„Die Regierung will den Sozialstaat abschaffen“ – Alois Stöger im Interview

Alois Stöger, ehemaliger Sozialminister
„Das ist keine Reform! Das, was hier vorgetragen wurde, hat mit dem Begriff von „Reform“ nichts zu tun. Das ist die bewusste Verhinderung eines funktionierenden Sozialstaates.“ Stöger lässt kein gutes Haar an der Bundesregierung.
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Inhalt

  1. Seite 1 - Angriff auf den Sozialstaat
  2. Seite 2 - Reform gegen die ArbeitnehmerInnen
  3. Seite 3 - Bald keine kollektive Sicherheit mehr?
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Ex-Gesundheitsminister Alois Stöger kennt das österreichische System der Sozialversicherungen aus der Sicht der Krankenkassen, der Gewerkschaften, der Regierung und der Opposition.
Im Interview erklärt er unter anderem die Gründe, warum er die so genannte „Reform“ der Bundesregierung für einen „Blindflug“ und Selbstbehalte künftig für wahrscheinlich hält – und was es stattdessen bräuchte.

Zur Person
Alois Stöger (58) absolvierte ursprünglich eine Lehre als Maschinenschlosser bei der VÖEST in Linz und ist seit den frühen 1980er Jahren Gewerkschaftsfunktionär. Er bildete sich fort an der Sozialakademie der Arbeiterkammer Wien, der Europäischen Sozialakademie und der Marc-Bloch-Universität in Straßburg (Fernstudium der „Sozialen Praxis“). Er war Obmann der OÖ. Gebietskrankenkasse und ab 2008 neun Jahre Minister für unterschiedliche Ressorts (zunächst für Gesundheit, dann für Verkehr und schließlich für Soziales, Arbeit und Konsumentenschutz). Stöger ist seit einem Jahr Nationalratsabgeordneter, seit März 2018 leitet er die Abteilung für Sozialpolitik der Teilgewerkschaft PRO-GE (Produktionsgewerkschaft), der größten Arbeitergewerkschaft in Österreich.

Arbeit&Wirtschaft: Bedeutet die Sozialversicherungsreform der Bundesregierung langfristig einen Angriff auf den Sozialstaat?

Alois Stöger: Das ist keine Reform! Das, was hier vorgetragen wurde, hat mit dem Begriff von „Reform“ nichts zu tun. Das ist die bewusste Verhinderung eines funktionierenden Sozialstaates. An der Vorgangsweise, wie der Gesetzesvorschlag gemacht wurde, kann man ablesen: Man will keinen Sozialstaat haben, man erkennt in keiner Weise die Wirkung des Sozialstaates auf die Demokratie, und man will auch die interne Demokratie innerhalb der Sozialversicherung beenden. Das ist das Konzept, das dahintersteckt. Ein autoritäres Staatskonzept und eine klare Bevormundung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch die Arbeitgeber. Vom betriebswirtschaftlichen Gesichtspunkt ist das die stümperhafteste Form einer Zusammenführung von Institutionen.

An der Vorgangsweise, wie der Gesetzesvorschlag gemacht wurde, kann man ablesen: Man will keinen Sozialstaat haben, man erkennt in keiner Weise die Wirkung des Sozialstaates auf die Demokratie, und man will auch die interne Demokratie innerhalb der Sozialversicherung beenden. 

Aus sozialrechtlicher Sicht, aber auch aus verfassungsrechtlicher Sicht von einem Dutzend Experten wurden zahllose Bedenken an dem Entwurf geäußert. Das offiziell genannte Einsparungspotenzial wird ebenfalls stark angezweifelt. Warum, glauben Sie, geht die Regierung so vor, wenn so viele Bedenken in Richtung Gesetzeswidrigkeit am Tisch liegen?

Die Arbeitgeber bestellen, die Regierung setzt um, und die ArbeitnehmerInnen bezahlen – das ist das Grundproblem. Ich verstehe auch die Arbeitgeber nicht, weil sich gegenüber der Mehrheit der Unternehmer nur ganz wenige durchgesetzt haben. Nämlich die, die das größte Einkommen haben und in der Industriellenvereinigung sitzen.

Interviewfoto von Alois Stöger
„Jeder, der das Gesetz lesen kann, weiß, dass es gegen die Arbeitnehmerseite gerichtet ist.“ Stöger vertritt ArbeitnehmerInneninteressen in der Grundlagenabteilung der PRO-GE und im Nationalrat.

