Kein Grund, bescheiden zu sein!

Evelyn Regner über das Europäische Parlament.
„Wir haben einen Strukturwandel und müssen uns fragen: Was können wir tun, damit Menschen gerne arbeiten? Da liegt jetzt eine Verpflichtung bei den Unternehmen. Sie müssen auch etwas bieten“, so Evelyn Regner. | © Markus Zarahdnik

Inhalt

  1. Seite 1 - „Tax the rich!“
  2. Seite 2 - „Großer Brain- und Menschendrain“
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Imagemäßig oft ein Papiertiger, in der politischen Realität durchaus mit Biss: Wie das Europäische Parlament, als starkes Herz der Demokratie, für die Arbeitnehmer:innen schlägt. Eine Kampfansage von Evelyn Regner, Vizepräsidentin des EP.
Arbeit – Dauerthema im Europäischen Parlament. Wenn die Arbeitsbedingungen auf nationaler Ebene nicht passen, kommt das EU-Parlament ins Spiel. Und es gibt einiges zu tun: Gierflation, prekäre Beschäftigung oder Armut sind die aktuellen Herausforderungen, die das Europäische Parlament beschäftigten. Evelyn Regner, Vizepräsidentin  im EU-Parlament, gibt einen Einblick.

Zur Person
EVELYN REGNER ist sozialdemokratische Abgeordnete und Vizepräsidentin im EU-Parlament. 2015–2019 war sie Leiterin der SPÖ-Delegation, 2019–2022 Vorsitzende des FEMM-Ausschusses für die Rechte der Frau und die Gleichstellung der Geschlechter.

Arbeit&Wirtschaft: Was kann denn auf EU-Ebene für die Rechte von Arbeiter:innen getan werden?

Evelyn Regner: Sehr viel. Das können und müssen wir, wenn die nationale Ebene versagt. Und in Österreich versagt sie.

Inwiefern?

Bei der Teilzeit beispielsweise. Es gibt die Teilzeitrichtlinie der EU, die besagt, dass alle Beschäftigten gleich behandelt werden müssen. Teilzeitbeschäftigung wird überwiegend von Frauen ausgeübt, also müssen wir darauf achten, ob nicht eine indirekte Diskriminierung allein dadurch gegeben ist, wenn Frauen in Teilzeit beschäftigt sind statt in Vollzeit. Wenn wir uns die Löhne anschauen, verdienen Frauen ja nicht nur deshalb weniger, weil sie weniger Stunden arbeiten, sondern auch, weil im Vergleich zu Vollzeitbeschäftigung Teilzeitarbeit an sich schlechter bezahlt wird. Auf europäischer Ebene wurde beschlossen, dass es diese Diskriminierung nicht mehr geben darf, und alle mussten das umsetzen. Wenn jetzt der Arbeitsminister Teilzeitbeschäftigte bestrafen will im Verhältnis zu Vollzeitbeschäftigten, dann ist das eine Diskriminierung. Kurz: Was Arbeitsminister Kocher in den Raum gestellt hat, ist EU-rechtswidrig. Es verstößt gegen die Teilzeitrichtlinie.

In vielen europäischen Ländern ist die massive Nachfrage nach Arbeitskräften ein Problem. Was kann auf europäischer Ebene dagegen getan werden?

Wir haben da einerseits ein demografisches Problem: Das sehen wir im öffentlichen Dienst, beispielsweise bei Lehrer:innen, Polizist:innen oder bei den Wiener Linien. Hier ist es dringend geboten, Anreize zu schaffen, um junge Menschen für diese Jobs zu begeistern. Ein anderer Grund ist Corona. Die Pandemie hat Menschen gelehrt, dass wir Geld brauchen, damit wir unser Leben finanzieren können, aber das Leben eben nicht nur aus Arbeiten besteht, sondern auch darin, Freund:innen zu sehen oder Familie zu haben. Da haben sich schon viele gefragt: Ist es eigentlich okay, wenn ich rund um die Uhr schufte und dabei nicht besonders viel verdiene? Sollte ich nicht ein bisschen weniger arbeiten?

