Lehre mit Matura: hoher Druck, viel Potenzial

Die Berufsmatura soll die Lehre attraktiver machen und die Bildungsmobilität erhöhen. Das funktioniert – wenn die Rahmenbedingungen passen.
Wenn sich Pauline einen Tag freinimmt, dann meist nicht, um sich zu erholen. Die 19-Jährige macht die Ausbildung zur Pharmatechnologin bei einem Pharmaunternehmen in Tirol – und gleichzeitig die Matura. Ihre Urlaubstage nutzt Pauline, die ihren vollen Namen nicht in den Medien lesen möchte, wahlweise um zu lernen oder um Prüfungen zu schreiben. Ihre Entscheidung, Lehre und Matura gleichzeitig zu absolvieren, bereut sie trotzdem nicht.

Pauline wohnt in Deutschland und ging dort zur Schule. Der Grund, warum sie werktags von Bayern nach Tirol pendelt, ist ein einfacher: „Für mich war das eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung: Dann habe ich nach vier Jahren Lehre und Matura!“ Ein vergleichbares Modell gibt es in Deutschland nicht, hier heißt es entweder Lehre oder Matura. Und noch mal ein paar Jahre ohne Einkommen die Schulbank zu drücken kam für Pauline nicht infrage.

Für mich war das eine reine Kosten-Nutzen-Rechnung: Dann habe ich nach vier Jahren Lehre und Matura!

Pauline

Die Lehre mit Matura, offiziell „Berufsmatura: Lehre mit Reifeprüfung“, ist in Österreich seit 2008 möglich und steht allen Lehrlingen offen. Weder für Vorbereitungskurse, Unterlagen oder Prüfungen fallen Kosten an. Um die Berufsmatura erfolgreich abzuschließen, müssen die Teilnehmer*innen in Deutsch, Mathematik, einer lebenden Fremdsprache und einem ihrem Lehrberuf entsprechenden Fachbereich eine Prüfung absolvieren. Die Idee dahinter: Lehrlingen soll ohne finanziellen Mehraufwand der Zugang zu Fachhochschulen oder Unis ermöglicht werden.

Krise zulasten der Jungen

Eine Evaluierungsstudie aus dem Jahr 2016 zeigt, dass vielen Absolvent*innen dadurch ein Bildungsaufstieg ermöglicht wurde, der ihnen andernfalls verwehrt geblieben wäre. Dabei ist die Lehre mit Matura laut Studie auch ein Beitrag zur Frauenförderung: In Relation zur Gesamtzahl befinden sich überdurchschnittlich viele Frauen unter den Absolvent*innen.

„Ich komme aus einer Arbeiterfamilie“, sagt Selina Pargfrieder nicht ohne Stolz. Dass sie sich entschloss, nach Mittelschule und Polytechnischer Schule noch die Matura zu machen, sei auch für ihre Familie überraschend gekommen. „Einerseits hatte ich schon als Schülerin irgendwie im Hinterkopf, vielleicht noch mal studieren zu wollen, aber andererseits wollte ich arbeiten, Geld verdienen“, erinnert sich Selina. Mit 15 begann die heute 18-Jährige ihre Lehre zur Industriekauffrau bei der voestalpine Stahl in Linz, nächstes Jahr im Herbst will sie ihre Matura abschließen.

Einerseits hatte ich schon als Schülerin irgendwie im Hinterkopf, vielleicht noch mal studieren zu wollen, aber andererseits wollte ich arbeiten, Geld verdienen.

Selina

Aus vergangenen Wirtschafts- und Arbeitsmarktkrisen ist bekannt, dass Jugendliche und junge Erwachsene von wirtschaftlichen Abwärtstrends besonders betroffen sind. Junge arbeiten häufiger in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen, und Unternehmen fällt es oft leichter, sich von Mitarbeiter*innen zu trennen, in die sie noch nicht so viel investiert haben. Die Corona-Krise scheint diese Tendenz zu bestätigen: Ende Februar 2021 waren laut AMS etwa 9.600 unter 25-Jährige mehr arbeitslos gemeldet oder in Schulungen als im Jänner des Vorjahres. Außerdem sind 6.500 Jugendliche und junge Erwachsene derzeit auf der Suche nach einer Lehrstelle, auch weil Unternehmen aufgrund der Krise Stellenangebote zurückziehen oder Stellen nicht nachbesetzen.

