Von ihrem Büro am Institut für Ökologische Ökonomie blickt Sigrid Stagl direkt ins Grün des Wiener Praters. Topfblumen reihen sich auf der Fensterbank aneinander – Geschenke von Studierenden, deren Abschlussarbeiten die Institutsleiterin an der Wirtschaftsuniversität Wien (WU) begleitet hat. Geschenke, die die Compliance-Regeln nicht verletzen, sagt Stagl.
Die Forscherin war der erste Mensch weltweit, der einen Doktortitel in Ökologischer Ökonomie erlangte. Im Jänner wurde sie zur Wissenschaftlerin des Jahres 2024 gekürt. Stagl ist bekannt von Medienauftritten und aus Interviews – die Klimaökonomin setzt sich für den nachhaltigen Wandel der Wirtschaft ein. Nach dem Gespräch mit ihr spürt man, dass dafür nicht mehr viel Zeit ist.
Arbeit&Wirtschaft: Die EU-Kommission schwächt zentrale Bestandteile des Green New Deal, die USA sind aus dem Pariser Klimaabkommen ausgetreten. Rückt Klimaschutz angesichts wirtschaftlicher Herausforderungen in den Hintergrund?
Sigrid Stagl: Es gab immer schon Wellen der Aufmerksamkeit für Klimaschutz. Es ist unerfreulich, dass das große Momentum, das 2019 und 2020 aufgebaut war, wo auch wirklich Strukturen verändert wurden, von anderen Krisen überlagert wurde – vor allem, weil diese verbunden sind mit der Klimakrise, aber anders wahrgenommen werden, wie etwa die Energiekrise. Hätten wir schon früher auf erneuerbare Energien gesetzt, hätte uns der Anstieg der Gaspreise nicht so getroffen, und wir wären heute nicht so abhängig von Russland.
Außerdem wurde die Aufmerksamkeit auch mit Miss- und Desinformation verschoben. Das ist ein Problem, weil es eine grundlegende Frage aufwirft: Wie geht es mit unserer Demokratie weiter? Um Klimaschutz demokratisch zu betreiben, müssen wir Klima stärker mit sozialen Themen verschneiden. In dem Versuch, Dinge simpel zu halten, hat man sich in der Vergangenheit oft auf die Umweltperspektive fokussiert. Das produziert Widerstand, weil es dann Handlungsempfehlungen gibt, Menschen sollen das und das tun. Das kommt als moralisierend an, auch weil es für manche Menschen Verpflichtungen beinhaltet, die sie nicht einhalten können, weil die Infrastrukturen zum Beispiel nicht bereitstehen oder weil man es sich nicht leisten kann. Die soziale Frage muss die Forschungsagenden und auch die Kommunikation über Klimaforschung mehr beeinflussen.
Um die wissenschaftliche Literatur
über die Klimakrise zu lesen, muss man eine
resiliente Persönlichkeit haben.
Sigrid Stagl, Klimaökonomin
Das von Finanzminister Markus Marterbauer (SPÖ) vorgestellte Budget wurde kritisiert, weil klimaschädliche Subventionen nicht anvisiert wurden, außerdem werden einkommensschwache Haushalte belastet. Was ist Ihre Einschätzung zum Doppelbudget?
Es ist einerseits eine positive Nachricht, dass der Finanzminister ein klares Bekenntnis zu Klima- und Umweltschutz kommuniziert hat. Er hat eine andere Art der Klimapolitik angekündigt, die stärker auf Regulierung, wirksame Standards und weniger auf Förderung setzt. Das ist fiskalisch nachhaltiger, außerdem können wir uns viele der Subventionen, wie wir sie bisher hatten, nicht mehr leisten.
