Interview: Weggabelung zwischen sozial-digital und neoliberal-digital

Portrait von Agnes Streissler
Foto (C) ÖGB-Verlag/Michael Mazohl

Inhalt

  1. Seite 1 - Vor- und Nachteile der Digitalisierung
  2. Seite 2 - Herausforderungen durch die Digitalisierung
  3. Seite 3 - Die digitale Kluft
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Agnes Streissler-Führer, Geschäftsführerin der GPA-djp, über die Verantwortung von Politik und Unternehmen, den digitalen Wandel zu gestalten. Die Aufgabe der Gewerkschaften sei umso wichtiger, sie müssen dem Trend entgegenhalten, dass Technik gegen statt für Menschen eingesetzt wird.
Zur Person
Agnes Streissler-Führer ist seit 2017 Mitglied der Bundesgeschäftsführung der GPA-djp und als solche für das Thema Digitalisierung zuständig. Die studierte Historikerin und Volkswirtin arbeitete von 1993 bis 2005 in der AK Wien in der Abteilung Wirtschaftswissenschaft und Statistik. Von 2005 bis 2007 leitete sie die Abteilung Wirtschaftspolitik. Von 2007 bis 2008 war sie Geschäftsführerin des ZIT (Zentrum für Innovation und Technologie GmbH) in Wien. Im Jahr 2009 gründete sie ihre eigene wirtschaftspolitische Beratungsagentur. Unter anderem moderierte sie das Dialogforum Hirschwang der AK Niederösterreich. Streissler hat zahlreiche Studien publiziert, unter anderem „Digitalisierung, Produktivität und Beschäftigung“.

Arbeit&Wirtschaft: Viele Menschen haben das Gefühl, mit dem rasanten technischen Wandel nicht mehr mithalten zu können. Haben Sie in Erinnerung, wann Sie zum ersten Mal Technikstress erlebt haben?

Agnes Streissler-Führer: Das war in den ersten Anfängen des Internets. Damals sind unterschiedliche Plattformen aufgekommen, eine davon hieß ICQ und war eine der ersten Kommunikationsplattformen. Da habe ich mich gefragt: Was entsteht da, wem kann ich trauen? Wo ich immer wieder neuen Technikstress habe, ist, wenn neue Apps auf den Markt kommen: Auf welche Pferde muss man in dieser technologischen Welt setzen? Der größte Technikstress ist allerdings, wenn etwas nicht funktioniert.

Für die Zukunft gibt es verschiedene Szenarien, im positiven werden Menschen durch Technik entlastet, im negativen wird sie gegen die Menschen eingesetzt. Ist der zweite Zug nicht schon fast abgefahren?

Ich bin nicht dazu bereit, zu sagen, dass der Zug abgefahren ist. Wir stehen an der Weggabelung und müssen uns entscheiden: Wollen wir Sozial-Digital oder wollen wir Neoliberal-Digital? Natürlich gehen enorm viele Entwicklungen schon in Richtung Neoliberal-Digital.

Sie erhöhen den Druck, führen zu mehr Prekarisierung und können auch für das demokratische Zusammenleben problematisch sein. Aber es ist genau unsere Aufgabe als Gewerkschaften, da jeden Tag aufs Neue dagegenzuhalten, und zwar nicht in dem Sinne, technologische Entwicklung an sich zu verhindern. Vielmehr wollen wir sie dazu nützen, dass Arbeit besser wird, Menschen zufriedener sind und der gesellschaftliche Zusammenhalt besser funktioniert – und natürlich im Endeffekt, dass wir zu mehr Fairness und Wohlstand für alle kommen.

Durch die Digitalisierung werden Tätigkeiten wegfallen, was für die dort Beschäftigten Arbeitslosigkeit bedeuten kann. Diese geht aber mit Stigmatisierung einher sowie mit einem riesigen Druck, den die Regierung noch einmal erhöht.

Das ist leider richtig. In diesem gesamten Hype von Industrie 4.0, wo tatsächlich großartige Sachen passieren und großartige Arbeitsplätze entstehen, übersehen wir, dass das Ganze einer unheimlich großen Transformation bedarf. Und in jedem Unternehmen macht man Change-Management, wenn es große Veränderungen gibt. Genauso müssen wir auch diesen gesellschaftlichen Wandel managen, und da ist die Politik gefragt.

