenzen.

Zum Abschluss würde ich gerne noch über ein Schmankerl sprechen, das uns der Finanzminister in der Budgetrede aufgetragen hat. Er ist ja Philosoph, und ich finde, das ist schon fast ein philosophisches Zitat. Er hat gesagt: „Kurzfristig funktioniert Keynes, langfristig muss es Hayek sein.“ Was sagt denn da der Wirtschaftswissenschaftler zum Philosophen?

Also wenn es in einer Budgetrede vorkommt, dann möchte ich das so interpretieren: Es ist offensichtlich, dass wir Keynes in der Krise brauchen. Der Staat muss investieren, muss Arbeitslosigkeit bekämpfen. Das liegt auf der Hand. Was Friedrich August von Hayek in einer Budgetrede verloren hat, ist mir schleierhaft. Denn wenn Hayek sozusagen zum Budget Stellung nehmen würde des Finanzministers, dann würde er sagen: „Also hier kann man auf der Ausgabenseite praktisch zwei Drittel völlig wegstreichen. Den gesamten Sozialstaat, die soziale Pensionsversicherung, die Arbeitslosenversicherung, im Bildungssystem, alle Maßnahmen, die auf Chancengleichheit ausgerichtet sind. Das kann man alles streichen. Das erledigt der Markt.“ Und wenn das langfristig richtig sein soll, dann frage ich mich, was das sozusagen, was der Plan des Finanzministers ist. Also der Hayek’sche Hass auf den Sozialstaat und die Ablehnung der Demokratie schlussendlich durch Hayek, ich glaube nicht, dass das im österreichischen Parlament irgendetwas verloren hat.

Und das würde dazu führen, dass wir im Endeffekt immer dann die Kosten des Marktversagens tragen müssen, wenn das so funktionieren soll.

Ja, Hayek hatte – aus meiner Sicht durchaus, kann man nachvollziehen, dass er den Nobelpreis bekommen hat – er hat erkannt, welche Entdeckungskraft in den Märkten steht. Aber er wollte nie erkennen, was die Probleme auch der Märkte sind, und dass es einen starken Sozialstaat und eine starke Zivilgesellschaft braucht, um Märkte zu zähmen und einzubetten. Das wollte er nie hören. Und er war sogar bereit, für die freie Marktwirtschaft die Demokratie und den Sozialstaat zu opfern. In dem Sinn ist er ein Bösewicht.

Ein schönes Schlusswort! Vielen Dank für das Gespräch.

Über den/die Autor:in

Michael Mazohl

Michael Mazohl studierte Digitale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Im ÖGB-Verlag entwickelte er Kampagnen für die Arbeiterkammer, den ÖGB, die Gewerkschaften und andere Institutionen. Zudem arbeitete er als Journalist und Pressefotograf. Drei Jahre zeichnete er als Chefredakteur für das Magazin „Arbeit&Wirtschaft“ verantwortlich und führte das Medium in seine digitale Zukunft. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl erscheint ihr Buch „Klassenkampf von oben“ im November 2022 im ÖGB-Verlag.

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