Die vergangene Legislaturperiode war die erste, in der beim Klimaschutz etwas weitergegangen ist, wir haben die Emissionen um 15 Prozent reduziert. Es hat geholfen, dass die Konjunktur schwach war, aber das war auch proaktive, ambitionierte Klimapolitik. Nur: In der vergangenen Regierung wollte ein Teil Klimapolitik machen und der andere Teil nicht. Und deswegen hat man sie so gemacht, dass sie politisch am wenigsten schmerzhaft ist. Entweder, man verlangt den ökonomischen Akteur:innen im Land etwas ab, indem man umweltschädliches Handeln bestraft. Dafür muss man politisches Kapital einsetzen. Die Alternative ist: Man belohnt klimafreundliches Handeln. Dann muss man wenig politisches Kapital einsetzen. So ist man auf den Pfad gekommen, wo alles beanreizt und subventioniert wurde.
Wo hätte strengere Regulierung einen großen Effekt?
Ich erinnere an das Erneuerbare-Wärme-Gesetz, wo bereits ein Vorschlag zum Verbot von fossilen Heizsystemen auf dem Tisch lag. Bis 2040 hätten die Haushalte Zeit gehabt, umzustellen. Aufgrund des politischen Widerstands der ÖVP wurde dann auf das Fördersystem umgeschwenkt, weil man an bestehenden Strukturen und Geschäftsmodellen festhalten wollte. Es gab keine politische Mehrheit für das, was ökonomisch rational war, deswegen wurde eine Klimapolitik gemacht, die teuer war. Eine soziale Abfederung für einkommensschwache Haushalte wäre klarerweise auch beim Gesetzesbeschluss nötig gewesen, aber die Kosten dafür hätten sich in ganz anderen Dimensionen bewegt, als generell staatlich zu fördern.

Sie haben im Standard gesagt: „Die Hoffnung auf nachhaltiges grünes Wachstum ist schön und gut, aber wir beobachten es empirisch nur in beschränktem Ausmaß.“ Wird das grüne Wirtschaftswachstum überschätzt?
Das Problem ist, dass der Zeitraum, den wir haben, um klimaneutral zu werden, zu kurz ist. Meine Sorge ist, dass die Reduktionspfade so ambitioniert sind, dass sich das inklusive Wachstum rein rechnerisch nicht ausgeht. Theoretisch ist es vorstellbar, dass wir fortschrittliche Technologien entwickeln, die zu mehr Effizienz führen, oder Regelwerke finden, die eine breite Gesundheitsinitiative in der Bevölkerung bewirken, sodass alle Menschen plötzlich zu Fuß gehen und Rad fahren. Es ist vorstellbar, dass „social tipping points“ erreicht werden, wo gravierende Veränderungen schnell passieren. Ob uns das rechtzeitig gelingt, weiß ich nicht – ich hoffe es sehr.
316 Wissenschaftler:innen rufen die Regierungsverhandler:innen dazu auf, Klima- und Umweltpolitik als integralen Bestandteil ihrer Arbeit zu verstehen und konsequent weiterzuentwickeln. www.wu.ac.at/fileadmin/wu…
— sigridstagl.bsky.social (@sigridstagl.bsky.social) 15. Januar 2025 um 10:03
Sie forschen auch zur Postwachstumsökonomie, bei der die Wirtschaft nicht auf das ewige Anwachsen von BIP und Kapital ausgerichtet wäre. Wie funktioniert das?
Das mit dem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts ist wie bei einem Hürdenlauf. Mit jedem Mal wird die Hürde ein bisschen höher. Bei der Postwachstumsökonomie geht es darum, über wirtschaftliche und menschliche Entwicklungen zu sprechen und nicht vornehmlich über das BIP. Das bedeutet aber nicht, dass das BIP sinken muss. Es ist nur nicht der Fokus der Aufmerksamkeit.
Wir fokussieren auf gesellschaftliche Ziele und menschliche Bedürfnisbefriedigung. Das ist der Job der Wirtschaft – das und gleichzeitig Freiheit zu schaffen. Wir als Gesellschaft müssen gemeinsam die Bedingungen schaffen, damit so viele Menschen wie möglich die Freiheit haben, das zu tun, was ihnen wichtig ist. Das macht für mich eine Postwachstumsgesellschaft aus.
