ExpertInnen für den Alltag
Andererseits sind in der Praxis viele BetriebsrätInnen auch Mitglieder und FunktionärInnen in Gewerkschaften und nehmen als solche teil an den KV-Verhandlungen. „Weil sie als ExpertInnen für das alltägliche betriebliche Geschehen ihr Wissen einbringen können“, wie Pernicka erklärt. Und die Berufserfahrung ist ein hohes Gut, wenn theoretische, abgehobene Beschlüsse und Bestimmungen in der Praxis vermieden werden wollen.
Freilich hat der gewerkschaftliche Organisationsgrad österreich- wie europaweit schon bessere Zeiten gesehen. Positiv stechen wie so oft in sozialrechtlichen Fragen die nordischen Länder hervor. In Finnland, Schweden und Dänemark liegt die Gewerkschaftsrate bei etwa 70 Prozent der ArbeitnehmerInnen, die tarifvertragliche Abdeckung umfasst 80 bis 90 Prozent. Allerdings gibt es in diesen Ländern kein Betriebsratsgremium. Schlusslichter bei der Vertretung von ArbeitnehmerInneninteressen durch Gewerkschaften sind – wenig überraschend – die ost- und südosteuropäischen EU-Länder.
Grenzüberschreitende Arbeit
Nun gibt es im Jahr 2019 kaum mehr Dienstleistungen oder Produkte, die ausschließlich in einem Land entstehen. Das Gegenteil ist der Fall. Die von der Wirtschaft vorangetriebene Globalisierung hat Österreich politisch mit der EU-Mitgliedschaft ab 1995 vollzogen. Gegenüber der grenzüberschreitenden Wirtschaftstätigkeit hinken transnationale Bestimmungen hinterher, zumal bei der Bezahlung von ArbeitnehmerInnen.
So etwas wie „europäische Tarifverträge“, die wie nationale KVs etwa prozentuelle jährliche Lohnsteigerungen vorsehen, existieren nicht. „Die Kompetenz der Lohnfestlegung obliegt ausschließlich den nationalen Sozialpartnerorganisationen“, stellt Vera Glassner, Soziologin bei der Arbeiterkammer (AK), gegenüber der Arbeit&Wirtschaft klar.
Ohne verbindliche Grundlage
Die europäischen Sozialpartnerorganisationen (Gewerkschaften, Arbeitgeberverbände) oder auch Europäische Betriebsräte koordinieren sich in ihrer Arbeitspolitik europaweit freiwillig und ohne rechtsverbindliche Grundlage. Sie stimmen sich in „Sozialdialogen“ zu Themen wie Arbeits- und Gesundheitsschutz, berufliche Weiterbildung und Arbeitszeitregulierung ab und vereinbaren mitunter Abkommen. Diese werden von den Sozialpartnerorganisationen in den Mitgliedsländern umgesetzt und sorgen in Ländern mit niedrigem Arbeitsschutzniveau für einheitliche Mindeststandards. Beispielsweise zur Organisation der Arbeitszeit von Seeleuten (1998), Beschäftigten in der Luftfahrt (2000) und der Binnenschifffahrt (2012).
Eine weitere Möglichkeit, Tarif- und Arbeitspolitik grenzüberschreitend zu koordinieren, besteht auf der Ebene „transnationaler Unternehmen“ – durch den Europäischen Betriebsrat (EBR). Der EBR vertritt die Interessen der Beschäftigten aller Unternehmensstandorte in allen Staaten des europäischen Wirtschaftsraums. „Euro-Betriebsräte finden sich deshalb auch in Konzernen mit Unternehmenshauptsitz außerhalb Europas, wie beispielsweise Toyota oder Honda“, betont Vera Glassner.
Branchen, auf die sich Euro-Betriebsräte konzentrieren, sind die Metall- und Fahrzeugindustrie, speziell bei GM Opel und Volkswagen. Die Hauptfunktion ist, Informationen grenzüberschreitend zu erhalten und weiterzugeben. Rund drei Prozent aller EBR-Gremien verhandeln sogar grenzüberschreitende Unternehmensabkommen (bezüglich Restrukturierung oder neuer Technologien) mit dem Management. Tarifpolitische Fragen wie Arbeitszeit oder Entlohnung spielen eine untergeordnete Rolle.
