Interview: Entwürdigendes Signal

Foto (C) ÖGB-Verlag | Michael Mazohl
Judith Pühringer ist Betriebswirtin und Expertin in den Bereichen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Seit 2004 ist sie Geschäftsführerin von arbeit plus, des österreichweiten Netzwerks von 200 gemeinnützigen sozialen Unternehmen. Soziale Unternehmen unterstützen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind, durch Beschäftigung, Beratung und Qualifizierung bei ihrem (Wieder-)Einstieg ins Erwerbsleben. Darüber hinaus kooperieren sie mit anderen Unternehmen, die bereit sind, soziale Verantwortung zu übernehmen, sowie mit Regionen und Menschen, die dort arbeiten und leben. Pühringer ist außerdem im Vorstand der Österreichischen Armutskonferenz und im Aufsichtsrat des Projekts Bank für Gemeinwohl.

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Arbeitsmarktexpertin Judith Pühringer sieht im Ende der Aktion 20.000 eine vergebene Chance, älteren Langzeitarbeitslosen Perspektiven zu eröffnen und wertvolle Arbeitskräfte in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Die Abschaffung der Notstandshilfe wäre ein "völliger Bruch" mit dem bisherigen System mit allen nachteiligen Konsequenzen für den Arbeitsmarkt und die Menschen.
Zur Person
Judith Pühringer ist Betriebswirtin und Expertin in den Bereichen Sozial- und Arbeitsmarktpolitik. Seit 2004 ist sie Geschäftsführerin von arbeit plus, des österreichweiten Netzwerks von 200 gemeinnützigen sozialen Unternehmen. Soziale Unternehmen unterstützen Menschen, die auf dem Arbeitsmarkt benachteiligt sind, durch Beschäftigung, Beratung und Qualifizierung bei ihrem (Wieder-)Einstieg ins Erwerbsleben. Darüber hinaus kooperieren sie mit anderen Unternehmen, die bereit sind, soziale Verantwortung zu übernehmen, sowie mit Regionen und Menschen, die dort arbeiten und leben. Pühringer ist außerdem im Vorstand der Österreichischen Armutskonferenz und im Aufsichtsrat des Projekts Bank für Gemeinwohl.

Arbeit&Wirtschaft: An sich sind die Konjunkturaussichten positiv. Gute Aussichten auch für den Arbeitsmarkt?

Judith Pühringer: Die Konjunktur zieht an, bei den Arbeitslosenzahlen gibt es einen sehr großen Rückgang. Das ist an sich sehr erfreulich. Aber es ist ein Trugschluss, dass es für alle besser wird. Für viele Menschen, die von Arbeitslosigkeit betroffen sind und die jetzt schon am Arbeitsmarkt ausgegrenzt werden, wird es deshalb nicht einfacher.

Gerade die Arbeitslosigkeit von Älteren sinkt nur in ganz minimalem Ausmaß, sie stagniert eher. Es wird immerhin nicht noch schlimmer, aber wir haben nach wie vor ein erschreckend hohes Niveau an Menschen, die über 50 Jahre alt sind und in Wirklichkeit überhaupt keine Chance mehr haben, in den Arbeitsmarkt integriert zu werden, wenn sie langzeitarbeitslos sind.

Gibt es überhaupt genügend Jobs, sodass alle arbeiten könnten, die derzeit arbeitslos sind?

Das ist die grundsätzliche Frage: Woran liegt es, dass Menschen keinen Job finden? Sind sie selber schuld oder ist es ein strukturelles Problem? Die Antwort ist: Es ist ein strukturelles Problem. Es gibt Jobs einfach nicht mehr in dem Ausmaß und nicht in der Bandbreite an unterschiedlichen Qualifikationen wie bisher. Gerade für Menschen, die die eine oder andere kleine Einschränkung haben oder die schlichtwegs älter sind, wird es noch enger.