Wenn die Gebietskrankenkassen als Versicherungen, die die regionale Gesundheitsversorgung steuern, abgeschafft werden sollen, brauche ich neue Steuerungsinstrumente. Mit dem Regierungsentwurf werden aber keine neuen Steuerungsinstrumente gesetzt, sondern sie werden reduziert. Damit wird der Blindflug größer, egal, wie man das macht.

Zweitens wenn man Sozialversicherungsträger zusammenlegen möchte, braucht es eine Zielsetzung und ein gemeinsames Leistungsrecht – das ist aber kein Thema. Was die Bundesregierung schafft, ist eine Drei-Klassen-Medizin: für Beamte, für Selbstständige und Bauern und für die Restgröße, das ist die Mehrheit wie Arbeiter und Angestellte, Arbeitslose, Mindestsicherungsbezieher, Haftentlassene, um’s genau zu sagen. Also die Strukturen zur Zusammenlegung werden gar nicht angegangen. Es gibt keinen Diskussionsbeitrag dazu, dass wir auch die 15 Krankenfürsorgeanstalten (für unterschiedliche Beamte – sie sind keine Sozialversicherungsträger, gehören auch nicht dem Hauptverband der österreichischen Sozialversicherungsträger an und unterliegen keiner Aufsicht durch Aufsichtsbehörden; Anm.) hineinnehmen in einen Zusammenführungsprozess der Sozialversicherungen. Es ist in dieser Republik noch nie da gewesen, dass eine Regierung etwas kommuniziert, das mit dem praktischen Handeln nicht zusammenstimmt – was man auch als Unwahrheit beschreiben kann.

Was die Bundesregierung schafft, ist eine Drei-Klassen-Medizin: für Beamte, für Selbstständige und Bauern und für die Restgröße, das ist die Mehrheit wie Arbeiter und Angestellte, Arbeitslose, Mindestsicherungsbezieher, Haftentlassene, um’s genau zu sagen. Also die Strukturen zur Zusammenlegung werden gar nicht angegangen. 

Von dem Regierungsentwurf sind hauptsächlich Arbeitnehmerinteressen betroffen. Dennoch wirken ÖVP-nahe ArbeitnehmervertreterInnen nach außen auffallend ruhig. Stimmt dieser Eindruck, oder haben Sie diesbezüglich andere Informationen?

Ich kenne Betriebsrätinnen und Betriebsräte der Fraktion Christlicher Gewerkschafter (FCG), die sagen, „dieses Vorhaben geht vollkommen gegen die ArbeitnehmerInnen“. Das ist auch tatsächlich so. Jeder, der das Gesetz lesen kann, weiß, dass es gegen die Arbeitnehmerseite gerichtet ist. Zum Beispiel ist vorgesehen, dass die Beamten Selbstverwaltung haben, also in der Sozialversicherung für Beamte sind nur Beamte vertreten und dass in der Sozialversicherung für Selbstständige nur Selbstständige inklusive Bauern sitzen – aber in der Sozialversicherung für ArbeitnehmerInnen sollen künftig mehrheitlich Arbeitgeber vertreten sein. Das ist demokratiepolitisch ein Rückfall um mehr als hundert Jahre in vorrepublikanische Zeiten. Und das kann nicht verfassungskonform sein.

Außerdem sollen die Unternehmer die Entscheidungsbefugnis haben, ob Zuzahlungen, also Selbstbehalte für ArbeitnehmerInnen vorgesehen sind. Das heißt, es ist bereits in Vorbereitung, dass die Arbeitgeber Selbstbehalte für die ArbeitnehmerInnen einführen werden. Wenn man sich dann die finanziellen Kriterien im Gesetz ansieht, dass nämlich die Privatanstalten künftig 14,7 Millionen Euro jährlich erhalten, dass die Finanzierung berufsbedingter Krankenbehandlungen durch die AUVA abgeschafft wird, dass die Finanzierung der Sozialbeihilfen, also der Ersatz der Mehrwertsteuer verändert wird – zu Lasten der Krankenversicherung für die Arbeiter und Angestellten, dann fehlt dieses Geld natürlich. Damit ist auch klar: Die Regierungsparteien wollen den Gesundheitsschutz der ArbeitnehmerInnen aushöhlen.

