Junge Pflegende: Verbreitete Realität in Österreich

Ein Junge knotet seinem Vater die Schnürsenkel zu. Sein Vater sitzt im Rollstuhl. Symbolbild für junge Pflegende.
Immer mehr junge Pflegende kümmern sich um Angehörige. | © Adobe Stock/Immer mehr junge Pflegende kümmern sich um Angehörige. | © Adobe Stock/Sebastian Röhling
Viele Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene pflegen in Österreich ihre Angehörigen. Die Gruppe an jungen Pflegenden wird oft übersehen oder ignoriert. Eine neue Studie zeigt erheblichen Handlungsbedarf.
Jung zu sein in Österreich kann sehr schön sein. Denn der Lebensstandard ist hoch, der Sozialstaat funktioniert und man lebt in Sicherheit. Alles gute Voraussetzungen, um ohne große Ablenkungen die Schule und die Universität zu besuchen, eine Lehrausbildung zu machen oder in einem spannenden Beruf zu arbeiten. Doch für Hunderttausende Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene ist die Realität eine andere. Anstatt um sich selbst müssen sie sich bereits in jungen Jahren um ihre Angehörigen kümmern. Die Rede ist von den Young Carers (5 – 18 Jahre) und Young (Adult) Carers (bis 29 Jahre). Also junge Pflegende. Sie pflegen oder unterstützen ihre Eltern, Großeltern oder andere Personen, damit diese ihren Alltag meistern können.

Wenig Aufmerksamkeit für junge Pflegende

Forschungen aus dem Jahr 2015 schätzen die Zahl der Young Carers in Österreich auf ungefähr 42.700 Personen. Zahlen zu Young (Adult) Carers lagen bis vor Kurzem keine vor. Eine aktuelle Studie des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung zeigt erstmals, wie viele junge Erwachsene dieser Gruppe zuzurechnen sind. Allein im Bundesland Oberösterreich könnten das, je nach Definition des Begriffs (unter 29 Jahre), bis zu 44.000 Personen sein. Die Studie, die von der Arbeiterkammer (AK) Oberösterreich beauftragte wurde, betont aber auch, dass die Dunkelziffer möglicherweise deutlich höher liegt. Legt man diese Zahl auf ganz Österreich um, würden 264.000 Personen in die Kategorie der Young (Adult) Carers fallen.

Porträt von Heidemarie Staflinger. Sie kritisiert die neue Pflegelehre.
Heidemarie Staflinger fordert mehr Aufmerksamkeit für junge Pflegende.

„Über Young (Adult) Carers wird in der Öffentlichkeit kaum gesprochen. Es gibt keine systemische Hilfe für Jugendliche und junge Erwachsene, die Angehörige betreuen oder pflegen. Wir sprechen hier nicht von einem Randphänomen. Es gibt in Österreich sehr viele betroffene Personen“, sagt Heidemarie Staflinger. Sie ist Referentin für Pflege und Gesundheit in der AK Oberösterreich. Durch die unzureichende Unterstützung vonseiten der Politik seien Mehrfachbelastungen wie die häusliche Pflege, Arbeit und Schule oder Studium für Young (Adult) Carers ein Teil des Alltags. „Zuerst schaue ich, ob mit der Familie alles passt, und dann kümmere ich mich um meine schulischen Sachen. Danach kümmere ich mich um meine Arbeit oder mein Studium oder was auch immer“, schildert eine Studienteilnehmerin die Prioritäten in ihrem Leben.

Plötzlich junge Pflegekraft

Dass jemand zum Young (Adult) Carer wird, kann schleichend oder plötzlich geschehen. Schleichend dann, wenn Kinder oder Jugendliche beispielsweise aufgrund einer voranschreitenden Krankheit eines Familienmitglieds schrittweise immer mehr Betreuungs- oder Pflegeaufgaben für diese Person übernehmen. Plötzlich, wenn durch einen Unfall oder eine abrupt auftretende Krankheit sich das Leben unverhofft ändert und der geliebte Mensch zum Pflegefall wird.

Eine weitere Studienteilnehmerin, die in einer inklusiven Wohngemeinschaft mit ihrem Vater lebt, beschreibt die herausfordernde Situation, gleichzeitig ihr Studium und die Pflege zu meistern. „Das Studium ist so ausgelegt, dass es sehr viel Voraussetzungsketten gibt, dass sehr viele Lehrveranstaltungen zu Zeiten stattfinden, die die Care-Arbeit sehr schwierig machen. Wir haben irgendwie immer wieder Blockseminare an Samstagen gehabt. Es war voll schwierig dann die Zeiten, in denen ich fix für meinen Papa daheim sein musste, zu kombinieren. Die Studierbarkeit für Menschen mit Sorgearbeit ist einfach nicht gegeben“, so die junge Frau.