Überdies sehen wir, dass sehr viele Beschäftigte aus anderen Ländern kamen. Gerade im Tourismussektor und in sehr vielen Dienstleistungssektoren sind Menschen, die teilweise sehr schlechte Arbeitsbedingungen geschluckt haben, wieder in ihre Herkunftsländer zurückgegangen, weil auch dort Jobs frei werden. Sie fragen sich dann: Soll ich mir das antun, unter so schlechten Arbeitsbedingungen in Österreich zu leben?

Also die Antwort wäre, bessere Arbeitsbedingungen zu schaffen?

Natürlich. Immer. Genau darum geht es. Wir erleben einen Strukturwandel und müssen uns fragen: Was können wir tun, damit Menschen gerne arbeiten? Da geht es um Arbeitsbedingungen, um Arbeitszeit, um Arbeitswege, um Ausbildung. Das hat sehr viel mit Respekt zu tun, mit Anerkennung der Arbeit, auch mit der Gestaltung des Arbeitsalltags. Da liegt jetzt eine Verpflichtung bei den Unternehmen. Die glauben zum Teil, Arbeitskräfte würden auf den Bäumen nachwachsen. So ist das nicht. Sie müssen ihnen auch etwas bieten.

Haben die Lockdowns nicht auch gezeigt, dass viele Menschen lieber selbstbestimmt von zu Hause arbeiten, ohne dass ihnen permanent über die Schulter geschaut wird?

Das eine ist der Arbeitsdruck, der immer größer wird. Und wenn der Arbeitsdruck besonders groß ist, sind Menschen weder kreativ noch besonders produktiv. Das Zweite ist die Kontrolle. Diese zwei Dinge verstärken bestehende Phänomene und führen dazu, dass Menschen sagen: Das kann und will ich nicht in einem Vollzeitjob bringen.

Die Tatsache, dass Arbeit so dicht geworden ist, liegt auch in der Digitalisierung. Eine Forderung, die in dem Zusammenhang immer wieder im Raum steht, ist Arbeitszeitverkürzung. Wie sehen Sie das?

Ich halte es für unbedingt notwendig, dass wir die Arbeitszeit verkürzen. Gleichzeitig sollte es eine Vier-Tage-Woche geben. Wir haben einen Strukturwandel, wir haben einen sogenannten Arbeitskräftemangel, die Preise schnalzen in die Höhe. Es ist an der Zeit, dass Beschäftigte auch etwas einfordern. Ich sehe keinen Grund, bescheiden zu sein.

Das bringt mich zu dem großen Stichwort Steuergerechtigkeit. Wie sieht ein gerechtes Steuersystem aus?

Bei Steuern muss man vier Elemente beachten: Einkommenssteuer, Körperschaftssteuer, Vermögenssteuer, Erbschaftssteuer. Bei der Körperschaftssteuer haben wir zustande gebracht, dass große Unternehmen, die ja meistens global agieren, Land für Land offenlegen müssen, wo sie ihre Profite erreicht haben. Wenn das ordentlich umgesetzt wird, dann müssen die Unternehmen auch dort Steuern zahlen, wo sie ihre Profite erwirtschaften. Wir haben jetzt auf dieser Grundlage, das ist von Europa ausgegangen, eine globale Mindestkörperschaftssteuer erreicht – zwar nur 15 Prozent, aber wir hätten uns noch vor ein paar Jahren nicht vorstellen können, dass sowas global überhaupt möglich ist. Sehr wichtig sind natürlich auch Vermögenssteuern. Tax the rich! Es geht nicht anders.

Und Finanztransaktionssteuern?

Die Finanztransaktionssteuer ist die sinnvollste Steuer, denn sie besteuert die Richtigen. Wir hatten das auf europäischer Ebene eigentlich schon fast auf Schiene und dann ist es doch nicht zustande gekommen, weil wir nicht genug Stimmen hatten. Es braucht Einstimmigkeit bei Steuerthemen. So wird es aber nie gelingen, Bahnbrechendes zu erreichen. Das Prinzip der Einstimmigkeit, wenn es um das wichtige Zukunftsthema Steuergerechtigkeit geht, gehört dringend weg.