Abschluss mit hohen Anforderungen

Er zitiere Bundeskanzler Sebastian Kurz zwar nur ungern, aber die Lehre mit Matura vereine „das Beste aus zwei Welten“, erklärt Christian Hofmann, Bundesjugendsekretär der GPA. Wenn eine praktische Ausbildung die Möglichkeit miteinschließt, später noch an einer Hochschule zu studieren, „erhöht das die soziale Durchlässigkeit und die Bildungsmobilität enorm“, betont Hofmann. Doch aus seiner Erfahrung als Bundesjugendsekretär und Gesprächen mit Lehrlingen weiß Hofmann nicht nur Positives über die Berufsmatura zu berichten. „Wir haben die Problematik einer Dreifachbelastung: Arbeit im Betrieb, Berufsschule und Matura.“

Wir haben die Problematik einer Dreifachbelastung: Arbeit im Betrieb, Berufsschule und Matura.

Christian Hofmann, Bundesjugendsekretär der GPA

Diese Dreifachbelastung kennt Industriekauffrau Selina nur zu gut. Bis zu ihrem Lehrabschluss im vergangenen Jahr besuchte sie einmal pro Woche die Berufsschule, zweimal wöchentlich belegt sie derzeit abends oder samstags einen Maturakurs. „Mein Leben besteht aktuell größtenteils aus Arbeiten, Lernen, Essen und Schlafen“, klagt auch Pauline, die zur Zeit des Gesprächs für ihre Lehrabschlussprüfung lernt. Für Hobbys und Freund*innen bleibe oft kaum Zeit.

Diese Erfahrungen schlagen sich auch in der Statistik nieder: Zwar steigt laut dem Institut für Bildungsforschung und Wirtschaft die Zahl der Absolvent*innen konstant an – aber laut einer Schätzung des Instituts schließt nur etwa ein gutes Drittel der Teilnehmer*innen die Berufsmatura auch tatsächlich ab.

Matura in Lehre integrieren

Das liegt auch daran, dass es Lehrlingen in vielen Branchen und Unternehmen diesbezüglich nicht gerade leicht gemacht wird. Pharmatechnologin Pauline muss allein sechs Urlaubstage für Maturaprüfungen aufwenden. „Ich mache Matura und Lehre, aber das läuft nebeneinander – so, als hätte beides nichts miteinander zu tun“, beklagt sie. Bei voestalpine Stahl ist man entgegenkommender: Anders als Pauline bekommt Selina gemäß Kollektivvertrag fünf Tage und aufgrund einer Betriebsvereinbarung fünf zusätzliche Tage bezahlten Urlaub zur Prüfungsvorbereitung. Selina macht die Lehre mit, nicht neben der Matura.

Wir wollen Betriebe, die das derzeit nicht anbieten, dazu bringen, die Matura in die Arbeitszeit zu integrieren.

fordert Christian Hofmann

Hofmann fordert, dass Prüfungsvorbereitung und Maturakurse unbedingt Teil der Arbeitszeit sein müssen. „Wir wollen Betriebe, die das derzeit nicht anbieten, dazu bringen, die Matura in die Arbeitszeit zu integrieren“, betont der GPA-Bundesjugendsekretär. Diese Möglichkeit müsse in den Kollektivverträgen festgeschrieben werden, wie das derzeit etwa in der Metallindustrie der Fall ist. „In der GPA sind wird derzeit sehr darum bemüht, dass auch in weitere Kollektivverträge reinzureklamieren“, betont Hofmann.

Dabei gehe es einerseits darum, die „Dreifachbelastung“ aus Arbeit, Berufsschule und Matura zu entschärfen, und andererseits darum, die Lehre als solche zu attraktivieren. Derzeit würden viele Betriebe über einen – auch demografisch bedingten – Lehrlingsmangel klagen, findet Hofmann, etwa weil Corona-bedingt kaum Messen oder Schnuppertage stattfinden. „Die Möglichkeit, Maturavorbereitung und Prüfungen in die Arbeitszeit zu integrieren, wäre ein gangbarer Weg für Unternehmen, die Lehre insgesamt attraktiver zu gestalten“, erklärt Hofmann. Nicht zuletzt deshalb, weil ein solches Modell vom Staat mit einer 100-prozentigen Förderung bedacht wird.

Rückblickend sei es trotzdem eine gute Entscheidung gewesen, auch wenn die Berufsmatura einiges an Mehraufwand bedeutet, resümiert Pauline: „Vielleicht, wenn ich mir mit 25 oder 30 überlege, ich möchte doch noch mal an die Uni.“ Zu einem ähnlichen Resümee kommt Selina: „Mit 15 triffst du vielleicht nicht immer die besten Entscheidungen für dein Leben – aber das war eine Gute!“

Über den/die Autor:in

Johannes Greß

Johannes Greß, geb. 1994, studierte Politikwissenschaft an der Universität Wien und arbeitet als freier Journalist in Wien. Er schreibt für diverse deutschsprachige Medien über die Themen Umwelt, Arbeit und Demokratie.

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