Wir müssen Technologie dafür einsetzen, dass Arbeit gesünder wird, und nicht dafür, um sie zu entwerten, sodass man nur noch simple Zuleistungen zur Maschine macht. Sie sollte Arbeit reichhaltiger machen und sie aufwerten, sodass Routinearbeiten, die nicht taugen, von der Maschine übernommen werden. Dafür sollten jene Arbeiten gestärkt werden, die interessanter und komplexer sind und die auch mehr soziale Kompetenz erfordern. Aber das passiert nicht einfach, sondern das muss politisch gesteuert sein.

Stehen wir vor dem Ende der Arbeit?

Ich bin davon überzeugt, dass es nicht das Ende der Arbeit ist. Seit es technologische Entwicklungen gibt, sind immer Arbeitsplätze dazugekommen. Nur können wir uns zwar gut vorstellen, welche Arbeit wegfällt, denn diese kennen wir. Wir können uns aber nur schwer vorstellen, welche neue Arbeit entsteht, weil die kennen wir noch nicht. Wenn man in den 1990er-Jahren zu jemandem gesagt hätte, es wird einmal Social-Media-Manager oder Drohnenspezialisten geben, dann hätte man gesagt: Was ist denn das? In unserer Wirtschaft entstehen dauernd neue Jobs, nicht nur in der Digitalisierung. Wenn man in den 1990er-Jahren jemandem gesagt hätte, es wird einmal einen Proteomiker oder Feng-Shui-Berater geben, hätte der wohl gestaunt.

Die Automatisierung in den 1990er-Jahren ist ganz stark in der Industrie passiert, wo Roboter viele Routine- und Hilfsarbeiten übernommen haben. Diese Transformation findet jetzt sehr stark im Dienstleistungssektor statt. Momentan kommen deshalb tendenziell eher jene mit mittleren Qualifikationen unter Druck. Betroffen ist der typische Sachbearbeiter, die typische Sachbearbeiterin. Im Handel ist weniger die Verkäuferin oder der Verkäufer betroffen, der oder die unmittelbar mit dem Kunden zu tun hat. Deren Tätigkeiten werden sich zwar verändern, aber nicht unbedingt wegfallen. Aber das Backoffice wird in sehr naher Zukunft so automatisiert sein, dass Arbeitsplätze wegfallen. Ähnlich wird es auch im Bankensektor sein. Da müssen wir uns etwas überlegen, was wir da machen.

In den digitalisierten Branchen sind atypische Arbeitsverhältnisse sehr verbreitet. Die GPA-djp tut bereits einiges, um diese Beschäftigten zu organisieren. Wie herausfordernd ist das?

Das ist auf jeden Fall herausfordernd. Junge IT-Unternehmen etwa haben eine eigene Arbeitskultur, wo es nicht immer ganz einfach ist, den Kollegen und Kolleginnen klarzumachen, dass Arbeitnehmerschutzrechte nicht nur verstaubte Regeln von vorgestern sind, sondern dass es darum geht, dass man achtsam mit seiner eigenen Arbeitskraft umgeht. Das Burn-out-Risiko in so einem Jungunternehmen ist relativ hoch. Was wir derzeit versuchen, ist, sehr aktiv in den Dialog mit dieser Szene zu gehen, sodass man auch das gegenseitige Verständnis entwickelt. Denn das sind Beschäftigtengruppen, die nicht unbedingt von vornherein gewerkschaftsnah sind. Da muss man sich dann schon überlegen, wie man sie gut ansprechen kann.

Es entstehen ja sehr viele unterschiedliche Formen von Arbeit. In einem kleineren IT-Unternehmen gibt es eine andere Arbeitskultur als beispielsweise, wenn persönliche Dienstleistungen über eine Plattform vermittelt werden. Der einzelne Foodora-Fahrer wird sich nicht als der große Entrepreneur oder Plattformarbeiter fühlen, sondern der ist einfach ein Fahrradbote – und so verstehen sie sich auch.

Da sind wir aber mittendrin in der Diskussion: Welche Arbeitsrechte hat denn dieser Fahrradbote und wie können wir ihn oder sie dabei unterstützen, diese Rechte auch durchzusetzen? Dabei ist die Arbeit selbst nicht neu, denn Fahrradboten gibt es ja schon seit den 1980er-Jahren. Nur ist die Art, wie diese Arbeit vermittelt wird, eine andere. Die große Gefahr in der Plattformarbeit besteht darin, dass sich der Plattformanbieter in keiner Weise als Arbeitgeber versteht, sondern eben nur als Vermittler von Selbstständigen, und sich daher aus jeder arbeits- und sozialrechtlichen Verantwortung stiehlt.

