Geht’s dem Sozialstaat gut, geht’s allen gut – Emmerich Tálos im Interview

Emmerich Tálos im Gespräch über den Sozialstaat in der Krise
Fotos (C) Markus Zahradnik
Weder Mäzenatentum noch die unsichtbare Hand des Marktes, an die Neoliberale glauben, schaffen, was unser Sozialstaat garantiert: ein System, von dem alle profitieren. Das müssen wir erhalten und ausbauen, befindet Politikwissenschafter Emmerich Tálos.
Mit einem breiten Lächeln hinter der FFP2-Maske begrüßt uns Emmerich Tálos am Rooseveltplatz, in der Nähe der Wiener Ringstraße. Er führt uns über die gewundenen Altbaustufen in das Institut für Staatswissenschaft. Hier studierten ganze Politiker*innengenerationen von Gitti Ederer über Peter Pilz, Othmar Karas, Michael Ludwig – „das war ein sehr guter Student“ – bis zu Christian Kern.

Seit über zehn Jahren ist Tálos nun im Ruhestand – oder vielmehr im Unruhestand. Knapp ein Dutzend Bücher hat er seither geschrieben, und ein Thema lässt ihn gar nicht los: der Sozialstaat, der gerade jetzt in der Krise zeigt, was er kann. Im Herbst vergangenen Jahres ist sein neues, mit Herbert Obinger (Professor in Bremen) verfasstes Buch dazu erschienen.

Zur Person
Emmerich Tálos war seit 1983 Professor für Politikwissenschaft am Institut für Politikwissenschaft bzw. Staatswissenschaft der Universität Wien und ist seit Oktober 2009 offiziell im Ruhestand. Sein aktuelles Buch „Sozialstaat Österreich (1945–2020): Entwicklung – Maßnahmen – internationale Verortung“ erschien im Oktober 2020 im StudienVerlag.

Herr Professor, bevor wir in die Tiefen und mittlerweile Untiefen des Sozialstaats eintauchen: Wie definieren Sie den Begriff „Sozialstaat“ möglichst knapp?

Der Sozialstaat ist ein spezifischer Gestaltungs- und Aktivitätsbereich des Staates.

Punkt?

Umgesetzt wird dieser Gestaltungsbereich im Komplex der Sozialpolitik mit Sozialversicherung, Sozialhilfe, Arbeitsrecht, Familien- und Arbeitsmarktpolitik. Der Begriff Sozialstaat wird international zum Teil auch synonym verwendet mit dem Begriff „Wohlfahrtsstaat“, der aus der angloamerikanischen Tradition stammt. In Österreich hat der Sozialstaat eine große Bedeutung erlangt: Das Ausmaß der Teilhabechancen in der Gesellschaft hängt ganz wesentlich von ihm ab. Das wäre weder allein über karitative Tätigkeiten möglich, noch über den Markt, was Neoliberale gerne behaupten.

Emmerich Tálos

Der österreichische Sozialstaat war nie ein Sozialstaat nur für
Bedürftige, ganz im Gegenteil.

In meiner Wahrnehmung wird der Sozialstaat oft als etwas diskutiert, das nur für Bedürftige wirkt – dabei profitiert doch die gesamte Gesellschaft von ihm, auch Reiche und Privilegierte wie ein René Benko oder Dietrich Mateschitz.

Das trifft zu. Der österreichische Sozialstaat war nie ein Sozialstaat nur für Bedürftige, ganz im Gegenteil. Der Sozialstaat, im ausgehenden 19. Jahrhundert konstituiert, hat sich in erster Linie auf Gruppen von unselbstständig Erwerbstätigen bezogen und wurde dann in sachlicher und personeller Hinsicht immer mehr ausgeweitet. Es gab aber auch Maßnahmen für sozial bedürftige Menschen. Bereits in den 1860er-Jahren wurde so etwas wie eine Armenfürsorge eingerichtet. Historisch betrachtet wurde also die Armenfürsorge als „erstes Netz“ eingeführt, realiter wurde die Sozialversicherung zum ersten Netz, die 1888 bzw. 1889 in Form der Krankenversicherung und der Unfallversicherung etabliert worden ist.

In der Entwicklung des Sozialstaats sehen wir, dass dieser von 1945 bis in die Achtziger-Jahre auf- und ausgebaut wurde. Aber seitdem wird er eher ab- und rückgebaut. Was ist da passiert?