Junge Pflegende: Gezielte Aufklärung benötigt

Die fehlende Sichtbarkeit von Young (Adult) Carers in der Öffentlichkeit ist ein Problem. Denn nur durch Sichtbarkeit würden die Aufgaben, die die jungen Betreuer:innen tagtäglich zu bewältigen haben, in den Mittelpunkt gerückt. So wäre es möglich, gezielt aufzuklären und Lösungsansätze zu entwickeln. Es gibt zwar Informationskampagnen, Flyer oder auch eine Young Carers App vom Sozialministerium, jedoch sind die bereitgestellten Materialien für die betroffene Zielgruppe nicht immer optimal aufbereitet. „Hier werden oft Textberge aneinandergereiht. Auf die Online-Realität der Jungen, also dass sie sich beispielsweise zu einem großen Teil auf TikTok oder Instagram bewegen und sich dort Informationen holen, wird kaum Rücksicht genommen“, erklärt Staflinger das Problem.

Für Jugendliche und junge Erwachsene ist es außerdem wichtig, regelmäßig Auszeiten von den Betreuungspflichten zu haben und ihrem Alter gerechten Interessen nachzugehen. Also einen Rückzugsort zu haben, bei dem es möglich sein muss, sich um sich selbst zu kümmern. Denn das ist für Entwicklung eines jungen Menschen äußerst wichtig. Eine solche Möglichkeit wünscht sich eine dritte Studienteilnehmerin. „Also es muss aus meiner Sicht einen Ort geben, wo man auf emotionaler Ebene eine Pause davon hat und sagen kann: ‚So, jetzt kümmert sich mal wer um mich.‘ Das ist etwas, das hängt mir noch immer nach.“

Unterstützung für junge Pflegende

Martin Nagl-Cupal, Professor am Institut für Pflegewissenschaft der Universität Wien, hat als einen Arbeitsschwerpunkt Kinder- und Jugendpflege. Er kennt die Herausforderungen der jungen Betreuer:innen ganz genau und weiß, wie Unterstützung aussehen kann. Und dass diese individuell sehr unterschiedlich benötigt wird. Der Experte, der auch an den Forschungen 2015 maßgeblich beteiligt war, betont zusätzlich, dass die zu betreuenden Personen einzubinden sind, um diesen die Möglichkeit zu geben, darüber nachzudenken, wie sie ihre Situation entlastender für die Kinder organisieren können.

„Die Unterstützung kann vielseitig sein. Einerseits, indem man professionelle Unterstützung zulässt. Je nach Anlassfall zum Beispiel mobile Pflege und Betreuung, Familienhilfe, etc. anderseits so Formate wie ‚Familienkonferenzen‘ einführt, bei denen Familien angeleitet werden, über ihre Situation zu reden und ein (erweitertes) Hilfsnetzwerk entwickelt wird.“

Auch bei jungen Pflegenden ist Pflegearbeit Frauensache

In Österreich wird Betreuung und Pflege immer noch oft als weiblich angesehen. Da sieht man auch bei Young (Adult) Carers. Denn es sind zu einem sehr hohen Anteil Mädchen und junge Frauen, die diese Tätigkeiten übernehmen. Hier braucht es ebenfalls ein anderes Denken in der Gesellschaft. „Geschlechter- und Rollenbilder werden in vielen österreichischen Familien noch immer stark mitgegeben. Von Mädchen wird oft schon früh erwartet, dass sie der Oma einen Tee kochen oder die Haare kämmen. Aber von Burschen gibt es diese Erwartungshaltung kaum“, spricht Staflinger ein weitverbreitetes Geschlechterbild an.

Auch Pflegewissenschaftler Nagl-Cupal stimmt zu. „Pflege ist tatsächlich über den ganzen Lebenslauf weiblich, wenn man die Verteilung anschaut und das hat mit Sozialisation zu tun, weil es von Mädchen in manchen Fällen eher erwartet wird.“

Aktionsplan für junge Pflegende

Um die Lebenswelten der Young (Adult) Carers in Österreich zu erfassen, braucht es einen Aktionsplan, wie die AK OÖ betont. Die genauen Zahlen und der Bedarf müssen zuerst erhoben werden, um danach konkrete Maßnahmen zur Sensibilisierung und Entlastung zu entwickeln. Eine Koordinationsstelle für Young (Adult) Carers auf Bundesebene sowie einen Ausbau von professionellen Diensten wie Pflege und Familiensozialarbeit auf den Landesebenen sind laut AK OÖ weitere Maßnahmen, die es benötigt. „Sowohl im aktuellen Regierungsprogramm der Bundesregierung als auch in der Pflegereform 2 (Mai 2023, Anm.) wurden ja Sensibilisierungsmaßnahmen angekündigt. Hier gilt es konkrete Aktionen zu setzen“ ermutigt Staflinger die politischen Entscheidungsträger:innen, den Ankündigungen Taten folgen zu lassen.

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Über den/die Autor:in

Stefan Mayer

Stefan Mayer arbeitete viele Jahre in der Privatwirtschaft, ehe er mit Anfang 30 Geschichte und Politikwissenschaft zu studieren begann. Er schreibt für unterschiedliche Publikationen in den Bereichen Wirtschaft, Politik und Sport.

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