Und es gibt viele Menschen, die über ein Zuviel an Arbeit klagen und die ins Burn-out gehen, weil sie zu viel arbeiten. Wir sind ein Land mit extrem vielen Überstunden, und auf der anderen Seite gibt es viele Menschen, die keine Arbeit haben. Es ist also definitiv auch ein Verteilungsproblem.

Ein Rezept, auf das man momentan zu setzen scheint, ist Qualifizierung. Bloß reicht dies?

Das Problem ist, dass sie oft anstelle von anderen Formen von Beschäftigung aus dem Hut gezaubert wird. Qualifizierung an sich ist ein wunderbares und wichtiges Instrument. Aber es löst das Problem nicht, dass es zu wenige Jobs gibt.

Gerade bei der Gruppe der Älteren wird man über Qualifizierung alleine nichts erreichen. Diese Menschen brauchen in einem ersten Schritt eine Beschäftigung. Sie kommen aus Langzeitarbeitslosigkeit, haben oft schon zweihundert bis sechshundert Bewerbungen geschrieben und nicht einmal eine Absage erhalten. Das ist wirklich dramatisch, und das geht quer durch alle Qualifikationsniveaus.

Was bei der Gruppe sehr hilft, ist die Kombination von Arbeiten und Lernen: Sie erhalten eine Beschäftigung und währenddessen schaut man darauf, was sie können. Es geht um Kompetenzerfassung, und das ist ein wirklich wichtiger Punkt. Es wird nicht nur das betrachtet, was im Lebenslauf steht, sondern was Menschen im Laufe ihres Lebens gelernt haben, welche informellen Kompetenzen sie erworben haben. Das den Menschen selber zugänglich zu machen, um ihnen so wieder den Zugang zu Weiterqualifizierung zu geben – an dieses Konzept glaube ich zutiefst, letztlich für alle Altersgruppen. Die Menschen nehmen sich selbst dann ganz anders wahr, weil sie gebraucht werden, sich ein neues Netzwerk aufbauen können und sich danach aus einem ganz anderen Zustand heraus wieder bewerben.

Ältere Langzeitarbeitslose haben einen Fünfer vorm eigenen Alter stehen, und es wird ihnen de facto vom Arbeitsmarkt gesagt: Wir brauchen dich nicht mehr. Das ist eine unglaublich entwürdigende Erfahrung, dass Menschen, nur weil sie älter sind, signalisiert bekommen, sie werden nicht mehr gebraucht. Genau deshalb fand ich die Aktion 20.000 einfach so großartig, weil sie zu genau diesen Menschen gesagt hat: Wir brauchen dich! Und die Menschen sind total aufgeblüht.

Dazu ein Praxisbeispiel: Ein Arbeiter, der sehr lange am Bau beschäftigt war, hatte einen Bandscheibenvorfall und kann diesen Job nicht mehr machen. Im Rahmen der Aktion 20.000 hat er in einem Altenheim Freizeitgestaltung übernommen. Er hat gesagt, das könne er deshalb so gut, weil er seine kranke Mutter auch sehr lange gepflegt hat – und es mache ihm großen Spaß. Die Organisation hat ihm angeboten, eine Ausbildung zur Altenpflegekraft zu machen. Die wird er machen, und die Jobchance danach ist 100 Prozent, weil genau solche Menschen gesucht werden. Und er sagt jetzt noch einmal mit über 50: Super, das ist eine neue Perspektive, mir macht das Spaß. Und man hat eine superwertvolle Arbeitskraft gewonnen. Das sind absolute Win-win-Situationen.

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Über den/die Autor:in

Sonja Fercher

Sonja Fercher ist freie Journalistin und Moderatorin. Für ihre Coverstory im A&W Printmagazin zum Thema Start-ups erhielt sie im Juni 2018 den Journalistenpreis von Techno-Z. Sie hat in zahlreichen Medien publiziert, unter anderem in Die Zeit, Die Presse und Der Standard. Von 2002 bis 2008 war sie Politik-Redakteurin bei derStandard.at. Für ihren Blog über die französische Präsidentschaftswahl wurde sie im Jahr 2008 mit dem CNN Journalist Award - Europe ausgezeichnet.

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