Historie: Sozialstaat und Solidarität

Der Wissenschafter Oskar Negt warnte schon 2004: Ein Abbau des Sozialstaats gefährdet gesellschaftliche Solidarität und Demokratie.

Was wir ersehnen…

Dieser Vers aus dem Revolutionsjahr 1848, die Übersetzung eines französischen Kampftextes und fälschlich meistens dem Dichter Ferdinand Freiligrath zugeschrieben, wurde zum Motto der jungen österreichischen ArbeiterInnen- und Gewerkschaftsbewegung. Er sprach schon damals – mit Ausnahme der Kranken- und Unfallversicherung – die Eckpfeiler eines solidarischen Sozialstaats an.

Der deutsche Sozialphilosoph Oskar Negt erklärte 2004 in seiner Streitschrift „Wozu noch Gewerkschaften?“: Die Gewerkschaft muss ihr politisches Mandat erweitern. Das bedeutet nicht, dass sie zu einer Ersatzpartei werden soll, sondern dass sie sich ihres historischen Auftrages für die gesamte gesellschaftliche Entwicklung bewusst wird. Die Gewerkschaften stehen nicht nur für die lebendige Arbeitswelt, sondern auch für Gestaltungswillen in der Gesellschaft. In der Wiederentdeckung der gesellschaftspolitischen Funktion der Gewerkschaftsbewegung sah Negt die beste Chance zur Verteidigung des Sozialstaats – eine Einschätzung, die auch in den ÖGB-Gewerkschaften heftig diskutiert wurde. Der Sozialstaat sei, so Negt, nicht nur die große gewerkschaftliche Erfolgsstory nach 1945, ein „Kampfresultat der Nachkriegsgewerkschaften“, sondern nach wie vor das wirtschaftlich vernünftigste System im Kapitalismus und vor allem als Modell einer solidarischen Gesellschaft nach wie vor Voraussetzung für die Sicherung echter Demokratie:

Die große politische Ökonomie des Bürgertums, von Adam Smith … bis hin in die moderne Zeit, zu Keynes und dem ökonomischen Denken der Nachkriegszeit … hatte den durchgehenden Grundgedanken, dass betriebswirtschaftliche Rationalität und die Vernunft von Wohlfahrtsökonomie nicht deckungsgleich sind. …

Wer wird die gesamtgesellschaftlichen Kosten tragen, wenn die Sozialsysteme ausgehöhlt werden oder zerbrechen?!

Die demagogisch-rhetorische Frage: Wer soll denn die Fortexistenz unseres Sozialsystems noch bezahlen? ist Anlass für eine ganz andere Frage: Wer wird die gesamtgesellschaftlichen Kosten tragen, wenn die Sozialsysteme ausgehöhlt werden oder zerbrechen?! Denn sozialstaatliche Sicherungen, ein Minimum an Verantwortungsethik der Mächtigen in unserer Gesellschaft, sind Voraussetzung, um das Prinzip der Verteilungsgerechtigkeit zu beachten. Maßverhältnisse dieser Art und Machtkontrollen, die über die Rechtsverhältnisse hinausgehen und eine Art öffentliche Moral dokumentieren, sind keine Kleinigkeit für ein demokratisches Gesellschaftssystem, sondern Grundpfeiler seiner Existenzfähigkeit. Dazu gehören selbstverständlich auch Steuergerechtigkeit und Zugriffsmöglichkeiten des Staates, wenn Großkonzerne und sonstige wirtschaftlich Mächtige in den eigenen Betrieben Kosten reduzieren und auf die Gesamtgesellschaft abwälzen. …

Wo immer vom Umbau des Sozialstaats geredet wird, der seine Zukunftssicherung garantieren soll, in Wirklichkeit aber die neoliberale Entstaatlichung der Gesellschaft fördert, die vor allem den Mächtigen zu Gute kommt, muss mit allem Nachdruck und in aller Öffentlichkeit auf der geschichtlichen Erkenntnis beharrt werden, dass Sozialstaat und Demokratie eine untrennbare Einheit bilden. …

Die Menschen sind gesellschaftliche Lebewesen … Das bedeutet … auch, dass das Soziale und die Solidarität mit anderen, also das Gemeinwesen, unersetzlich sind. Der Sozialstaat bildet gleichsam die Korsettstangen demokratischer Verhältnisse …

Der Sozialstaat bildet gleichsam die Korsettstangen demokratischer Verhältnisse.

Solidarität beruht in erster Linie darauf, dass verschiedene Interessen gegenseitig geachtet und anerkannt werden, dass kein Konkurrenzkampf auf Leben und Tod abläuft … Solidarität ist etwas anderes als Nächstenliebe, wobei sich beides nicht ausschließt.

Ausgewählt und kommentiert von
Brigitte Pellar
Freie JournalistInnen

Dieser Artikel erschien in der Ausgabe Arbeit&Wirtschaft 8/19.

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Über den/die Autor:in

Brigitte Pellar

Brigitte Pellar ist Historikerin mit dem Schwerpunkt Geschichte der ArbeitnehmerInnen-Interessenvertretungen und war bis 2007 Leiterin des Instituts für Gewerkschafts- und AK-Geschichte in der AK Wien.

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