Denken Sie, ein Übergang in eine Postwachstumsgesellschaft ist möglich ohne einen harten Cut? Es ginge doch um ein völlig neues Wirtschaftssystem.
Interessante Frage: Revolution oder Evolution? Ich glaube, wir haben nicht die Zeit für Revolution. Weil es dringend ist, müssen wir schauen, wie schnell wir eine Evolution hinkriegen. Und wir müssen unterscheiden zwischen Marktwirtschaft und Kapitalismus. Märkte sind nützlich, aber wir müssen sie so verändern, dass sie der Gesellschaft dienen, dass sie umweltfreundlich sind. Das sollte uns doch gelingen. Als Institutionenökonomien bestehen Märkte aus Regeln. Einen unregulierten, freien Markt gibt es nicht, das ist ein Oxymoron. Die Frage ist: Welche Art von Regulierung haben wir?
Das klingt so einfach – woran scheitern wir denn?
An Machtverhältnissen, Allianzen, Institutionen, die historisch gewachsen sind. Wir sehen das auch jetzt beim Budget: Warum haben wir noch immer keine Abschaffung der klimaschädlichen Subventionen? Da stehen gesellschaftliche und ökonomische Interessen dahinter. Das ist enttäuschend, aber wir bleiben dran.
Sie selbst wirken zuversichtlich. Reinhard Steurer, Politikwissenschafter und Klimaexperte, hat kürzlich bekannt gegeben, dass er seine Medienarbeit zurückschraubt, da sie nichts bringen würde. Man müsse die Bevölkerung jetzt auf die steigende Instabilität durch die Klimakrise vorbereiten. Macht sich in der wissenschaftlichen Welt Resignation breit?
Ja, sehr. Um die wissenschaftliche Literatur über die Klimakrise zu lesen, muss man eine resiliente Persönlichkeit haben. Aber ich kann mir Resignation nicht erlauben. Wenn jemand in meiner Position, der die Möglichkeit hat, sich gut zu informieren, viel nachzudenken, wenn sogar ich resignieren würde, wäre es nachvollziehbar, dass viele andere aufgeben. Und dann kommt mit Sicherheit das befürchtete Ergebnis raus.

Während: Wenn wir alles tun, was uns möglich ist, haben wir keine Garantie, dass das rauskommt, was wir uns wünschen oder erhoffen – aber wir bewahren zumindest eine Chance darauf. Auch den Gewerkschaften ist die sozialökologische Transformation ein Anliegen.
Was können Sie Betriebsrät:innen mitgeben, die sich für mehr Umweltschutz im Betrieb einsetzen?
Ich habe viel Respekt vor Gewerkschafter:innen und Betriebsrät:innen. Sie haben eine wichtige Funktion im gesellschaftlichen und wirtschaftlichen System inne. Ich hoffe, dass es – einerseits mit Forschungsergebnissen, andererseits auch mit politischen Positionierungen – öfter gelingt, zu zeigen, dass es nicht darum geht, entweder Klimapolitik oder die soziale Frage anzugehen, sondern dass wir, um Klimapolitik zu schaffen, die soziale Frage ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücken müssen.
Um soziale Fragen wie Vermögensverteilung oder Inklusion produktiv angehen zu können, müssen wir die Klima- und Umweltfrage konstruktiv adressieren – denn sonst werden die Vulnerabelsten die sein, die am meisten von der Klimakrise betroffen sein und darunter leiden werden.
Die Klimapolitik ist eine durch und durch soziale Frage. Und diese Message besser rüberzubekommen ist wichtig, weil wir Forscher:innen mit Betriebsrät:innen und Gewerkschafter:innen aus der Umwelt- und Klimapolitik-Perspektive sehr viel gemeinsam haben. Es geht darum, die Lebensgrundlagen aller zu sichern, das gute Leben und gute Arbeiten für alle zu sichern. Also insofern glaube ich, dass es eine gemeinsame Agenda gibt.
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