Was Crowdwork betrifft, sind wir in engem Kontakt mit europäischen Gewerkschaften etwa aus Deutschland oder Schweden, aber auch international. Da schauen wir gemeinsam darauf, wie wir Regeln finden können, dass auch diese Beschäftigten als ArbeitnehmerInnen gesehen und so behandelt werden. Und wir überlegen, wie wir ihnen helfen können, ihre Rechte durchzusetzen.

Nicht jeder Plattformanbieter ist übrigens ein böser Kapitalist, sondern es gibt durchaus solche, die sagen, wir wollen faire und gute Arbeit anbieten. Es gibt die Frankfurter Erklärung, wo sich Plattformanbieter im deutschsprachigen Raum zusammengetan haben und sich zumindest einmal selbst verpflichtet haben. Da wird es im nächsten Schritt darum gehen, was Arbeitnehmer oder Arbeitnehmerinnen tun können, wenn sie bei einer solchen Plattform sind und Rechte verletzt werden.

Foto (C) ÖGB-Verlag/Michael Mazohl
„Enorm viele Entwicklungen gehen schon in Richtung Neoliberal-Digital. Eine Menge an Entwicklungen erhöhen den Druck, führen zu mehr Prekarisierung und können auch für das demokratische Zusammenleben problematisch sein. Aber es ist genau die Aufgabe von Gewerkschaften, da dagegenzuhalten. Wir wollen Technik dazu nützen, dass Arbeit besser wird, Menschen zufriedener sind und der gesellschaftliche Zusammenhalt besser funktioniert – und natürlich im Endeffekt, dass wir zu mehr Fairness und Wohlstand für alle kommen.“

Lassen sich Arbeitsverhältnisse in einer digitalen Welt überhaupt noch regulieren?

Man muss hier noch einmal unterscheiden. Das eine sind persönliche Dienstleistungen, da kannst du zumindest relativ gut definieren, wo diese Arbeit erbracht wird. Daher kannst du etwa bei einem Essenslieferanten sagen: Wenn der in Wien radelt, dann gilt auch österreichisches Arbeitsrecht.

Das andere ist Crowdwork, also Dienstleistungen, die tatsächlich nur am Computer erbracht werden, wo es nie zu einem persönlichen Kontakt kommt. Da ist das noch einmal schwieriger. Natürlich kann man über IP-Adressen herausfinden, wo ein Kollege sitzt, der das Design gemacht, ein Programm geschrieben oder eine Übersetzung gemacht hat. Man kann auch hier den Arbeitsort definieren, aber es wird noch ein wenig ungreifbarer. Und dort sind solche Praktiken leider an der Tagesordnung, dass beispielsweise Designer über einen Wettbewerb aufgefordert werden, ihre besten Designs einzureichen, und nur der Gewinner bekommt das Geld – die anderen sind aber trotzdem gesessen. Der Kunde hat dann viele, viele Designs zur Auswahl, muss aber nur eins davon zahlen. Also die Zahlungsmodalitäten und die Zahlungsdisziplin und auch die Qualitätssicherung sind dort viel, viel schwieriger als in dem Bereich, wo physisch sichtbaren Personen persönliche Dienstleistungen vermittelt werden.

Wie kann man es regeln? Ich bin überzeugt, dass wir Plattformarbeit im weitesten Sinn nur europäisch regulieren können. Da sind wir auch mittendrin in der Diskussion um die digitale Betriebsstätte: Wo findet denn Arbeit statt, die eigentlich nur im Internet erbracht wird? Welches Arbeitsrecht gilt dort? Welches Steuerrecht gilt dort? Da ist die Diskussion auf europäischer Ebene schon recht weit gediehen und da bringen wir uns auch sehr massiv ein.

Die Grundforderung ist, dass jede Form von Arbeit – also in dem Moment, wo jemand mit seiner Arbeit sein Einkommen verdient und nicht mit der Arbeit von anderen, oder nicht weil er Zinsen aus einem Kapital bekommt – arbeitsrechtliche, sozialrechtliche und arbeitsverfassungsrechtliche Mindeststandards braucht.

Zurück zu den Jobs, die verloren gehen könnten: Wie kann man erreichen, dass die Menschen nicht auf der Straße stehen?