Außerdem sollen die Unternehmer die Entscheidungsbefugnis haben, ob Zuzahlungen, also Selbstbehalte für ArbeitnehmerInnen vorgesehen sind. Das heißt, es ist bereits in Vorbereitung, dass die Arbeitgeber Selbstbehalte für die ArbeitnehmerInnen einführen werden. 

Sie kennen das österreichische Sozialversicherungssystem aus verschiedenen beruflichen Positionen: aus Sicht der Gebietskrankenkasse und der Gewerkschaft, als Regierungsmitglied, das sie neun Jahre waren, und als gewählter Abgeordneter. Nun gibt es Fälle, wo innerhalb einer Familie drei verschiedene Krankenkassen oder mehr zuständig sind. Warum hat die SPÖ als Regierungspartei nie eine Vereinheitlichung in Angriff genommen?

Der Ausgangspunkt für die Versicherungspflicht ist ja der Arbeitsvertrag, das ist das Prinzip. Und wenn es in einer Familie unterschiedliche Arbeitsverträge etwa mit Land, Bund oder der Privatwirtschaft gibt, habe ich drei unterschiedliche Ausgangspunkte. Folglich gibt es drei Versicherungen. Entscheidend ist das Leistungsrecht der Versicherungen. In der Vergangenheit ist in vielen Fällen das Leistungsrecht jenem der Gebietskrankenkasse gleichgestellt worden – das kann nach oben oder nach unten gleichgestellt werden. Je nachdem, was eine Regierung will.

Es hätte viele Möglichkeiten gegeben, das Leistungsrecht bei den Gebietskrankenkassen nach unten zu reduzieren – da hätte die ÖVP geklatscht. Wenn ich als Minister gesagt hätte, wir stellen das Leistungsrecht für alle auf jenes der Beamten, gab es niemanden, der bereit gewesen wäre, das auch zu finanzieren. Daher war diese Erwartung nicht möglich. Die Arbeitnehmer haben im Bereich der Krankenversicherung das Leistungsrecht gleichgestellt; da gibt es nur noch marginale Unterschiede bei einzelnen Produkten in den Gebietskrankenkassen.

Interviewfoto von Alois Stöger
„Wenn man sich dann die finanziellen Kriterien im Gesetz ansieht, dass nämlich die Privatanstalten künftig 14,7 Millionen Euro jährlich erhalten, dass die Finanzierung berufsbedingter Krankenbehandlungen durch die AUVA abgeschafft wird, dass die Finanzierung der Sozialbeihilfen, also der Ersatz der Mehrwertsteuer verändert wird – zu Lasten der Krankenversicherung für die Arbeiter und Angestellten, dann fehlt dieses Geld natürlich“, so der ehemalige Gesundheitsminister.

Und darüber hinaus gehend hat die SPÖ keinen Bedarf zu einer Reform gesehen?

Es gab Bedarf, das Leistungsrecht zu verbessern und nach oben hin anzupassen. Da ist auch sehr viel passiert: Wir haben in den Gebietskrankenkassen die Leistungen zusammengefasst. Die Effizienzstudie der London School of Economics und Political Science (im Auftrag des Ministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz, veröffentlicht im Sommer 2017; Anm.)  hat bestätigt, dass die Anpassung nach oben notwendig ist. Das ist tatsächlich angegangen worden, alleine wenn ich an die Verbesserungen in der Zahnversorgung denke. Nur: Man hat nicht immer das höchste Niveau erreicht. Aber die Zielsetzung war gegeben – und in vielen Fällen umsetzbar (Zahnspange, Kinderrehabilitation, Gesundheitsreform usw.). Das war nur möglich, weil wir einen Blick auf die regionale Versorgung hatten. Das will man jetzt mit der Zerschlagung der Gebietskrankenkassen nicht mehr.

Diese Bundesregierung hat den Arbeitnehmern den Krieg erklärt. Sie will keinen Sozialstaat haben. 

Die Kürzungen der VP-FP-Regierung betreffen auch Maßnahmen, die Sie als Arbeitsminister ermöglicht haben wie u.a. die Streichung der „Aktion 20.000“ für Langzeitarbeitslose. Will die Bundesregierung letztendlich eine mehr-Klassen-Gesellschaft und mehr privat statt Staat?