Seit Mitte der Achtziger-Jahre hat sich die Situation des Sozialstaats verändert. Aber wenn wir die Entwicklung insgesamt betrachten, seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert, können wir sehen: Die Entwicklung des Sozialstaats war nie nur linear. Es hat Phasen des Ausbaus gegeben, Phasen, in denen die Entwicklung stagniert hat – beispielsweise vor dem Ersten Weltkrieg –, und es hat Phasen gegeben, in denen es regelrecht zu Brüchen kam. Insbesondere in der Zeit der Faschismen, also des Autrofaschismus und des Nationalsozialismus, kam es zu weitreichenden Einschnitten in das bestehende System der sozialen Sicherung und des Arbeitsrechts. Für die Entwicklung von 1945 bis Mitte der 1980er sprechen wir deshalb vom Siegeszug des Sozialstaats, weil in der Zeit eine enorme Ausweitung in sachlicher und personeller Hinsicht stattgefunden hat. Ein Beispiel: 1888/89 waren in die damals eingeführte Krankenversicherung circa sieben Prozent der Bevölkerung integriert. Nach 1945 waren das bis zu 99 Prozent. In allen Bereichen – Pension, Arbeitslosenversicherung, Kranken- und Unfallversicherung, Familienleistungen – sind die Leistungssysteme ausgeweitet worden.

Welche Rolle hat dabei die Sozialpartnerschaft gespielt?

Die Sozialpartnerschaft war dabei ein ganz wichtiger Gestaltungsfaktor. Sie hatte wesentliche Auswirkungen auf den Ausbau der Sozialpolitik und des Arbeitsrechts. Von den 1960er-Jahren bis 1999 ist im Wesentlichen jedes arbeitsrechtliche Gesetz in seiner inhaltlichen Substanz durch die Zusammenarbeit der großen Interessenverbände bestimmt worden. Es gab nicht immer Konsens, aber es wurden Kompromisse gefunden, und diese wurden durch die Regierung aufgenommen und in das Parlament eingebracht. Parallel zur Zeit des Siegeszugs des Sozialstaats gab es die Hochblüte der Sozialpartnerschaft.

Emmerich Tálos

Parallel zur Zeit des Siegeszugs des Sozialstaats gab es
die Hochblüte der Sozialpartnerschaft.

Wer sind denn auf der anderen Seite die Gegner des Sozialstaats?

Gegenüber dieser sozialreformerischen Positionierung, die in Österreich so lange wichtig war, haben sich politische Kräfte herausgebildet, die wir als Neoliberale bezeichnen. Für Neoliberale gilt der Markt als Problemlöser und der Sozialstaat als Problemverursacher. Das ist das Gegenteil dessen, was den österreichischen Sozialstaat und seine Entwicklung seit den Anfängen ausgemacht hat. Diese liberale Positionierung war in Österreich lange nur schwer durchsetzbar. Aber im Regierungsprogramm von Schwarz-Blau aus dem Jahr 2000 hat Bundeskanzler Schüssel sehr deutlich gemacht, dass grundsätzlich die eigene Vorsorge Vorrang vor der Fürsorge habe. Also dass es beim Sozialstaat in erster Linie darum gehe, Menschen zu versorgen, die irgendwie in Not sind. Gleiches vertrat die türkis-blaue Regierung.

Wenn ich jetzt an den Arbeitsmarkt von heute denke, etwa an das Instrument der Kurzarbeit – der Arbeitsmarkt wäre ohne staatliche Eingriffe nicht mehr vorstellbar.

Wir haben in der Zweiten Republik noch nie so viele arbeitslose Menschen gehabt wie jetzt, aktuell über 530.000 – das ist ja gigantisch. Wenn wir uns vorstellen würden, es gäbe das System des Arbeitslosengeldes nicht, so wären davon enorm viele Menschen und Familien äußerst negativ betroffen.

Gerade das Arbeitslosengeld wirkt zudem auch als automatischer Stabilisator, es verhindert, dass die Konsumnachfrage massiv einbricht und der ganze Kreislauf zusammenbricht.

Das ist ein ganz wichtiger Punkt. Der Sozialstaat trägt wesentlich zur wirtschaftlichen Entwicklung bei. 1974 hat der damalige Handelskammerpräsident Rudolf Sallinger schon gesagt: „Wer soll denn all die Güter, die wir produzieren, kaufen – wenn die Kranken, die Arbeitslosen, die Pensionisten kein Geld haben.“

Wir sind sehr gut aufgestellt im Bereich der Sozialversicherung, das heißt bei Leistungen der Pensions-, Kranken und Unfallversicherung.