Evelyn Regner über das Europäische Parlament.
Arbeit wird dichter, das Arbeitspensum steigt. Für Evelyn Regner steht fest:
„Wir müssen die Arbeitszeiten verkürzen!“

Wir sitzen gerade im ÖGB, wo an der Fassade ein großes Transparent „Preise runter“ hängt. Was kann auf europäischer Ebene getan werden, um das Leben für alle wieder leistbarer zu machen?

Was wir jetzt gerade sehen, ist auch eine sogenannte Gierflation. Auf der einen Seite ausgelöst durch den Schock des Kriegs, aber auch durch Trittbrettfahrer, die Preise unverhältnismäßig erhöhen. Offenlegung der Preise ist eine wichtige Geschichte. Da muss man sich Kartelle genauer anschauen. Wir sollten viel stärker reinfahren, was die Konzentration der Lebensmittelanbieter:innen betrifft – ein echter Wettbewerb sieht anders aus.

Ebenso relevant ist die Entflechtung bei den Energiepreisen. Warum ist der Preis für Strom aus dem Verbrauch von Wasserkraft so hoch? Warum schnalzt der in die Höhe, was hat das mit mit der Invasion von Putin in der Ukraine zu tun? Das sind Perversionen, die der sogenannte Kapitalismus eingerichtet hat, und da kann man nur laut und deutlich sagen, was die wenigsten hören wollen: Wenn der Markt versagt, müssen wir in den Markt eingreifen. Und der Markt hat versagt. Der Markt regelt eben nicht alles. Also: Eingreifen! Und zwar nicht zugunsten der Energieanbieter, sondern zugunsten der Menschen.

Die Zahl der armutsgefährdeten und armutsbetroffenen Menschen steigt. Warum ist es wichtig, Mindestlöhne auf EU-Ebene umzusetzen?

Weil es ein riesengroßes Gefälle gibt zwischen Ost und West. Die Löhne in den mittel- und osteuropäischen Staaten sind wesentlich niedriger als bei uns. Das führt zu einem großen Brain- und Menschendrain. Arbeitskräfte mit guter Ausbildung gehen aus osteuropäischen Ländern fort, um dann in wesentlich niedrigeren Qualifikationen zu arbeiten, als 24-Stunden-Betreuerinnen oder in einer Skihütte. Sie sind aufgrund der ökonomischen Umstände gezwungen, zu schlechteren Bedingungen zu arbeiten, als ihnen zustünden. Das ist schlecht für die Länder, aus denen sie kommen, aber auch schlecht für die Länder, in denen sie ankommen, weil so natürlich die Löhne nach unten gedrückt werden. Für die Menschen auf beiden Seiten ist es eine Lose-lose-Situation. Gewinner sind die Unternehmer, die den Reibach einstecken.

Ich möchte aber noch etwas anderes betonen: Es geht natürlich ums Geld, aber es geht auch um die gesamte Gesellschaft. Was bedeutet es für Kinder, wenn Eltern weggehen und sie bei den Großeltern aufwachsen? Was macht das mit der Mama, die traurig ist, weil ihr das Kind fehlt? Was macht das mit dem Mann, der auch irgendwo anders arbeitet? Was macht das mit den Menschen, mit ihrem Leben, mit ihrem Wohlbefinden? Und: Was macht das mit Gesellschaften, wenn die mutigsten, die hellsten, die aktivsten, die kräftigsten Köpfe ihr Glück woanders suchen? Mich wundert es nur teilweise, dass wir in vielen osteuropäischen Staaten ein Erstarken von sehr hässlichen Ideologien haben. Es bräuchte den Widerspruch von denen, die schon weggegangen sind. Also wenn wir über Mindestlöhne sprechen, dann geht es um sehr viel mehr als nur um Geld.

Arbeitgeber glauben zum Teil,
Arbeitskräfte würden auf
den Bäumen nachwachsen.