Erstens ist es glücklicherweise keine Entwicklung, die von jetzt auf morgen kommt. Wir haben schon ein paar Jahre Zeit dafür. Das heißt, es hilft auch die Demografie mit, sprich dass Leute aus dem Arbeitsmarkt hinauswachsen. Der zweite Punkt ist, dass wir es gerade in diesem mittleren Segment mit Menschen zu tun haben, die bildungsnah sind und zumindest Matura gemacht haben. Insofern dürfte es mit ausreichender Anstrengung nicht so schwierig sein, hier auch mit Weiterbildung oder Umschulungen etwas zu erreichen.

Allerdings muss das vorausschauend sein. Sollte zum Beispiel der Job an der Supermarktkasse verschwinden, kann man den Menschen, die dann arbeitslos werden, nicht einfach sagen: Wir brauchen nun Drohnenspezialisten und sie mögen sich umschulen lassen. So geht es nicht, sondern das muss längerfristig begleitet werden. Und es erfordert massiv die Verantwortung der Unternehmen selbst. Für mich ist es absurd, wenn Banken beispielsweise Bankfilialen zusperren, Beschäftigte dort freisetzen und gleichzeitig sagen, sie suchen aber dringend Customer-Relationship-Manager. Das ist eigentlich nichts anderes als ein Job im Vertrieb, ergänzt um Datenanalyse. So etwas kann man umschulen, da muss nicht der Staat mit großen Bildungsbudgets eingreifen.

Ich höre sehr wohl und verstehe auch, dass in manchen Bereichen der Industrie jetzt tatsächlich bestimmte Fachkräfte fehlen. Aber es liegt eben durchaus auch in der Verantwortung der Industrie und der Unternehmen selbst, dass sie über das wunderbare österreichische duale Ausbildungssystem selbst die Leute schulen, die sie brauchen, und nicht einfach nur warten, dass das Bildungssystem die notwendigen Qualifikationen ausspuckt.

Leider gibt es eine digitale Kluft – beispielsweise in Berufsschulen gibt es Aufholbedarf. Wie lässt sich dies lösen?

Ich glaube, wir brauchen auch ein bisschen Vertrauen in unsere Jugendlichen, weil sie aus ihrer Freizeit heraus unendlich viele digitale Kompetenzen mitbringen. Und die ganz Jungen, die noch unter 20-, 25-Jährigen, bringen ein höheres Verständnis für Datenschutz mit.

In den einzelnen Berufen gibt es natürlich spezialisierte digitale Kompetenzen und in großen Industriebetrieben gibt es hervorragende Lehrwerkstätten. Aber ich könnte mir vorstellen, dass im Gewerbebereich alle digitalen Kompetenzen geschult werden. Ich glaube, dass man da stärker über Ausbildungsverbünde etwas machen muss. Es gibt auch die Überlegung, ob man nicht nur duale, sondern triale Ausbildung anbietet: Berufsschule, das Unternehmen und überbetriebliche Lehrwerkstätten, wo man gemeinsam solche Techniken lernt.

Wer ist mehr unter Druck: Frauen oder Männer?

Die jetzige Phase der Digitalisierung betrifft Dienstleistungen und die Verwaltung, wo wir sehr, sehr hohe Frauenquoten haben. Frauen drohen daher stärker unter Druck zu kommen. Das ist der eine Punkt.

Der zweite Punkt sind die Qualifikationen, die bereits heute, aber noch viel mehr in der Zukunft stärker nachgefragt werden, also im weitesten Sinn Kompetenzen in der IT- und Datenanalyse. Wenn man in die berufsbildenden Schulen und Universitäten schaut, so haben wir in diesen Fächern in Österreich sowieso schon zu wenige junge Leute, und die Frauenanteile sind verschwindend gering. Das ist zwar leider auch inzwischen ein alter Hut, aber trotzdem muss man auf dieser Forderung bleiben: Wir müssen mehr dafür tun, dass wir kleine Mädchen bereits im Kindergarten für Technik interessieren.

Von
Sonja Fercher

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 5/18.

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Über den/die Autor:in

Sonja Fercher

Sonja Fercher ist freie Journalistin und Moderatorin. Für ihre Coverstory im A&W Printmagazin zum Thema Start-ups erhielt sie im Juni 2018 den Journalistenpreis von Techno-Z. Sie hat in zahlreichen Medien publiziert, unter anderem in Die Zeit, Die Presse und Der Standard. Von 2002 bis 2008 war sie Politik-Redakteurin bei derStandard.at. Für ihren Blog über die französische Präsidentschaftswahl wurde sie im Jahr 2008 mit dem CNN Journalist Award - Europe ausgezeichnet.

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