Wenn wir auf die Situation heute schauen: Wo würden Sie denn sagen, ist der Sozialstaat noch gut aufgestellt?

Wenn wir das im internationalen Vergleich betrachten, so liegt Österreich meist im Spitzenfeld. Wir sind sehr gut aufgestellt im Bereich der Sozialversicherung, das heißt bei Leistungen der Pensions-, Kranken und Unfallversicherung. Vor allem auch im Bereich des Arbeitsrechtes und der Familienleistungen. Mittlerweile ist auch die Pflegeversicherung dazugekommen.

Wo sind wir weniger gut aufgestellt?

Die Pandemie unterstreicht, dass das System der Arbeitslosenversicherung eine wichtige Rolle spielt. Aber gerade dort können wir sehen, dass das bestehende System nicht reicht. Die Nettoersatzrate von nur 55 Prozent schafft ein enormes Verarmungspotenzial bei einem Teil der von Arbeitslosigkeit Betroffenen.

Wir stehen also vor einer großen sozialen Herausforderung?

Das trifft zu. Wer heute sagt, das Arbeitslosengeld hält Leute davon ab, sich um Arbeit zu kümmern, oder fördert Arbeitsunwilligkeit, irrt. All das Gerede, dass der Sozialstaat überfördert, trifft realiter nicht zu. Österreich hat lange Zeit eine ganz tolle wirtschaftliche Entwicklung genommen, und dazu hat der Sozialstaat wesentlich beigetragen.

Die Pandemie zeigt auch, welche Effekte ein schlecht ausgebauter Sozialstaat hat, wenn wir etwa in die USA schauen.

Auch dort wird vom „Sozialstaat“ gesprochen – nur Sozialstaat ist eben nicht gleich Sozialstaat. Die Ausprägungen sind durchaus sehr unterschiedlich. Das kennen wir aus den Entwicklungsländern, aber auch aus den USA, wo viele keine Krankenversicherung haben, es in der Pensions- und Arbeitslosenversicherung nur sehr geringe Leistungen gibt. Wir haben in der Pandemie außerdem gesehen, wie wichtig ein gut ausgebautes Gesundheitssystem ist. Diesen Stresstest, den das Corona-Virus gebracht hat, hat unser System eigentlich sehr gut bestanden.

Emmerich Tálos

Für Neoliberale gilt der Markt als Problemlöser und der Sozialstaat als Problemverursacher.

Schauen wir auch noch in die nähere Umgebung, nach Deutschland. Welche Unterschiede würden Sie hier festmachen?

Es ist schon bemerkenswert: Österreich und Deutschland haben seit den Anfängen eigentlich eine relativ ähnliche Entwicklung genommen. Dennoch: In Deutschland ist die Pensionsversicherung im Wesentlichen auf unselbstständig Erwerbstätige, nicht auf Selbstständige bezogen. Das Leistungsniveau ist zudem geringer als in Österreich.

Und dann hat Deutschland noch Hartz IV bzw. die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe.

Das war mit Sicherheit ein Bruch, den die deutsche Sozialdemokratie damals mit den Grünen zusammen beschlossen hat. Bemerkenswert ist allerdings: Das Regierungsprogramm von Schüssel hat ebenso wie das von Kurz/Strache genau dasselbe drinstehen gehabt: die Abschaffung der Notstandshilfe. Beiden ist es nicht gelungen.

Zum Abschluss eine Fiktion: Wir machen Sie für einen Tag zum Bundeskanzler. Welche sozialpolitische Maßnahme würden Sie umsetzen?

Ich wollte in meinem Leben nie Politiker werden. Aber ich würde in jedem Fall neben der Absicherung der Finanzierung des Sozialstaates die Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld anheben, das ist als sozialreformerische Maßnahme unumgänglich notwendig.

Über den/die Autor:in

Michael Mazohl

Michael Mazohl studierte Digitale Kunst an der Universität für angewandte Kunst Wien. Im ÖGB-Verlag entwickelte er Kampagnen für die Arbeiterkammer, den ÖGB, die Gewerkschaften und andere Institutionen. Zudem arbeitete er als Journalist und Pressefotograf. Drei Jahre zeichnete er als Chefredakteur für das Magazin „Arbeit&Wirtschaft“ verantwortlich und führte das Medium in seine digitale Zukunft. Gemeinsam mit der Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl erscheint ihr Buch „Klassenkampf von oben“ im November 2022 im ÖGB-Verlag.

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