Evelyn Regner, sozialdemokratische Abgeordnete und Vizepräsidentin zum EU-Parlament

Es gibt immer mehr Menschen, die atypisch, prekär und in Scheinselbstständigkeiten arbeiten. Wie kann man dem begegnen?

Der größte Humbug ist, dass digitale Plattformen als neutrale Intermediäre behandelt werden. Plattformen sind keine Intermediäre, die nur vermitteln. Sie verdienen ihr Geld, indem sie arbeiten lassen. Plattformen sind, und das sage ich laut und deutlich, Arbeitgeber. Dementsprechend haben sie Fürsorgepflicht zu respektieren, ebenso alle Rechte des Arbeitnehmer:innenschutzes. Nur ist das aktuell in den nationalen Rechtsordnungen nicht widergespiegelt. Deshalb ist die EU gefragt. Wir haben zur Plattformarbeit bereits abgestimmt, aktuell verhandeln wir mit den Mitgliedsstaaten. Wenn alles wie geplant kommt, dann muss die Plattform den Beweis erbringen, dass die Person tatsächlich keine Arbeitnehmerin oder kein Arbeitnehmer ist, sondern ein Unternehmen mit allen unternehmerischen Eigenschaften. Die Beweislast wird also umgedreht. Das ist eine kleine Revolution! Beschäftigte von Plattformen sind dann Arbeitnehmer:innen, haben Urlaubsanspruch, geregelte Arbeitszeiten und sind krankenversichert.

Leider ignorieren Nationalstaaten Richtlinien manchmal. Es gibt auch für Österreich zwei Mahnschreiben in Bezug auf die Work-Life-Direktive. Was beinhaltet die Richtlinie?

Mindeststandards, sehr bescheiden für österreichische Verhältnisse. In Österreich ist alles aus der Richtlinie umgesetzt, außer die Väterkarenz. Wenn Österreich sie nicht umsetzt, gibt es eine Klage beim Europäischen Gerichtshof und Österreich wird verurteilt werden und ziemlich viel Geld zahlen. Steuergeld! Und die Verpflichtung umzusetzen bleibt aufrecht.

In Österreich gibt es im Moment zwei Initiativen zu einem Lieferkettengesetz. Was tut sich auf EU-Ebene?

Wir verhandeln gerade. Der zweite Schritt zum Thema Berichterstattung wurde schon beschlossen, der erste ist fast fertig. Beim zweiten, bereits beschlossenen Teil, geht es darum, dass Unternehmen berichten müssen, denn kein Mensch möchte Aktien haben von einem Unternehmen, das eine Fabrik in Bangladesch hat, die zusammenbricht und wo Menschen sterben. Bei den Lieferketten selbst geht es um Sorgfaltspflichten. Eigentum berechtigt, aber Eigentum verpflichtet auch. Für jeden Menschen im Alltag ist klar: Wenn ich Schaden verursache, dann hafte ich dafür. Unternehmen müssen gefälligst auch zahlen, wenn sie Schäden verursachen. Diese Haftungsregeln kosten natürlich, aber ist es der Gesellschaft zumutbar, dass Unternehmen Profit dadurch erzielen, dass sie Kinder einsetzen zum Arbeiten? Dass sie den Amazonas-Urwald roden, eine Fabrik bauen, die abbrennt und eineinhalbtausend Leute sterben oder verletzt werden? Das muss illegal sein. Das darf in keiner Gesellschaft zulässig sein. Menschenrechte sind nicht verhandelbar.

& Podcast

Evelyn Regner zu Gast bei Beatrice Frasl

www.grossetoechter.podbean.com

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Über den/die Autor:in

Beatrice Frasl

Beatrice Frasl hat Anglistik und Amerikanistik und Gender Studies studiert und ist feministische Kulturwissenschafterin, Podcasterin("Große Töchter", "She Who Persisted"), Lektorin an der Universität Wien und Aktivistin. Sie schreibt aktuell an ihrer Doktorarbeit im Bereich Gender Studies/Popkulturforschung und immer wieder auch für Medien im In- und Ausland, publiziert wissenschaftlich und hält Vorträge und Workshops zu Themen Feminismus, Geschlecht, Genderforschung und Queer Studies.

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