Diese Bundesregierung hat den Arbeitnehmern den Krieg erklärt. Sie will keinen Sozialstaat haben. Ein Sozialstaat bedeutet einfach gesagt: Eine demokratische Gesellschaft muss für den sozialen Zusammenhalt ihrer Bewohner etwas tun, sonst bleibt das keine demokratische Gesellschaft. Diese Bundesregierung tritt für eine Spaltung der Gesellschaft ein. Mit der Zielsetzung, dass ganz wenige reicher werden und die meisten Mitglieder der Gesellschaft ärmer. Das gelingt, indem man den Sozialstaat abschafft. Die wichtigste Säule des Sozialstaats ist die Unfallversicherung – das ist die Bundesregierung angegangen.

Das Zweite ist die Krankenversicherung, wo die Regierung eben die Gebietskrankenkassen zerschlagen will. Drittens wird Armut im Alter zum Thema gemacht – das hat sich die Regierung noch nicht getraut; aber es kommen noch Fragen etwa, wie wir mit den Pensionisten umgehen. Im Arbeitslosenbereich hat die Regierung den Sparstift angesetzt, die „Aktion 20.000“ abgeschafft, die Mittel für Ausbildungsmaßnahmen gestrichen und ein Ende der Notstandshilfe angekündigt – das alles sind Ansagen gegen die ArbeitnehmerInnen und gegen den Sozialstaat. Auch bei der Mindestsicherungen wurden Differenzierungen angekündigt.

Wenn wir uns das kollektiv sichern, können wir die Freiheit besser leben. Jetzt gibt es in Österreich eine Regierung, die neoliberal denkt und sagt, kollektive Sicherheiten gehören abgebaut, privatisiert und dem Markt überlassen. 

Ich sage immer: Die Freiheit von Menschen ist abhängig davon, ob sie kollektive Sicherheiten haben. Wenn ich Sport betreibe, mich dabei verletze und weiß, dass ich eine gute Krankenversicherung habe, bin ich viel freier. Wenn ich das nicht habe, ist meine Unfreiheit wesentlich größer. Die Freiheit der Menschen braucht Sicherheit und zwar kollektive Sicherheit. Denn individuelle Sicherheit ist fragil. Die Sozialdemokratie und Gewerkschaften haben kollektive Sicherheiten entwickelt. Das waren Kranken-, Unfall-, Arbeitslosen-, Pensionsversicherung und auch der Zugang zu Infrastruktur wie Wasser, Kanal, Mobilität. Wenn wir uns das kollektiv sichern, können wir die Freiheit besser leben. Jetzt gibt es in Österreich eine Regierung, die neoliberal denkt und sagt, kollektive Sicherheiten gehören abgebaut, privatisiert und dem Markt überlassen.

Nur: Der kranke Mensch hat keine Marktposition! Daher wird er am Markt keine Chance haben. Der einzelne hat keine Marktposition. Das ist sehr deutlich zu sehen am Beispiel der Bankomatgebühr: Wenn das Individuum beim Bankomaten steht, ist es zu spät – das muss man vorher regeln. Diese Auseinandersetzung ist nach wie vor zu führen. Daher braucht es kollektive Sicherheiten. Diese zu entwickeln war der Erfolg der Arbeitnehmerbewegung – immer mit dem Ziel, die individuelle Freiheit zu gestalten. Wenn die Infrastruktur ausgebaut wird, wird auch die individuelle Freiheit größer, kann jemand aus Linz auch in Wien studieren, das erhöht meine Freiheitsgrade. Daher ist es wichtig, kollektive Sicherheiten zu entwickeln – und das haben wir gemacht. Diese Regierung zerstört das wieder, ganz bewusst.

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Über den/die Autor:in

Heike Hausensteiner

Heike Hausensteiner ist seit ihrer Schulzeit Anhängerin der Aufklärung. Aufgewachsen in einer Arbeiterfamilie im Burgenland, studierte sie Sprach- und Europawissenschaften in Paris, Mailand, Wien und Krems/Donau. Als politische Redakteurin begann sie ihre journalistische Laufbahn 1996 bei der "Wiener Zeitung", wo sie u.a. auch das Europa-Ressort gründete. Nach einjähriger Baby-Karenz machte sie sich 2006 selbstständig und arbeitet seither als freie Journalistin für Zeitungen, Magazine und Online-Medien in Österreich und Deutschland sowie als Autorin (u.a. "Im Maschinenraum Europas. Die österreichische Sozialdemokratie im Europäischen Parlament", 2013) und Moderatorin. Sie lebt mit ihrer Familie und 2 Katzen in Wien.

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