Kampf gegen Dumping
Was verdienen aber slowenische Bauarbeiter oder ungarische Gastgewerbekräfte in einem Land mit höherem Lohnniveau wie Österreich und wie viel Sozialabgaben entrichten die Arbeitgeber? „Den jeweils lokal gültigen Mindestlohn auch für Entsandte (grenzüberschreitend tätige ArbeitnehmerInnen, Anm.) vorzuschreiben ist die eine Sache, diesen zu kontrollieren und gegebenenfalls Sanktionen zu verhängen eine andere“, unterstreicht der AK-Jurist Walter Gagawczuk. Er ist Experte für den Kampf gegen Lohn- und-Sozialdumping, ob in Österreich oder der EU.
Der entscheidende Vorschlag dazu kam vor eineinhalb Jahren vom scheidenden Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker: Eine Arbeitsrechtsbehörde sollte eingerichtet werden, um endlich besser gegen Lohndumping vorgehen und Verwaltungsstrafen bei Vergehen auch grenzüberschreitend vollstrecken zu können. Damit wurde eine jahrelange Forderung vor allem von sozialdemokratischen EU-ParlamentarierInnen Realität.
Oft werden Arbeitnehmerschutzvorschriften wie Höchstarbeits- und Ruhezeiten umgangen. Nicht nur am Bau.
„Aufgrund der teilweise relativ hohen kriminellen Energie und vielfältiger Tricks mancher Unternehmen stößt die Kontrolle manchmal an die Grenzen ihrer Möglichkeiten“, formuliert es Walter Gagawczuk. Die Gehaltsunterschiede zwischen den neueren und den älteren Mitgliedsländern sind durch die so genannten Übergangsfristen ab 2004 mit der großen EU-Erweiterungsrunde nur aufgeschoben, aber nicht aufgehoben worden. Obwohl sich das Lohngefälle verringert hat, sind die Unterschiede noch immer enorm. Hinzu kommt: Oft werden Arbeitnehmerschutzvorschriften wie Höchstarbeits- und Ruhezeiten umgangen. Nicht nur am Bau.
Unfairer Wettbewerb
Lohn- und Sozialdumping bewirkt unfairen Wettbewerb. Unternehmen, die geringere Löhne zahlen, können günstigere Angebote legen und verdrängen Unternehmen, die die vorgesehenen Mindestlöhne zahlen. Indirekt verdrängen sie dadurch auch die bei diesen Unternehmen beschäftigten ArbeitnehmerInnen. Und das Lohngefüge als solches kommt unter Druck: Um mithalten zu können, pfeifen immer mehr Unternehmen auf die Lohnvorschriften. Es kommt zur Erosion bei den Mindestlöhnen und Arbeitsbedingungen. Vorrangig sind Branchen mit hohen Personalkosten betroffen sowie gering qualifiziertes Personal.
Sozialbetrug
Pro Jahr sind mehrere hunderttausend EU-Arbeitskräfte grenzüberschreitend in Österreich tätig. Laut Kontrollberichten besteht etwa bei den BauarbeiterInnen zur Hälfte der Verdacht auf Sozialbetrug seitens ihrer Arbeitgeber. Bedauerlicherweise hat sich ausgerechnet die ÖVP-FPÖ-Regierung gegen die Ansiedlung der EU-Arbeitsbehörde hierzulande ausgesprochen. Sehr zum Ärger von Gewerkschafts- und AK-VertreterInnen und SPÖ-ParlamentarierInnen. Dieses Torpedieren soll wohl die Zuwanderung von Dumping-Arbeitskräften fördern, so ihr Verdacht.
Arbeit&Wirtschaft 6/2018 mit dem
Schwerpunkt „Europa“
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ÖGB in Brüssel:
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AK in:
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Heike Hausensteiner
Freier Journalistin
Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 3/19.
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